Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
Montag, 2. Juli 2001
"Zeit ist Geld!" Die besondere Tücke dieses
Sprichwortes erweist sich daran, dass jene in
der Regel am wenigsten Zeit haben, die über
das meiste Geld verfügen. Die geheime
Verwandlung von Zeit in Geld funktioniert nicht.
Zum Unterschied vom Geld ist die Zeit nämlich
gerecht verteilt: Jeder hat 24 Stunden pro Tag
zur Verfügung.
Im Buch der Rekorde gibt es Dauerleister im
Klavierspielen, Boogie-Woogie-Tanzen und
Unterwasserküssen...; mit der Stoppuhr in der
Hand wird der Rekord festgestellt. Über das
aber, was Musik bedeutet, oder Tanz, oder ein
Kuss, sagt die gemessene Dauer nichts aus.
Und eine lange Dauer kann das Gegenteil
bewirken: Die Musik wird unerträglich, der Tanz
zur Plage und der Kuss zur Farce.
Die von unserer Kultur geradezu vergötterte Uhr
misst nämlich nur die Quantität der Zeit. Ihre
andere Dimension, ihre Tiefe und Dichte, ihren
Wert für unser Leben, - das berücksichtigt kein
Uhrzeiger. Die volle Bedeutung der Zeit mit der
Uhr messen zu wollen ist ein ähnliches Vorhaben,
wie die Größe eines Menschen mit dem
Zentimetermaß anzugeben. Unsere Uhren lügen,
sagt Peter Paul Kaspar. Man tut gut daran, mehr
dem Empfinden zu trauen als dem Messgerät. Die
Uhren des Herzens messen anders als die der
Physik.
Es gibt Augenblicke in unserem Leben, da die
Uhren sozusagen stillstehen. "Nie ist der Mensch
so da wie dann, wenn er ganz weg ist!" (Jörg Splett)
Das Sprichwort sagt: "Dem Glücklichen schlägt
keine Stunde!"
Ich habe noch niemanden getroffen, der in den
Augenblicken des Glücks auf die Uhr geschaut
hätte, denn in der Erfahrung der Qualität der Zeit
wird die Quantität belanglos. Wer intensiv lebt,
vergisst auf die Uhr zu schauen.
Dienstag, 3. Juli 2001
Die Wiederentdeckung der Langsamkeit
Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die
Fortbewegung vom gemächlichen Tempo
einer Pferdekutsche bis zur Geschwindigkeit
der Concorde gesteigert. Die Frist einer
durchschnittlichen Briefzustellung hat sich
von mehreren Wochen auf Tage und zuletzt
Sekunden verringert. Ob eine elektronische
Nachricht ins Nachbarhaus oder in einen
entfernten Kontinent geht, macht nur mehr
einen zeitlichen Unterschied von
Sekundenbruchteilen aus. Zugleich mit
den vielen mechanischen und elektronischen
Errungenschaften, welche die Arbeit
erleichtern und verringern, ist das Leben der
meisten Zeitgenossen nicht ruhiger und
bequemer, sondern hektischer geworden:
Der maschinell arbeitsentlastete Mensch
lehnt sich nicht zurück, um die dazu
gewonnene Ruhe zu genießen, sondern er
beugt sich vor, um mit der steigenden
Geschwindigkeit der Maschinen und
Apparate Schritt halten zu können. Das
Unvermögen des beschleunigten
Menschen liegt in seiner wachsenden
Unfähigkeit zur Langsamkeit, zur
Bedächtigkeit und gründlichen Prüfung,
letztlich in einer Unfähigkeit zur Hingabe.
Es mag eine schnelle Leidenschaft, einen
rasanten Flirt oder eine kurze Liebschaft
geben - aber die Zeit, die die Liebe braucht,
ist kostbar und eine Seltenheit geworden.
Die Entdeckung der Langsamkeit ist daher
auch eine Wiederentdeckung der Hingabe.
Ob man sich beim Wandern einer
Landschaft, beim Musizieren der Musik,
bei der Lektüre einem Text oder bei der
Liebe einem Menschen "hingibt", - es kann
nur gelingen, wenn man sich die Zeit dafür
nimmt.
Wenn ein Indianer eine Reise tut, legt er
bei der Ankunft eine Pause ein, die so
lange dauert, bis seine Seele nachgekommen
ist...
Mittwoch, 4. Juli 2001
Die Kunst, genießen zu können
Der Held im Roman "Pelham" (von Edward
Bulwer-Lytton) trägt immer ein besonders
kleines Essbesteck bei sich. Wenn er irgendwo
eingeladen ist oder in einem Restaurant speist,
kann er damit langsamer essen. Das Tempo
der Nahrungsaufnahme mit normalen Löffeln und
Gabeln würde seine Genussfähigkeit mindern.
Sollen wir also den Wein aus Fingerhüten trinken?
Oder sollen wir ihn überhaupt meiden und uns aufs
Wasser beschränken? Gehört der Genuss nicht
zum Menschen?
Religionsgründer und Philosophen haben diese
Frage oft verneint und uns die Enthaltsamkeit
nahegelegt, nicht selten mit dem pädagogischen
Hinweis, dass das Vermeiden des Genusses
auch die Vermeidung seiner Nebenwirkungen
bedeutet.
Petronius Arbiter schildert im "Gastmahl des
Trimalchio" ein monströses Gelage, dessen
Teilnehmer sich in Abständen zum Erbrechen
bringen, damit ihr Magen die Fülle der
gastronomischen Genüsse aufnehmen kann...
Wann wird aus Genuss Exzess? Liegt der
vollendete Genuss in der angeregten Stimmung,
in der Beschwipstheit oder in der Trunkenheit?
Ein generelles Gebot des Maßhaltens hilft nicht
wirklich weiter, weil für die Frage, wo das Maß
liegt, keine Regel gilt, sondern immer nur die
Erfahrung des Augenblicks: Vorher weiß man es
nie, danach immer!
Ferdinand Raimund lässt seinen Alpenkönig zum
Menschenfeind sagen: "Du begehst die größte
Sünde, du kennst dich selber nicht!
Vielleicht ist das die wesentliche Voraussetzung,
wirklich genießen zu können: Wer sich selbst nicht
kennt, und um seine Bedürfnisse und Sehnsüchte
nicht weiß, der kann auch nicht wissen, was ihm gut
tut und was ihm schadet.
Donnerstag, 5. Juli 20001
Prioritäten setzen
Um unseren Alltag zu ordnen, ist es nicht nur
wichtig, die Dinge richtig zu tun. Zunächst einmal ist
es entscheidend, die richtigen Dinge zu tun.
Es ist eine alte Erfahrung, dass immer zuviel Zeit
und Energie für eigentlich Nebensächliches
geopfert werden. Der italienische
Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto hat
schon im 19. Jahrhundert das nach ihm benannte
Prinzip, die sogenannte 80:20-Regel beschrieben:
Danach werden mit nur 20% des Zeitaufwands schon
80% der Ergebnisse erreicht - und mit den restlichen
80% der Zeit aber nur noch 20% der Ergebnisse.
Wenn es gelingt, diese Relationen zurechtzurücken,
dann kann sowohl Zeit gewonnen als auch das Ergebnis
wesentlich verbessert werden.
Das richtige Instrument, um die Aufgaben
entsprechend ihrer Wichtigkeit zu ordnen und die
Arbeitszeit angemessen auf sie aufzuteilen, ist
zunächst die Klärung, was "sehr wichtig", "wichtig"
und
"weniger wichtig" ist.
Das große Dilemma bricht immer dann aus, wenn
wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen und
unfähig werden, Prioritäten zu setzen.
Im Olymp gibt es zwei Götter für die Zeit:
CHRONOS, der für die Kunst der Aneinaderreihung
von Handlungsabläufen verantwortlich ist, und
KAIROS, der den Lauf der Dinge so zu koordinieren
weiß, dass die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt
passieren.
Kairos erscheint den Griechen als Jüngling mit einem
Haarschopf vorne und einer Glatze hinten: Wer die
Gelegenheit nicht von vorne beim Schopf packt,
greift von hinten ins
Oder wie Schiller sagt: "Was du dem Augenblick
hast ausgeschlagen, das gibt dir keine Ewigkeit
zurück!"
Freitag, 6. Juli 2001
Stress
Eines der ganz prominenten Modeworte unserer
Zeit heißt "Stress". Ich liebe Stress! Er ist nichts
Böses. Er motiviert mich und schafft
Selbstvertrauen; er versetzt meinen Körper erst
in die Lage, angemessen auf die Außenwelt zu
reagieren und zu zeigen, was in mir steckt. Stress
ist ein Engel, weil er mich motiviert und
herausfordert. Er kann aber auch ein Teufel sein,
vor allem dann, wenn er als faule Ausrede gebraucht
wird.
Der Pionier der Stressforschung, Hans Seyle, hat
in diesem Zusammenhang die Unterscheidung
von Eustress und Distress geprägt und darauf
hingewiesen, dass der wahre Feind des Körpers
"Hektik" heißt!
"Als Sophia Loren einmal zu Besuch in New York
war, forderten Einbrecher, denen sie wehrlos
ausgeliefert war, ihren gesamten Schmuck: Ihr
blieb nichts anderes übrig, als die Juwelen aus
dem Tresor zu holen... Als man später gemeint
hatte, dass sie wohl sehr traurig über den Verlust
ihrer Schmuckstücke sein müsse, hat sie nur mit
den Achseln gezuckt und ihr Lebensmotto
verraten: "Weine nie über Dinge, die nicht über
Dich weinen können!"
Vieles, worüber wir uns erregen oder uns Sorgen
machen, ist unsere Aufregung einfach nicht wert.
Geschätzte 90% aller Situationen, die uns in
Hektik versetzen, stellen sich nachher als
Nichtigkeiten und Belanglosigkeiten heraus.
Samstag, 7. Juli 2001
Die Kunst, faul zu sein
"Müßiggang ist aller Laster Anfang!"
Es ist schwer bis unmöglich geworden, guten
Gewissens faul zu sein. Im Lateinischen heißt
"otium" die Muße, die Freizeit. Das Gegenteil
ist "negotium", die Arbeit. Der durch
Verneinung entstandene Begriff ist in einer
Sprache meist der geringere. Er ist durch
Ableitung entstanden: die Arbeit (wörtlich: die
Nicht-Muße). Die "eigentliche Zeit" der
römischen Kultur war der Müßiggang. Anders im
Deutschen: Das Wort "Frei-zeit" entsteht durch
Verneinung. Die arbeitsfreie Zeit genießt den
geringeren Rang.
Vielen Menschen geht es heute so, dass sie
auch am Wochenende und im Urlaub kaum zu
wirklich innerer Ruhe kommen. Die
Arbeitshektik läuft in der Freizeit weiter wie ein
Motor, den man nicht abstellen kann. Wenn wir
wieder zu uns kommen wollen, müssen wir als
erstes lernen, uns selbst im Nichtstun zu ertragen.
Weil das so schwer fällt, lernen die meisten
Menschen "nutzlose" Unterbrechung nur kennen,
wenn ihr Körper sie dazu zwingt, weil er krank
wird. Wenn uns eine Grippe niederwirft, starke
Migräne es unmöglich macht, unseren Zeitplan
einzuhalten, wissen wir meist sehr genau: "Der
Körper ist schlauer als wir selbst". Und nicht
selten reagieren wir – trotz Schmerzen -
erleichtert, dass wir auf diese Weise eine Pause
"geschenkt" bekommen haben.
Wenn wir uns regelmäßig ungeplante Zeit selbst
schenken, brauchen wir keine Krankheiten mehr,
um uns selbst in unseren inneren Bedürfnissen zu
spüren.
Bernhard von Clairvaux, der Gründer des
Zisterzienserordens und eine der machtvollsten
Persönlichkeiten des 12. Jahrhunderts, schreibt
an Papst Eugen III:
Wenn alle Menschen ein Recht auf Dich haben,
dann sei auch Du selbst ein Mensch, der ein
Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig
Du selbst nichts von Dir haben? ... Wie lange
noch schenkst Du allen anderen Deine
Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selber?"
Letztes Update dieser Seite am 09.07.2001 um 11:46