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Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von Mag. Barbara Rauchwarter,
evangelische Theologin im Schuldienst
Und wieder ein Morgen, und wieder eine Woche -
der Beginn vom Rest meines Lebens, wie man sagt.
Doch wie war die Nacht - brachte sie erquickenden
Schlaf oder war sie voller Schmerz, voll quälender
Gedanken der Sorge?
Wem teile ich meine Trauer mit, wem meine Freude?
Die Frühnachrichten füllen das Zimmer mit Sensationen.
Weltangelegenheiten blähen sich auf und drängen
meine persönlichen Gefühle in den Winkel der
Bedeutungslosigkeit. Was ist schon mein Schmerz,
meine Traurigkeit gegen die Zerstörungswut von
Katastrophen, gegen die Gewalt von Hunger und
Krieg? Wie kann sich mein Glück behaupten gegen
das Elend von so vielen?
Und doch bin ich es, die diesen Tag, diese Woche
beginnt.
Und ich bin es, die gerade vor den Trümmern eines
privaten Weltuntergangs steht oder einen strahlenden
achten Schöpfungstag erlebt.
Ich will mich davor hüten, dies zu verdrängen, mich
abzustumpfen.
Ich will es spüren, den Schmerz und die Freude. Denn
dies Gespür für mich - wird mich lehren, mitzufühlen,
wird mich lehren, die Empfindungen der Geschöpfe
rings um mich wahrzunehmen und zu beachten -
aufmerksam und zugewandt.
Dienstag, 17.7.2001
Mein Gesicht, das mich heute morgen im Spiegel
anschaut, ist unverwechselbar.
Gesichter erzählen Geschichten, denn das Leben
hat darin Spuren eingezeichnet. Ich errate in den
vielen Gesichtern morgens in den öffentlichen
Verkehrsmitteln etwas über Sorge und Kummer, über
Erschöpfung schon so früh, über Verdruss,
selten
lese ich etwas über eine Vorfreude, über die Lust an
dem jungen Tag.
Aber: Mitteilungen darüber unterbleiben.
Der unsichtbare Gesprächspartner über das Handy
erfährt meist etwas über den augenblicklichen Ort,
den man möglichst schnell verlassen will, über einen
Termin, dem man entgegen strebt - Ort und Zeitpunkt
wären also Koordinaten, Anhaltspunkte der je
unverwechselbaren Existenz?
Was gibt mir Gewicht und Bedeutung? In dem
Gedränge beobachte ich Strategien der
Selbstbehauptung und Abwehr: Blicke ziehen sich
hinter die Lektüre von Zeitung oder Buch zurück.
Ohren schützen sich mit Kopfhörern vor zudringlichen
Wortfetzen. Unwillkürliche Berührungen werden als
anstößig empfunden.
Das Zurücknehmen der Sinne aber macht unser
Leben arm. Kann ich nur unverwechselbar ICH sein in
der Abwehr der anderen? Ein Lächeln, vielleicht ein
Gruß wird in die Zugehörigkeit zu der Familie der
Menschenkinder einladen - gerade mich und gerade
mein Gegenüber.
Mittwoch, 18.7.2001
Sommerschlussverkauf - Ausverkauf der
Massenproduktion. Auf den Tischen, an den
Kleiderstangen - viele Male das Gleiche - Plunder
und sogenannte Markenware. Grell und lautstark wird
angepriesen, was mir Ansehen, Anerkennung bringen
soll. Die Jagd nach immer mehr Produkten auf dem
Jahrmarkt der Eitelkeiten verspricht mir, dass ich
wahrgenommen werde, bemerkenswert bin - ich werde
zu meiner eigenen Werbefläche. Die Botschaft lautet:
seht her: ich bin unverwechselbar. Ich hebe mich ab von
den Massen, von denen, die man so geringschätzig
"die kleinen Leute" nennt.
Doch solche Überheblichkeit schützt nicht vor der
Urangst, nicht für mich selbst erkannt und geliebt zu
werden. Dies Gefühl des Nichtgenügen treibt wohl auch
in die Reality-Shows – die Akteure zur Selbstdarstellung
und die Zuschauer zum Voyeurismus.
Das Private, je Einzigartige wird in der Arena der
Fernsehkanäle öffentlich gemacht. Aber es bleibt
beziehungslos, weil Anteilnahme nur den Vergleich
zulässt und im Übrigen durch bloßen Knopfdruck
verächtlich abgebrochen werden kann.
Ich will heute Menschen Beachtung schenken, sie
achten. Ich will sie ansehen, sie eines Blickes würdigen
und mehr. Ich will ihnen zuhören, ihnen Gehör
verschaffen. Wenn mir das gelänge – welch ein
Aufstand von uns Kleingemachten!
Donnerstag, 19.7.2001
Wer macht Menschen klein und unbedeutend?
Mitte des 16. Jahrhunderts erklärte der
Staatstheoretiker Thomas Hobbes, dass der Mensch
dem Menschen ein Wolf sei und das Leben einsam,
arm, hässlich und brutal. Das Titelblatt seiner Schrift
zeigt ein Ungeheuer, zusammengesetzt aus aneinander
gedrängten Menschen mit entsetzten Gesichtern:
Leviathan - der Staat. Für Thomas Hobbes ist Leviathan
das mit Furcht und Strafe handelnde Staatswesen.
Ungeheuerlich und unberechenbar gewalttätig ist der
Mensch, der Staat unter einem Herrscher ist eine
zwingende Notwendigkeit, um den Krieg aller gegen alle
zu verhindern.
Später werden totalitäre Herrscher das Denken Darwins
übernehmen und das Recht des Stärkeren für das Leben
einer Gemeinschaft einfordern.
Die apokalyptischen Schriften der Bibel kritisieren so
angemaßte, vermessene Herrschaft mit dem Spottbild
eines vielköpfigen und großmäuligen Ungeheuers und
warnen davor, dass Herrschaft von Menschen über
Menschen, von Großen über Kleine Gott gefährlich imitiert.
Leviathan – der Talmigott. Diese Botschaft lautet:
Der Ort der Macht und Herrschaft bleibt besser unbesetzt.
Er steht einzig Gott zu. Folgerichtig bleibt im Judentum
das Allerheiligste als irdischer Ort leer und Christen
machen ihre Hoffnung fest an einem leeren Grab.
Freitag, 20.7.2001
Vor rund 2000 Jahren lehrte und lebte der Rabbi
Jeshuah aus Nazareth das Reich Gottes unter den
Menschen. Es beginnt wenig spektakulär mit geöffneten
Händen, wachen Sinnen, beginnt mit Anteil nehmen und
Anteil geben: Jeder und Jede dem anderen und der
anderen ein Nächster und eine Nächste über alle
Schranken und Grenzen hinweg. Der erste Schritt hinein
in dieses Miteinander wäre die Wahrnehmung, ich
schenke allem, was mir begegnet, Beachtung. Es ist
grundsätzlich bemerkenswert.
Der zweite Schritt wäre die Absichtslosigkeit. Ich
berechne nicht, ob sich mein Handeln lohnt. Ich hebe
die Kosten-Nutzenrechnung des Einsatzes der Mittel
zum Leben auf. Ich lerne von meiner eigenen
Bedürftigkeit etwas über die Bedürfnisse der
anderen. Ich lerne von meinen Begabungen etwas
über die Fähigkeiten der anderen. Ich verlerne das
Misstrauen und übe das Vertrauen in die Kraft des
Wachstums in dem kleinen Anfang.
In 2000 Jahren ist den Christen dies Vertrauen fast
abhanden gekommen. Aber jeder Morgen erzählt
etwas über Atemholen und Neubeginn. Es fängt mit
mir an.
Samstag, 21.7.2001
Nächstenliebe, ja, sogar Feindesliebe ist der
empfohlene Grundsatz für Christen und Christinnen:
Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Ein
Dreischritt bezeichnet dies Lernprogramm eines
ganzen Lebens. Mich selbst darf ich annehmen, so
wie ich bin heute morgen - mit allen Schwächen und
Stärken.
Der zweite Schritt führt über mich hinaus in die
Nachbarschaft Und der dritte Schritt ist die hohe
Schule und überspringt Mauem und überschreitet
Grenzen.
Die griechische Bibel der Christen verwendet da ein
weit anspruchsloseres Wort für das große Wort
"Liebe" und umgeht alle damit verbundenen
Sehnsüchte, unerfüllte Wünsche, allen Herz-Schmerz-
Kitsch. Das griechische Wort wäre noch am besten
zu übersetzen mit dem schlichten ,jemanden leiden
können".
Ich mag dich leiden, ich kann dich leiden - das heißt
ja, dass dieses Du mir gegenüber auch schmerzt,
weh tut - in seinem Anderssein, seinem Fremdsein,
mit seinen dunklen Seiten, die ich nicht durchschauen
will oder kann. Wer kennt nicht diese schmerzliche
Befremdung, das jähe Erschrecken über dies
Anderssein,
über die mir gänzlich verschlossene und
abweisende Seite meines geliebten Menschen?
Ich kann dich leiden - trotzdem. Ich vertraue Dir und
will mit Dir die empfohlenen Schritte versuchen und
lernen. Jeden Morgen neu. Und Gott mitten darin.
Und Gott mit uns.
Letztes Update dieser Seite am 20.07.2001 um 09:11