Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von DDr. Adolf Holl
Montag, 28.5.2001
Dienstag, 29. Mai 2001
Abt Joachim aus Kalabrien, der den heiligen Geist als
geschichtsmächtiges Prinzip ins abendländische Denken
einführte, erlebte die entscheidenden zwei Eingebungen
seines Lebens zu Ostern und zu Pfingsten in der Abtei
Casamari, achtzig Kilometer südwestlich von Rom, wohin
er sich 1183 begeben hatte. In der Mitte der Osternacht,
berichtete Abt Joachim, zur Stunde der Auferstehung
Christi, fuhr ich aus dem Schlaf, und fand mich in
widerstreitenden Gedanken, wie im Gefecht. Am Abend
zuvor war ich beim Studium des zehnten Verses im ersten
Kapitel der Apokalypse stehen geblieben, wo es heißt: Ich
wurde verzückt im Geist. Und plötzlich, ohne dass ich an
jenen Vers gedacht hatte, offenbarte sich mir in
vollkommender Klarheit des Gedankens, wie ein innerer
Augenaufschlag, die Einsicht in den vollständigen
Sinngehalt der Apokalypse, ja die Entsprechung der
beiden Testamente. Tota veteris ac novi testamenti
concordia. Alsbald machte sich Joachim an die
Niederschrift seines ersten Buches, das ihn berühmt
machen sollte, des "Liber Concordiae". Dann kam
Pfingsten. Ich war in der Kirche, notierte Joachim, um
Gott dem Allmächtigen die Andacht zu erweisen, als mich
eine Ratlosigkeit im Glauben an die Dreifaltigkeit ergriff.
Erschrocken verstärkte ich mein Gebet, ja ich fühlte mich
gedrängt, den heiligen Geist anzuflehen, dessen Fest an
jenem Tag gefeiert wurde, mir das Geheimnis der
Dreifaltigkeit zu zeigen. Als ich mit der Rezitation der
vorgesehenen Psalmen begann, erschien meiner Seele
die Form einer Harfe mit zehn Saiten, und in diesem Bild
leuchtete das Geheimnis der Dreifaltigkeit so offen und klar,
dass ich unwillkürlich ausrief: Wer ist so groß wie unser Gott.
Quis deus magnus sicut Deus noster. Joachim ging damals
auf die Fünfzig zu. Er blieb noch ein gutes Jahr in Casamari,
vollendete seinen "Liber Concordiae" und begann die
Niederschrift seiner Expositio in Apokalypsim. Was er zu
Papier brachte, lernen die Kinder immer noch in der Schule.
Erstens, die Geschichte macht Sinn. Zweitens, sie verläuft in
drei Perioden. Drittens, es geht vorwärts. Zum Pessimismus
neigte Abt Joachim offenbar nicht.
Mittwoch, 30.5.2001
Der evangelische Theologe Ernst Benz hat in seinem
Buch über die Geschichtstheologie der spirituellen
Franziskaner des dreizehnten Jahrhunderts die Gedanken
Joachims von Fiore zusammengefasst, jenes Abtes aus
Kalabrien, dessen Bücher wie durch göttliche Fügung 1241
im Franziskanerkonvent von Pisa abgegeben wurden.
Neugierig beugten sich Fra Gerardus, Fra Salimbene, Fra
Bartholomäus und Fra Rudolphus über die Handschriften.
Was sie lasen, zog sie sofort in seinen Bann. Ich zitiere aus
der Zusammenfassung von Ernst Benz: "Auf drei
Zuständlichkeiten weisen uns die Geheimnisse der
biblischen Schriften. Im ersten Status, da standen wir unter
dem Gesetz. Im zweiten stehen wir unter Gnade. Im dritten
Status wird die Liebe regieren. Die erste Zuständlichkeit
heißt Altes Testament, da waren wir Knechte. Die zweite
Zuständlichkeit heißt Neues Testament, da waren wir
abhängige Söhne. In der dritten Zuständlichkeit werden
wir Freie sein. Der zweite Status stand im Zeichen des
Sohns. Im dritten Status wird der heilige Geist blasen, wie
immer er will. Zuerst leuchteten die Gestirne, dann kam
die Morgenröte, bald wird es Tag. Am Beginn stand die
Schlichtheit der Kinder, hernach kam das Wissen der
Erwachsenen, zuletzt wird die Weisheit des Alters regieren.
Kinder pflücken Primeln, Erwachsene brachen Rosen, die
Weisen hingegen halten Lilien in Händen. Gegenwärtig liegt
die heilige Kirche wie die Hohe Frau der Apokalypse
schreiend in ihren Wehen. Was aus ihr hervorgehen soll,
wird geistliches Volk genannte werden. Soweit Joachim. Er
prophezeite eine geistliche Kirche, eine inspirierte
Leserschaft. Ohne spirituelles Verständnis bleiben die
Buchstaben tot. Als die vier Franziskaner mit der Lektüre
der Schriften des Abtes Joachim fertig waren, wussten sie,
dass sie das Ewige Evangelium gelesen hatten. Unter
diesem Titel veröffentlichte Fra Gerardus eine Schrift, die
ihm lebenslange Haft in Sizilien eintrug. Spiritualität kann
mitunter gefährlich sein.
Donnerstag, 31.5.2001
Die Gebeine des Abtes Joachim liegen seit achthundert
Jahren hinter Glas in der Krypta der Kirche San Giovanni
in Fiore, zu erreichen über die Stadt Cosenza weit unten
am italienischen Stiefel. Die Schriften Joachims werden
noch immer studiert, von spezialisierten Fachleuten, denn
seine Prosa ist dunkel und labyrinthisch. In ihr arbeitet das
wuchtige Prinzip, dass der Grundriss des gesamten
Weltgeschehens in einem einzigen Buch aufgeschrieben
sei, nämlich der Bibel. Die göttliche Planskizze lag laut
Joachim allerdings nicht offen zutage, sondern war vielfach
verschlüsselt. Deshalb bedurfte es einer inspirierten
Lektüre, um die vielen Sinnschichten des Texts abzutragen.
Wer richtig lesen wollte, bedurfte der Eingebung des heiligen
Geistes. Diese intelligentia spiritualis blieb
selbstverständlich nur jenen vorbehalten, die sich durch
disziplinierte Lebensführung von Gier und Hass befreit hatten,
einer Elite von geistlichen Menschen. Damit war nicht
unbedingt die Klerisei gemeint. Was gemeint war, hat der
aus Wien gebürtige Religionsphilosoph und ordinierte
Rabbiner Jacob Tanubes, gestorben 1987, so ausgedrückt:
"Es sind Geistliche nötig, welche die Menge trennen
können und sie zu einzelnen machen; Geistliche, die nichts
weniger wünschen als zu herrschen; Geistliche, die
womöglich gewaltig beredsam, nicht minder gewaltig
wären im Schweigen und Erdulden; Geistliche, die
womöglich Herzenskenner, nicht minder gelehrt wären in
Enthaltsamkeit von Urteilen und Vorurteilen; Geistliche, die
Autorität zu brauchen wüssten, nicht durch Macht, nichts
weniger, nein sondern durch Gehorsam; Geistliche, die vor
allem alle Unarten des Kranken geduldig leiden, ohne
gestört zu werden, so wenig wie der Arzt gestört wird von
dem Schelten und Stossen des Patienten während der
Operation. Denn das Menschengeschlecht ist krank,
geistig verstanden krank bis zum Tode". Das schrieb
Taubes 1947. Was er sich wünschte, war auch das
Anliegen Joachims von Fiore. In der Ökonomie des heiligen
Geistes sind 800 Jahre offenbar keine sehr lange Zeit.
Freitag, 1.6.2001
Während der Belagerung Neapels im Sommer 1191
bat Kaiser Heinrich VI. eine geistliche Autorität zu sich,
jenen Abt Joachim von Fiore, der ein paar Monate vorher
auch vom englischen König Richard Löwenherz
konsultiert worden war. Joachim blieb zurückhaltend. Er
hatte erkannt, dass der Deutsche als Feind der heiligen
Kirche einzustufen war und sagte ihm mancherlei Unbill
voraus, was sich auch bald bestätigte. Seine Kenntnisse
bezog Joachim aus der Bibel, diesfalls aus dem Studium
des Propheten Ezechiel, dessen Hinweise auf den König
aus Babylon von Joachim flugs auf die staufischen Ausländer
bezogen wurde. Eine derartige Kühnheit der
Auslegungskunst verdankte sich einer Methode, die den
wörtlichen Sinn alles Geschriebenen nicht besonders wichtig
nahm, allenfalls wie eine Oberfläche betrachtete, unter der
sich ganze Bergwerke verborgener Bedeutungen verbargen.
Solch tiefsinnige Bedeutungen aufzuspüren war die Kunst der
intelligentia spiritualis, der geistlich inspizierten Sinnfindung,
in welcher Joachim ein Meister war. Bis zu fünfzehn
Bedeutungsebenen vermochte Joachim einem Text zu
unterlegen, jonglierte mit Zahlen, ordnete sie zu Terminen für
den Ablauf von Geschichtsperioden. Für die Klerikerkirche
der römischen Catholica errechnete Joachim vierzig
Generationen und kam damit auf das Jahr 1200 als Termin
für das Ende der Priesterherrschaft und dem Auftritt des
Antichrist, dessen Niederlage er für das Jahr 1260
ankündigte, womit dann die Zeit für den Beginn des dritten
Zeitalters reif war, für die Ära des heiligen Geistes. Den
radikalen Franziskanern, die den Visionen Joachims
vertrauten, galt Friedrich II. von Hohenstaufen als der
geweissagte Antichrist. Umso größer war die Enttäuschung
der Spirituellen, wie sie sich nannten, als der zweite
Friedrich bereits 1250 starb, zehn Jahre zu früh. Wieder
einmal verstrich ein Termin für die Verwandlung des
Bestehenden. Trotzdem widmete der Theologe Ernst
Benz sein Buch über Joachim und die radikalen
Franziskaner "der kommenden Kirche". Theologen
haben gelernt, sich in Geduld zu üben.
Samstag, 2.6.2001
Die Weissagung des Abtes Joachim von Fiore aus
Kalabrien rumorten einstmals nicht nur unter den
spirituellen Franziskanern. Auch die Vorläuferinnen der
europäischen Frauenbewegung hörten die Kunde vom
anbrechenden Reich des heiligen Geistes mit Freude.
Sie lebten in den Frauenhäusern von Köln und Paris,
übersetzten biblische Texte aus dem Latein in die
Volkssprachen, wollten keinem Mann untertänig sein
und waren besonders in Südfrankreich verbreitet, wo
sie häufig als Bettlerinnen unterwegs waren, nach dem
Beispiel des armen Herrn Jesus. Man nannte sie Beginen,
Bizoken, Papelarden, vergewaltigte sie in Straßengräben,
wenn sie unbegleitet auf Wanderung gingen, warf ihre
Schriften ins Feuer, überantwortete sie der heiligen
Inquisition. "Sie unterscheiden zwei Kirchen", schrieb der
Dominikanermönch und Inquisiteur Bernard Gui im Jahr
1323, "nämlich eine fleischliche Kirche, womit sie die
römische meinen, und eine geistliche Kirche, die sie für die
ihrige halten. Ihr Gift saugen sie aus Büchlein und Heften in
der Volkssprache. Auch meinen sie, dass die fleischliche
Kirche unter den Schlägen des Antichrist gehörig
schrumpfen werde, damit ihre Verwandlung in die spirituelle
Kirche beschleunigt werde". Als Inquisiteur der
Kirchenprovinz Toulouse kannte Bernard Gui die
aufmüpfigen Damen recht genau, insbesondere aus einem
Prozess, der drei Frauen auf den Scheiterhaufen brachte.
Kurz zuvor waren auch vier radikale Franziskaner in
Marseille hingerichtet worden. Den weiblichen Eigensinn
freilich vermochte der behördliche Terror nicht ganz zu
brechen. In meinem Buch über den heiligen Geist habe ich
Frauen ein Kapitel gewidmet. Als vorläufig letzte Vertreterin
solcher Geistlichkeit habe ich die französische Philosophin
Simone Weil auftreten lassen. Sie starb 1943 an
Lungentuberkulose. Die katholische Kirche, schrieb Simone
Weil, hat in Europa ein System totalitärer Herrschaft
errichtet; ohne Bereitschaft zu einer grundlegenden
Veränderung ist sie für die Gegenwart untauglich. Abt
Joachim von Fiore hätte sich über diese Zeilen bestimmt
gefreut.
Letztes Update dieser Seite am 30.05.2001 um 11:46