Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von Hemma Spreitzhofer
Montag, 7.5.2001
Meistens hilft dann ein kalter Wasserstrahl ins
Gesicht und die morgendliche Verspätung, die
ich durch meine zweifelnden Fragen angehäuft
habe. Aber keine Angst, spätestens im nächsten
Urlaub kommen sie wieder.
Es bleibt die Frage – welchen Sinn hat mein
Leben? Ja, ich weiß. Diese Frage weht her aus
einer fernen Zeit, vielleicht als Teenager, als man
sich noch mit so sinnlosen Fragen über den Sinn
des Lebens herumgeschlagen hat. Doch ist die
Frage wirklich sinnlos? Vielleicht. Vielleicht müssen
wir aber auch einfach lernen, mit unbeantwortbaren
Fragen zu leben. Denn als Philosophin kann ich keine
allgemein gültige Antwort darauf geben, was der Sinn
des Lebens ist. Nur ich selbst kann meinem Leben
Sinn geben. Und das heißt, nachzuspüren, wohin ich
mich ausrichten will. Denn es ist und bleibt meine
Entscheidung, mein Leben innerhalb aller Grenzen
und Notwendigkeiten selbst zu gestalten. Und wenn
ich es nicht tue, dann ist das auch eine Entscheidung.
Ob das Ganze einen Sinn hat, werde ich vielleicht
einmal erfahren. Als religiöser Mensch habe ich die
Hoffnung. Aber egal ob ich es erfahre oder nicht: um
den Sinn für mein eigenes Leben muss ich mich trotzdem
kümmern. Denn ob das Ganze Sinn hat, ist
letztendlich dann ohnehin vielleicht egal.
Dienstag, 8.5.2001
Ein schläfriger Mittag
Ein Goldbraun
Nach den Ekstasen der Liebe
Eine besänftigte Stunde
Ich schmiege mich an
Jede Pore geöffnet
Saugend an DIR
Sag nichts
Ich zähle die Träume
Eintauchend gleitend
An DEINEM Puls
Sag nichts
Ich träume an DIR
Auszüge aus einem wundervoll erotischen
Liebesgedicht, voll von Sinnlichkeit und
körperlicher
Erfahrung – geschrieben von einem Priester – für
seinen Gott.
Noch immer sind solch sinnliche Bilder für die
Beziehung zu Gott für uns ungewöhnlich. Noch
immer verbinden viele mit Religiosität eine rein
geistige, körperlose und entsinnlichte Lebenshaltung.
Aber viele Mystikerinnen und Mystiker haben über die
Jahrhunderte ihre Erfahrung mit Gott in zutiefst
sinnlichen Worten zu beschreiben versucht. Die
Ekstase die Josef Fink in seinem Gedicht beschreibt,
ist die Erfahrung eines Gipfelerlebnisses, die
Erfahrung, dass plötzlich alles Leben zu fließen
beginnt und sich Leib und Seele mitreißen lassen
vom Lebensstrudel, die Erfahrung der Einheit mit der
Welt und mit Gott.
Ekstase erfahre ich manchmal auch in der Sexualität
in der Begegnung mit meinem Partner, wenn in
diesem tiefsten Ausdruck der Einheit plötzlich der
Himmel offen wird und ich mich als Teil der
unermesslichen Schöpfung wiederfinde, "wenn im
Zittern, Zucken und Beben der beiden Körper die
Seele ein Alleluja singt".
Selten aber doch konnte ich in meinem Leben
beides erleben. und ich habe es als große
Versöhnung empfunden: die Versöhnung von
Sexualität und Spiritualität.
Niemand kann diese Erfahrungen niederschreiben
und festnageln. Und niemand kann mir diese
Erfahrung abnehmen. Es bleibt uns also nichts
anderes übrig, als selbst mit Leib und Seele auf die
Suche nach Gott zu gehen.
Mittwoch, 9.5.2001
Seit meinen ersten Stunden in meinem
Philosophiestudium wurde ich begleitet von dem
tiefen Misstrauen der großen Denker (es waren
immer nur Männer), das sie gegenüber den Sinnen
und der Sinnlichkeit, damit verbunden aber den
Sinnenwesen schlechthin – den Frauen –
entgegenbrachten.
Antike Denker glaubten, dass der Körper
Gefängnis für die Seele sei. Ein Gedanke, der
dann von christlichen Philosophen bereitwillig
aufgenommen und weiterverarbeitet wurde. Der
Körper, die Gefühle, die das Leben bedrohen,
müssen unter Kontrolle gebracht werden. Der Geist, die
Vernunft muss unter allen Umständen die Macht
behalten. Anfangs habe ich gedacht, das sei eben die
Geschichte. Doch dann musste ich feststellen, dass
dies ein langer Strang der Überzeugung bis heute ist.
Der Dualismus von Geist und Körper und der
Dualismus von Mann und Frau ziehen sich durch
unsere gesamte abendländische Geschichte.
Doch bedrohlich kann nur etwas sein, das ich nicht
kenne und mir nicht vertraut gemacht habe. Ob ich
Gefühle unterdrücke oder nicht, sie sind da. Ob ich
mich bewusst mit ihnen auseinandersetze oder
nicht, sie sind da. Es stimmt: meine Gefühle können
mich täuschen, sie können mich verwirren, sie geben
keine eindeutigen Antworten. Sie können mich in
einen Zwiespalt bringen. Doch genauso können mich
meine Gedanken täuschen, wenn ich meine Gefühle
nicht mit einbeziehe. Ich kann mich der Illusion
hingeben, alles kontrollieren zu können, alles im Griff
zu haben, indem wir vernünftig und pragmatisch
durchs Leben gehen. Ich kann auch in meinen
Gedanken Klarheit über meine Gefühle bekommen,
aber nur dann wenn ich mich mit dem, was gerade
ist, auseinandersetze. Und langsam, ganz langsam
kann ein ganzes Bild entstehen. Nicht nur eines, das
entweder durch mein Gefühlswirrwarr oder mein
Gedankenwirrwarr verzerrt ist.
Sinnvolles Leben ist für mich aber eben ein –
sinnen-volles. Eines das ich mit allen meinen
Sinnen lebe, erlebe. Sinnvolles Leben ist für mich
damit auch ein zutiefst sinnliches Leben.
Donnerstag, 10.5.2001
Es gibt Tage, da stehe ich auf, bringe mich mit
bekannten Techniken in Funktion, heiß und kalt
duschen, Kaffee oder schwarzen Tee. Dann
Nachrichten, damit ich auf dem laufenden bin,
dann ins Büro – arbeite, bis zum Mittagessen in
der Kantine, arbeiten. Nach Hause. Müde. Zeitung
oder Buch. Und am Ende eines solchen Tages
frage ich mich, welchen Sinn dieser Tag meines
Lebens hatte. Er war sinn-los, und ich habe auch
kapiert warum: weil er sinnen-los war. Ich habe
meine fünf Sinne den ganzen Tag nicht eingesetzt.
Kann ich mich an den Geschmack der Zahnpaste
noch erinnern oder an die selbstgemachte
Marmelade auf meinem Brot? An den Boden, den
ich mit meinen nackten Füßen berührt habe? An die
Stimmen in der Straßenbahn? Auch nur an einen
Blick, der mir heute begegnet ist?
Ganz anders ist das Gefühl, wenn ich von meiner
Laufrunde nach Hause komme und ich getragen bin
von einer inneren Ruhe und Fröhlichkeit oder wenn
ich nach einer Bergtour unter der Dusche stehe und
jeden Muskel meines Körpers zu spüren scheine.
Dann erlebe ich, dass mein Körper und mein
Geist gemeinsam präsent sind, dass ich wach und
bewusst das Leben wahr-nehme.
Und es ist ein ähnliches Gefühl, wenn ich wirklich
gut beten kann. Nicht umsonst stehen am Anfang
vieler Meditationsformen Körperübungen, damit ich
mit allen meinen Sinnen da sein kann. Dann kann
ich mit meinem Geist wahrnehmen, was in mir ist –
alle Regungen, Gefühle und Gedanken. Dann kann
sich auch meine Seele einwurzeln in mein
Körpergefühl, in einen Körper, der wach und lebendig
mein Leben überhaupt erst möglich macht. Es ist
scheinbar paradox: Erst wenn ich mit meinem Leib
und mit meinem Geist ganz da bin, wird ein
Hinausgehen möglich. Erst im Einwurzeln wird es
möglich, vom Hier das Darüberhinausgehende, eben
Transzendenz zu erfahren.
Ohne meinen Körper wäre all mein religiöses Leben
nur luftwurzlerisch und mein Alltag sinnen-los.
Freitag, 11.5.2001
Ein – aus. Ein – aus. Ich schalte kein Gerät ein oder
aus, sondern ich beobachte mich selbst – meinen
Atem. Erst wenn ich mich anstrenge, beim Laufen zum
Beispiel, dann bemerke ich ihn. Dann wird mir
bewusst, wie wichtig es ist, ruhig zu atmen. Mich nicht
aus der Ruhe bringen zu lassen. Ein – aus. Und in
brenzligen Situationen habe ich mir angewöhnt, einige
tiefe Atemzüge auszuatmen.
Und wenn ich meine Erregung umgekehrt zum
Beispiel hinauszögern will, atme ich flach und kurz.
Und mit einem tiefen Ausatmen kann dann ein warmes
Kribbeln meinen ganzen Körper durchziehen und lässt
mich meine Lebendigkeit spüren.
Der Atem steht auch am Beginn der Bibel. In der
Schöpfungsgeschichte ist aufgezeichnet: "Da formte
Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom
Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem.
So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen."
Der Atem macht mich zu einem lebendigen Wesen.
Im Hebräischen wird der Atem in weiblicher Form die
"ruach" genannt, eigentlich die "Geistin Gottes". Der
lebensspendende Atem Gottes - schöpferisch und
weiblich – steht am Beginn der Schöpfung. Und bei
der Erschaffung des Menschen vereinen sich die
Erde, das Materielle und der Geist, die ruach, der
Lebensatem. Die ruach macht mich lebendig.
Wenn ich den Lebensstrom Atem anhalte, dann
sterbe ich. Wie mein Atem ist mein Leben ein
ständiges Ein- und Ausatmen, ein Fluss, den ich
mit Starrheit, mit dem Wunsch nach Sicherheit, mit
Strenge und Kontrolle aufzuhalten glaube, aber das
Leben will nicht angehalten werden, so wie ich es
nicht lange ertrage, den Atem anzuhalten. Wenn ich
endlich lerne, dass das Aufhalten des Lebens, das
Festhalten an den Dingen, mir mehr Kraft und
Energie kostet und mich letztlich innerlich tötet, dann
kann ich vielleicht auch irgendwann einfach ausatmen
und mich von dem lösen, was mich hindert, lebendig
zu sein.
Samstag, 11.5.2001
Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat
mich in einem seiner kurzen Essays über den Sinn
des Lebens einmal mit einem Satz maßlos
provoziert: Er meint, wir hätten das Problem mit
dem Sinn des Lebens nur deshalb, weil wir die
unheilbare Neigung besäßen, uns ernst zu nehmen.
Und er endet: "Wenn das Leben egal ist, wenn das
Leben nicht ernst ist und das Grab sein Ende ist,
dann ist es vielleicht lächerlich, dass wir uns so
wichtig nehmen." Das ist kein befriedigender
Gedanke, aber Philosophinnen und Philosophen
haben sich noch nie dazu berufen gefühlt, Menschen
zu befriedigen.
Wenn das Leben egal ist, brauchen wir uns nicht so
wichtig zu nehmen. Einerseits kann dieses
Argument von der menschlichen Hybris, den
Allmachtsphantasien befreien und zu tatsächlicher
Demut führen. Wenn das Leben egal ist, kann das
aber auch sehr entlastend sein. Alle unsere
Handlungen sind dann nicht mehr ganz so wichtig,
ihre Konsequenzen auch nicht. Es ist eigentlich
egal. Und endlich werden wir uns unserer eigenen
Nichtigkeit bewusst.
Aber als religiöser Mensch habe ich noch eine
ganz andere Möglichkeit mich nicht so wichtig zu
nehmen. Denn ich kann mein Leben begreifen als
verbunden mit etwas, das größer ist als ich. Etwas,
das ich nicht verstehen, nicht kontrollieren, nicht machen
kann. Auch dann muss ich das Leben nicht ganz so
ernst nehmen, nicht weil das Leben egal ist, nicht weil ich
in zynischer Art halt über die Runden bringe, weil ich
vielleicht zum Selbstmord zu feig bin. Sondern ich nehme
mich nicht mehr so wichtig, weil ich mich als Teil eines
größeren Ganzen erlebe und mich dem anvertraue.
Vielleicht werde ich am Ende vom Zyniker eines
Besseren belehrt und das Leben endet im Grab.
Aber bis dahin traue ich meinen inneren Erfahrungen.
Grund der Wörter
Ich nehme nicht Maß
An den großen Gezeiten
Im eiligen Kosmos
Ich klinge ins Irdische ab
In die verästelten Töne
Des heimblauen Sterns
Bedrängt vom Ausbruch
Des Lichttons
Inmitten des Zwerchfells
(wie er hindurchjagt
die sirrende Saite
alles verkehrend in Nichts
und andernorts eines in alles
angesichts einer
brennenden Stirn)
Nahe dem Wahn
Dem torkelnden Ton
Suche ich Sätze
Ins Schweigen
Ein schläfriger Mittag
Ein Goldbraun
Nach den Ekstasen der Liebe
Eine besänftigte Stunde
Wann war es?
Wann standest DU auf
Aus dem kreisrunden Traum
DEINER Inkraft?
Wann schlugst DU DEIN Wort
In die Raumzeit?
Sinnlose Frage
Ich schmiege mich an
Jede Pore geöffnet
Saugend an DIR
Jauchzender Jaspis
Implodierendes Glück
Da ein rotes Atom
Meiner Heimsucht
In DEINEN Mahlstrom gerät
Sag nichts
Ich zähle die Träume
Eintauchend gleitend
An DEINEM Puls
Sag nichts
Ich träume an DIR
Aus: Josef Fink "Chronischer Himmel", Styria 1995
Letztes Update dieser Seite am 07.05.2001 um 14:27