DDr. Adolf Holl

Gedanken für den Tag
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von DDr. Adolf Holl

Montag, 28.5.2001
In meinem Buch über den heiligen Geist habe ich 
einen Visionär auftreten lassen, der zu seiner Zeit 
von Richard Löwenherz und dem Papst konsultiert 
wurde. Er hieß Joachim von Fiore und ist 1202 
gestorben. Sein Kloster San Giovanni, das 
besichtigt werden kann, liegt auf tausend Meter 
Höhe im wilden Sila-Gebirge Kalabriens. Dort saß 
Abt Joachim über seinen Schriften, die den baldigen 
Auftritt des Antichrist voraussagten, jenes ultimativen 
Gegenspielers von Adam und Eva bis zum Ende der 
Zeiten. Joachim war davon überzeugt, dass der 
Antichrist bereits in den Windeln lag, aber er nannte 
keine Namen. Dem englischen König Richard 
Löwenherz verriet er lediglich, dass der Antichrist den 
Stuhl Petri besteigen würde. Diese letzte und 
gefährlichste Anfechtung der heiligen Kirche sollte dann 
zu ihrer Verwandlung führen, unter dem Zeichen der 
Lilie, ohne Taufe und Abendmahl, ohne Priester und 
frommen Pomp, angeleitet vom heiligen Geist, sah 
Joachim ein inspiriertes Gottesvolk am Horizont, 
unterwegs in das Reich der Freiheit und der Liebe. 
Joachim nannte dieses Reich den dritten Zustand oder 
Status. So fügt sich Joachims Lehre von den drei 
Zeitaltern der Menschheitsgeschichte zu einem 
übersichtlichen Konzept. Das Zeitalter Gottvaters 
reichte von Adam bis Christi Geburt, das Zeitalter 
Gottsohns war mit der christlichen Ära identisch, das 
Zeitalter des Heiligen Geistes stand unmittelbar bevor. 
Ich bin immer wieder erstaunt, wie stark die Grübeleien 
eines mittelalterlichen Klosterbruders unser Denken bis 
heute bestimmen, mit der Einteilung der menschlichen 
Geschichte in drei Phasen. Zum Zeitalter des Vaters 
sagen wir Altertum, zum Zeitalter des Sohnes Mittelalter, 
zum Zeitalter des heiligen Geistes Neuzeit. Immer noch 
sind wir mit Joachim überzeugt, dass die Geschichte 
dem Gesetz des Fortschritts unterliegt. Als Joachim 
starb, saß Innozenz III. auf dem Stuhl Petri. Joachim meinte 
zu wissen, dass dies der letzte Papst sein sollte.

Dienstag, 29. Mai 2001
Abt Joachim aus Kalabrien, der den heiligen Geist als 
geschichtsmächtiges Prinzip ins abendländische Denken 
einführte, erlebte die entscheidenden zwei Eingebungen 
seines Lebens zu Ostern und zu Pfingsten in der Abtei 
Casamari, achtzig Kilometer südwestlich von Rom, wohin 
er sich 1183 begeben hatte. In der Mitte der Osternacht, 
berichtete Abt Joachim, zur Stunde der Auferstehung 
Christi, fuhr ich aus dem Schlaf, und fand mich in 
widerstreitenden Gedanken, wie im Gefecht. Am Abend 
zuvor war ich beim Studium des zehnten Verses im ersten 
Kapitel der Apokalypse stehen geblieben, wo es heißt: Ich 
wurde verzückt im Geist. Und plötzlich, ohne dass ich an 
jenen Vers gedacht hatte, offenbarte sich mir in 
vollkommender Klarheit des Gedankens, wie ein innerer 
Augenaufschlag, die Einsicht in den vollständigen 
Sinngehalt der Apokalypse, ja die Entsprechung der 
beiden Testamente. Tota veteris ac novi testamenti 
concordia. Alsbald machte sich Joachim an die 
Niederschrift seines ersten Buches, das ihn berühmt 
machen sollte, des "Liber Concordiae". Dann kam 
Pfingsten. Ich war in der Kirche, notierte Joachim, um 
Gott dem Allmächtigen die Andacht zu erweisen, als mich 
eine Ratlosigkeit im Glauben an die Dreifaltigkeit ergriff. 
Erschrocken verstärkte ich mein Gebet, ja ich fühlte mich 
gedrängt, den heiligen Geist anzuflehen, dessen Fest an 
jenem Tag gefeiert wurde, mir das Geheimnis der 
Dreifaltigkeit zu zeigen. Als ich mit  der Rezitation der 
vorgesehenen Psalmen begann, erschien meiner Seele 
die Form einer Harfe mit zehn Saiten, und in diesem Bild 
leuchtete das Geheimnis der Dreifaltigkeit so offen und klar, 
dass ich unwillkürlich ausrief: Wer ist so groß wie unser Gott. 
Quis deus magnus sicut Deus noster. Joachim ging damals 
auf die Fünfzig zu. Er blieb noch ein gutes Jahr in Casamari, 
vollendete seinen "Liber Concordiae" und begann die 
Niederschrift seiner Expositio in Apokalypsim. Was er zu 
Papier brachte, lernen die Kinder immer noch in der Schule. 
Erstens, die Geschichte macht Sinn. Zweitens, sie verläuft in 
drei Perioden. Drittens, es geht vorwärts. Zum Pessimismus 
neigte Abt Joachim offenbar nicht.

Mittwoch, 30.5.2001
Der evangelische Theologe Ernst Benz hat in seinem 
Buch über die Geschichtstheologie der spirituellen 
Franziskaner des dreizehnten Jahrhunderts die Gedanken 
Joachims von Fiore zusammengefasst, jenes Abtes aus 
Kalabrien, dessen Bücher wie durch göttliche Fügung 1241 
im Franziskanerkonvent von Pisa abgegeben wurden. 
Neugierig beugten sich Fra Gerardus, Fra Salimbene, Fra 
Bartholomäus und Fra Rudolphus über die Handschriften. 
Was sie lasen, zog sie sofort in seinen Bann. Ich zitiere aus 
der Zusammenfassung von Ernst Benz: "Auf drei 
Zuständlichkeiten weisen uns die Geheimnisse der 
biblischen Schriften. Im ersten Status, da standen wir unter 
dem Gesetz. Im zweiten stehen wir unter Gnade. Im dritten 
Status wird die Liebe regieren. Die erste Zuständlichkeit 
heißt Altes Testament, da waren wir Knechte. Die zweite 
Zuständlichkeit heißt Neues Testament, da waren wir 
abhängige Söhne. In der dritten Zuständlichkeit werden 
wir Freie sein. Der zweite Status stand im Zeichen des 
Sohns. Im dritten Status wird der heilige Geist blasen, wie 
immer er will. Zuerst leuchteten die Gestirne, dann kam 
die Morgenröte, bald wird es Tag. Am Beginn stand die 
Schlichtheit der Kinder, hernach kam das Wissen der 
Erwachsenen, zuletzt wird die Weisheit des Alters regieren. 
Kinder pflücken Primeln, Erwachsene brachen Rosen, die 
Weisen hingegen halten Lilien in Händen. Gegenwärtig liegt 
die heilige Kirche wie die Hohe Frau der Apokalypse 
schreiend in ihren Wehen. Was aus ihr hervorgehen soll, 
wird geistliches Volk genannte werden. Soweit Joachim. Er 
prophezeite eine geistliche Kirche, eine inspirierte 
Leserschaft. Ohne spirituelles Verständnis bleiben die 
Buchstaben tot. Als die vier Franziskaner mit der Lektüre 
der Schriften des Abtes Joachim fertig waren, wussten sie, 
dass sie das Ewige Evangelium gelesen hatten. Unter 
diesem Titel veröffentlichte Fra Gerardus eine Schrift, die 
ihm lebenslange Haft in Sizilien eintrug. Spiritualität kann 
mitunter gefährlich sein.

Donnerstag, 31.5.2001
Die Gebeine des Abtes Joachim liegen seit achthundert 
Jahren hinter Glas in der Krypta der Kirche San Giovanni 
in Fiore, zu erreichen über die Stadt Cosenza weit unten 
am italienischen Stiefel. Die Schriften Joachims werden 
noch immer studiert, von spezialisierten Fachleuten, denn 
seine Prosa ist dunkel und labyrinthisch. In ihr arbeitet das 
wuchtige Prinzip, dass der Grundriss des gesamten 
Weltgeschehens in einem einzigen Buch aufgeschrieben 
sei, nämlich der Bibel. Die göttliche Planskizze lag laut 
Joachim allerdings nicht offen zutage, sondern war vielfach 
verschlüsselt. Deshalb bedurfte es einer inspirierten 
Lektüre, um die vielen Sinnschichten des Texts abzutragen. 
Wer richtig lesen wollte, bedurfte der Eingebung des heiligen 
Geistes. Diese intelligentia spiritualis blieb 
selbstverständlich nur jenen vorbehalten, die sich durch 
disziplinierte Lebensführung von Gier und Hass befreit hatten, 
einer Elite von geistlichen Menschen. Damit war nicht 
unbedingt die Klerisei gemeint. Was gemeint war, hat der 
aus Wien gebürtige Religionsphilosoph und ordinierte 
Rabbiner Jacob Tanubes, gestorben 1987, so ausgedrückt: 
"Es sind Geistliche nötig, welche die Menge trennen 
können und sie zu einzelnen machen; Geistliche, die nichts 
weniger wünschen als zu herrschen; Geistliche, die 
womöglich gewaltig beredsam, nicht minder gewaltig 
wären im Schweigen und Erdulden; Geistliche, die 
womöglich Herzenskenner, nicht minder gelehrt wären in 
Enthaltsamkeit von Urteilen und Vorurteilen; Geistliche, die 
Autorität zu brauchen wüssten, nicht durch Macht, nichts 
weniger, nein sondern durch Gehorsam; Geistliche, die vor 
allem alle Unarten des Kranken geduldig leiden, ohne 
gestört zu werden, so wenig wie der Arzt gestört wird von 
dem Schelten und Stossen des Patienten während der 
Operation. Denn das Menschengeschlecht ist krank, 
geistig verstanden krank bis zum Tode". Das schrieb 
Taubes 1947. Was er sich wünschte, war auch das 
Anliegen Joachims von Fiore. In der Ökonomie des heiligen 
Geistes sind 800 Jahre offenbar keine sehr lange Zeit.

Freitag, 1.6.2001
Während der Belagerung Neapels im Sommer 1191 
bat Kaiser Heinrich VI. eine geistliche Autorität zu sich,
jenen Abt Joachim von Fiore, der ein paar Monate vorher 
auch vom englischen König Richard Löwenherz 
konsultiert worden war. Joachim blieb zurückhaltend. Er 
hatte erkannt, dass der Deutsche als Feind der heiligen 
Kirche einzustufen war und sagte ihm mancherlei Unbill 
voraus, was sich auch bald bestätigte. Seine Kenntnisse 
bezog Joachim aus der Bibel, diesfalls aus dem Studium 
des Propheten Ezechiel, dessen Hinweise auf den König 
aus Babylon von Joachim flugs auf die staufischen Ausländer 
bezogen wurde. Eine derartige Kühnheit der 
Auslegungskunst verdankte sich einer Methode, die den 
wörtlichen Sinn alles Geschriebenen nicht besonders wichtig 
nahm, allenfalls wie eine Oberfläche betrachtete, unter der 
sich ganze Bergwerke verborgener Bedeutungen verbargen. 
Solch tiefsinnige Bedeutungen aufzuspüren war die Kunst der 
intelligentia spiritualis, der geistlich inspizierten Sinnfindung, 
in welcher Joachim ein Meister war. Bis zu fünfzehn 
Bedeutungsebenen vermochte Joachim einem Text zu 
unterlegen, jonglierte mit Zahlen, ordnete sie zu Terminen für 
den Ablauf von Geschichtsperioden. Für die Klerikerkirche 
der römischen Catholica errechnete Joachim vierzig 
Generationen und kam damit auf das Jahr 1200 als Termin 
für das Ende der Priesterherrschaft und dem Auftritt des 
Antichrist, dessen Niederlage er für das Jahr 1260 
ankündigte, womit dann die Zeit für den Beginn des dritten 
Zeitalters reif war, für die Ära des heiligen Geistes. Den 
radikalen Franziskanern, die den Visionen Joachims 
vertrauten, galt Friedrich II. von Hohenstaufen als der 
geweissagte Antichrist. Umso größer war die Enttäuschung 
der Spirituellen, wie sie sich nannten, als der zweite 
Friedrich bereits 1250 starb, zehn Jahre zu früh. Wieder 
einmal verstrich ein Termin für die Verwandlung des 
Bestehenden. Trotzdem widmete der Theologe Ernst 
Benz sein Buch über Joachim und die radikalen 
Franziskaner "der kommenden Kirche". Theologen 
haben gelernt, sich in Geduld zu üben.

Samstag, 2.6.2001
Die Weissagung des Abtes Joachim von Fiore aus 
Kalabrien rumorten einstmals nicht nur unter den 
spirituellen Franziskanern. Auch die Vorläuferinnen der 
europäischen Frauenbewegung hörten die Kunde vom 
anbrechenden Reich des heiligen Geistes mit Freude. 
Sie lebten in den Frauenhäusern von Köln und Paris, 
übersetzten biblische Texte aus dem Latein in die 
Volkssprachen, wollten keinem Mann untertänig sein 
und waren besonders in Südfrankreich verbreitet, wo 
sie häufig als Bettlerinnen unterwegs waren, nach dem 
Beispiel des armen Herrn Jesus. Man nannte sie Beginen, 
Bizoken, Papelarden, vergewaltigte sie in Straßengräben, 
wenn sie unbegleitet auf Wanderung gingen, warf ihre 
Schriften ins Feuer, überantwortete sie der heiligen 
Inquisition. "Sie unterscheiden zwei Kirchen", schrieb der 
Dominikanermönch und Inquisiteur Bernard Gui im Jahr 
1323, "nämlich eine fleischliche Kirche, womit sie die 
römische meinen, und eine geistliche Kirche, die sie für die 
ihrige halten. Ihr Gift saugen sie aus Büchlein und Heften in 
der Volkssprache. Auch meinen sie, dass die fleischliche 
Kirche unter den Schlägen des Antichrist gehörig 
schrumpfen werde, damit ihre Verwandlung in die spirituelle 
Kirche beschleunigt werde". Als Inquisiteur der 
Kirchenprovinz Toulouse kannte Bernard Gui die 
aufmüpfigen Damen recht genau, insbesondere aus einem 
Prozess, der drei Frauen auf den Scheiterhaufen brachte. 
Kurz zuvor waren auch vier radikale Franziskaner in 
Marseille hingerichtet worden. Den weiblichen Eigensinn 
freilich vermochte der behördliche Terror nicht ganz zu 
brechen. In meinem Buch über den heiligen Geist habe ich 
Frauen ein Kapitel gewidmet. Als vorläufig letzte Vertreterin 
solcher Geistlichkeit habe ich die französische Philosophin 
Simone Weil auftreten lassen. Sie starb 1943 an 
Lungentuberkulose. Die katholische Kirche, schrieb Simone 
Weil, hat in Europa ein System totalitärer Herrschaft 
errichtet; ohne Bereitschaft zu einer grundlegenden 
Veränderung ist sie für die Gegenwart untauglich. Abt 
Joachim von Fiore hätte sich über diese Zeilen bestimmt 
gefreut.

 

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Letztes Update dieser Seite am  30.05.2001 um 11:46