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Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von Dr.
Helmut Obermayr
Leiter der Hauptabteilung Religion/Hörfunk, ORF
Skeptische Reise-Erinnerungen des Seneca.
Montag, 27. August 2001
28. Brief an Lucilius
"Du wunderst dich darüber wie über
etwas noch nie Dagewesenes,
dass du trotz einer so langen Auslandsreise und trotz so vieler
Ortswechsel deine schlechte Laune und Niedergeschlagenheit nicht
los geworden bist?"
Der römische Philosoph Seneca schreibt
diese Zeilen in seinem 28.
Brief an Lucilius, mit dem er seit Jahrzehnten befreundet ist. Seneca
ist knapp sechzig Jahre alt und hat die Macht verloren, die er unter
anderem als Erzieher und Berater des jungen Kaisers Nero ausüben
konnte. Lucilius verwaltet als kaiserlicher Prokurator Sizilien, auch er
beschäftigt sich mit Philosopie und er dichtet.
124 Briefe Senecas an Lucilius sind
erhalten – epistulae morales ad
Lucilium, moralische, philosophische Briefe also. Seneca breitet in
diesen
Briefen die Lehre der Stoa aus. Aber neben schweren philosophischen
Fragen wie der Einstellung zum Tod beschäftigt er sich auch mit
Alltäglichem, dem Urlaub zum Beispiel.
Lucilius ist offensichtlich unzufrieden,
weil ihm eine Reise nicht die
Entspannung von seinen Sorgen gebracht hat. Seneca sieht darin
nichts Außergewöhnliches und kommt zum Rezept: "Deine
Geisteshaltung,
deine Einstellung, deinen animus, musst Du ändern nicht die Luft, den
Himmel über Dir." Er zitiert den Griechen Sokrates: "Was wunderst du
dich, dass dir die Auslandsreisen nichts nützen, da du dich selbst
mit
herumschleppst. Es bedrückt dich der gleiche Grund, der dich hinaus
getrieben hat". Der Rat des Seneca an den Heimgekehrten: "Was
kann dir der Reiz der neuen Länder helfen, was die Kenntnis von
Städten
und Gegenden? Zu nichts führt dieses ewige Hin und Her... Du
fliehst
ja mit dir. Die Last der Seele musst du ablegen, vorher wird dir kein Ort
gefallen."
Dienstag 28. August 2001
28. Brief an Lucilius
Kilometer lange Stauungen auf Autobahnen,
ganze Völkerwanderungen
von Urlaubsreisenden haben die Siebziger Jahre des 1 Jahrhunderts
nach Christus noch nicht gekannt. Hektische Touristen in Erholungsorten
aber durchaus, die voller Unruhe von einem Ort zum anderen getrieben
werden, wie wenn sie vor sich selbst davon laufen würden.
"Du fragst, warum Dir diese Deine
Flucht nicht hilft" stellt Seneca in
seinem 28. Brief an seinen Freund Lucilius fest, der auf einer Reise
die gewünschte Beruhigung nicht gefunden hat. Der Grund, den Seneca
nennt, überrascht. Er diagnostiziert beim Dichter und Prokurator
von
Sizilien nicht, vor sich selbst zu fliehen sondern sieht den Grund für die
Unzufriedenheit darin, dass er mit sich selbst flieht.
Und dann meint der große stoische
Philosoph, dass gerade dieses
unruhige Getriebenwerden des Reisenden das Übel noch
verschlechtert,
dem er entkommen will: "Du wanderst hin und her, um die drückende
Bürde abzuschütteln, die eben durch dieses Getrieben-Sein immer
quälender wird". Er vergleicht den mit seiner Unruhe belasteten
Reisenden mit einem beladenen Schiff. Wenn die Ladung fest verstaut
ist, übe sie weniger Druck aus. Wenn sie aber durcheinander kommt
und sich verlagert, werde das Schiff sinken, erklärt Seneca dem Lucilius
und empfiehlt ihm, vor der Reise erst Ruhe zu suchen, denn "Was
immer du unternimmst, unternimmst du gegen dich und schadest dir
gerade durch die Unrast; einen Kranken nämlich rüttelst du auf.
Wenn
du aber das Übel beseitigt hast, wird jede Ortsveränderung wohltuend
sein."
Mittwoch, 29. August
28. Brief an Lucilius
Reisen und reisen ist nicht das gleiche.
Ob es wohl tue, hänge davon
ab, in welcher Seelenverfassung man reise und ankomme. Ganz
einfach klingen die Ratschläge nicht, die Seneca seinem Freund
Lucilius schreibt. Dieser Lucilius ist ein erfolgreicher und gescheiter
Mann, in wichtiger Aufgabe für Rom in Sizilien tätig. Sein älterer
Freund Seneca hat im Jahr 62 seine Karriere schon hinter sich. Er ist
bei seinem Schüler Nero in Ungnade gefallen und widmet sich der
Philosophie. Praktisch veranlagt zieht er aus ihr auch Hilfe für den
Alltag,
Ratschläge für unzufriedene Reisende zum Beispiel.
Lucilius ist offenbar enttäuscht, auf
einer Reise nicht die gewünschte
Ruhe gefunden zu haben. Damit habe er eigentlich falsche Erwartungen
gehabt, schreibt ihm Seneca, denn "wichtiger ist es, als wer du
ankommst als wo du bist".
Reisen ist für Seneca nicht von
vornherein ein Heilmittel, weil kein
Ort Heilung für den unruhigen, nicht in sich gefestigten Menschen bietet.
Aber weil es eben wichtiger ist, als wer, in welcher Befindlichkeit, man
ankommt als wo man ankommt, "dürfen wir unser Herz an keinen Ort
hängen." Also doch unruhig herumziehen? Der Weise wird überall
daheim sein und dann wird auch das Reisen nicht mehr rastlos sondern
glücklich machen. Seneca beschreibt die Einstellung, mit der man seiner
Meinung zufrieden reisen wird: "Nicht für einen engen Ort bin ich
geboren,
meine Heimat ist diese ganze Welt. Wenn dir dies einsichtig wäre,
würdest du dich nicht wundern, dass dir die verschiedenen Gegenden
keine Linderung verschaffen, in die du dich begibst, der früheren
überdrüssig. Schon die erstbeste hätte dir gefallen, wenn du jede
für
die deine hieltest. Jetzt aber reist du nicht sondern irrst umher und
lässt
dich treiben und ziehst von Ort zu Ort, obwohl das, was du suchst, überal
l zu finden ist: Ein glückliches Leben.
Donnerstag 30. August
104. Brief an Lucilius
In zweien seiner philosophischen Briefe an
Lucilius beschäftigt sich
Seneca mit dem Reisen: In einem als Antwort auf eine Klage des
Lucilius, die Reise habe ihm nicht die gewünschte Beruhigung
gebracht. Im anderen, im 104. Brief, entfaltet er seine Gedanken
ausgehend von einer eigenen Reise, die ihn von Rom in sein nicht
weit von der Stadt entferntes Landgut geführt hat. Anlass war ein
Fieber, das in der Stadt grassierte. Die körperliche Erholung folgte,
aber Seneca breitet in der Frage nach dem wahren Nutzen oder der
Nutzlosigkeit des Reisens den Kern der stoischen Philosophie und
Morallehre aus.
Zur Geisteskraft trage der Aufenthaltsort
nicht viel bei. Wer eine
Urlaubsregion auswähle und dort der Freizeitbeschäftigung nachjage,
der werde überall Anlass zur Sorge finden. Wieder zitiert Seneca
den großen Athener Sokrates, der jemandem, der sich über die
Fruchtlosigkeit einer Reise beklagte, antwortete: "Das geschah Dir
gerade recht. Du warst ja mit dir selbst unterwegs". Wer von sich
keinen Abstand gewinnt, der nimmt seine Fehler auch auf Reisen
mit, resigniert Seneca und zählt die Fehler auf: Reichtum für
wichtig
halten, Angst vor der Armut, Neid auf den Erfolg anderer und vor allem
die Angst vor dem Tod. Und mitten im Brief über das Reisen erinnert
er damit an eine zentrale Aussage der stoischen Philosophie: Am
Tod sei kein Übel außer dem, das vor ihm liegt, ihn nämlich zu fürchten.
Wer alle seine falschen Einstellungen mit
sich trägt, der wird auch von
einer Reise nach Athen oder Rhodos nichts haben, mahnt Seneca:
"Was nützt es, das Meer zu durchmessen und Städte zu wechseln.
Wenn Du deinen Bedrängnissen entkommen willst, ist es nicht wichtig
woanders zu sein sondern jemand anderer."
Freitag, 31. August
104. Brief an Lucilius
"Nach einem Heilmittel muss ein
Kranker suchen nicht nach
einer Gegend" warnt Seneca vor der Erwartung, dass Reisen
heile, und er bringt einen passenden Vergleich: "Es brach sich
jemand das Bein oder verrenkte sich ein Gelenk. Da besteigt
er nicht einen Wagen oder ein Schiff sondern er ruft den Arzt,
damit der gebrochene Teil zusammengefügt und das Verrenkte
an seine Stelle gebracht wird. Was also? Du glaubst , dass ein
gebrochener und verletzter Geist durch eine Ortsveränderung geheilt
werden könne. Dieses Übel ist größer als dass es durch eine
Vergnügungsfahrt kuriert würde. Das Reisen macht keinen Arzt,
keinen Redner. Keine Kunst wird von einem Ort gelehrt. Glaube mir,
es gibt keinen Reiseweg, der Dich aus deinen Begierden, aus
deinem Zorn, aus deiner Furcht führt. Diese Laster werden dich auf
deiner Reise durch die Länder und Meere so lang begleiten, wie du
die Ursachen der Übel mit dir führst."
Aber nicht nur für das psychische
Reisegepäck empfiehlt der große
römische Philosoph radikales Umräumen. Auch die Reisegefährten
bedürfen einer sorgfältigen Auswahl. Immer mehr wird in diesem
Brief des Seneca das Reisen zum Symbol des Lebens. Wie er
aus den Grundsätzen und hohen Zielen der stoischen Philosophie
Anleitungen für das praktische, alltägliche Reiseleben ableitet,
so zeigt er am Alltäglichen die Grundsätze und Ziele für die
Lebensreise. "Die Habsucht wird dir bleiben, solange du mit
einem Habgierigen und Geizigen zusammen bist. Die Aufgeblasenheit
wird dir bleiben, solange du mit einem Hochmütigen zusammen bist...
Die Gemeinschaft mit Ehebrechern wird deine Begierden entflammen.
Wenn Du angenehme Reisen erleben willst, dann heile deinen
Begleiter".
Samstag 1. September
104. Brief an Lucilius
Was kann das Reisen an sich jemandem
nützen, fragt Seneca in
seinem 104. Brief an Lucilius. Sehr umfangreich fällt die Liste nicht
aus im Vergleich zur immer wiederholten Warnung vor überzogenen
Erwartungen. Und bevor er den Nutzen behandelt, folgt noch einmal
die Aufzählung dessen, was Reisen seiner Meinung nach nicht bewirkt:
"Es mäßigt nicht die Begehrlichkeit, zügelt die Leidenschaften nicht,
unterdrückt den Zorn nicht, bricht nicht das außereheliche Streben
nach Liebe, es entfernt kein Übel aus unserem Geist. Und im Übrigen
steigert es die Unbeständigkeit des Geistes, die das größte Übel ist.
Deshalb verlassen Leute die Orte, die sie mit größtem Eifer
anstrebten,
mit noch größerem Eifer und verschwinden wie die Vögel schneller
als sie gekommen waren."
Reisen bildet, in dem man die Natur
und damit das Wesen der Welt
kennen lernt, das räumt Seneca dann doch noch ein: "Reisen wird die
Kenntnis der Völker vermitteln, es wird dir neue Formen der Berge
zeigen, noch nicht gesehene Ausdehnungen der Felder, Täler mit
Bächen, die nie austrocknen." Das Kennenlernen
mäanderförmiger
enger Flussläufe, der Überschwemmungen des Niles, des unterirdischen
Laufes des Tigris zählt er als interessante Pluspunkte einer Reise
auf,
nicht ohne skeptisch hinzuzufügen: "Im übrigen macht die Kenntnis
davon weder besser noch gesünder". Und Seneca bleibt bei der
Einschränkung: "Solange du aber nicht weißt, was man meiden und
was man anstreben muss, was notwendig, überflüssig, gerecht, ungerecht,
was ehrenhaft und was unehrenhaft ist, so lange wird das kein Reisen
sein sondern ein Herumirren".
Ich hoffe, sie haben Ihre sommerliche
Urlaubsreise auch angenehm im
Sinne Senecas erlebt.
Buchtipps:
Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, Reclam Universal-Bibliothek, lateinisch-deutsche Ausgabe.
Die beiden in dieser Serie behandelten Briefe über das Reisen:
28. Brief: 3. Buch, ISBN 3-15-002134-0
104. Brief: 17. Und 18. Buch, ISBN 3-15-009373-2
Letztes Update dieser Seite am 12.09.2001 um 16:10