Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von Ursula Baatz
Religionsjournalistin aus Wien
Montag, 3. September 2001:
Wenn ein werdendes Kind zu früh aus dem schützenden Umfeld des
mütterlichen Uterus abgeht, und tot geboren wird, ist nicht immer sicher,
ob es wirklich ein Mensch ist. Denn nur wenn dieser Fötus mehr als 500 g
hat, sagt man, dass hier ein Mensch geboren wurde. Doch wenn der
Fötus weniger als 500 g hat, dann gibt es ein Problem. Denn diese
Lebewesen sind nicht wirklich ausgereift, sie sind zu klein, ihr Leben
hat zu früh geendet. Getauft können sie nur werden, wenn der Pfarrer
damit einverstanden ist, denn dafür gibt es keine kirchliche
Regelung.
Bleibt nur die Nottaufe. Und in der Diskussion um die Grenzen des
Lebens in der Humangenetik hat man auf diese Grenzfälle menschlichen
Lebens ganz einfach vergessen. Das ist in gewisser Weise
charakteristisch für die Art und Weise, wie über Leben gesprochen
wird. Der Embryo - ein Keimling, ein Lebewesen mit menschlichem
Genom - ist eine Sache, ein Erkenntnisding, über das man redet und
das man abbildet wie Autos oder Zigarettensorten. Dass ein Embryo
nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern in einem Setting von Menschen
wächst - entweder in der Gebärmutter einer Frau, die meistens auch seine
Mutter ist - oder wenigstens in der Petrischale unter den Augen von
aus
irgendwelchen Gründen an dem Mini-Leben interessierten Ärzten, wird
ausgeblendet. Auf eine gewisse Weise ist diese Art, über Leben zu reden,
obszön, weil völlig beziehungslos. Diese Beziehungslosigkeit sitzt in der
Basis der ganzen Diskussion. Und dadurch wird das Leben zu einer
Sache. Sachen kann man verwalten, man kann mit ihnen experimentieren,
sie verbessern oder verschlechtern, man kann sie versichern und verkaufen.
Doch Leben ist keine Sache, sondern ein Geschehen, anfangslos, wenn
man den Buddhisten folgt. Ein Geschenk, denn christlich gesprochen ist
Leben von Gott geschaffen. In jedem Fall ist sind Menschen bloß Teile des
Lebens, besonders begabte allerdings, die in der Lage sind, sich selbst
und alles andere zur Sache zu machen.
Dienstag, 4. September 2001:
Haben Sie schon einmal ausprobiert, wie lange Sie die Luft anhalten
können? Nicht allzu lange auf jeden Fall. Man kann eine Weile lang ohne
Essen, Trinken und ohne Schlaf auskommen, doch nur ganz kurze Zeit ohne
Atem. Wie wichtig der Atem ist, merkt man meistens nur, wenn man außer
Atem ist und keine Luft bekommt. Der Atem ist die grundlegendste Bedingung
unseres Lebens. Doch gerade diese grundlegendste Bedingung unseres
Lebens gehört uns nicht und ist auch nicht disponibel. Wer versucht,
seinen Atem festzuhalten, nach dem Motto: das gehört mir, wird das
bald wegen Erstickungsgefahr aufgeben müssen. Der Atem kommt und
geht, man kann vielleicht langsamer atmen oder schneller, aber der Atem
ist nicht unser Besitz - so wenig das Leben unser Besitz ist. Der
Atem
kommt und geht, und er kommt aus einer großen Weite und geht wieder
in eine große Weite. Die Luft, die wir atmen, ist ein Geschenk des Planeten
Erde: ein Geschenk der Gräser dieser Erde, der Pflanzen und Bäume
-
und ein Geschenk des Wassers und der Sonne, die für das Wachstum
der Pflanzen nötig sind, ein Geschenk des Windes, der die Samen der
Pflanzen auf der Erde verbreitet. Das hat nichts mit Naturmystik zu tun,
sondern mit dem simplen Faktum, dass der Gasaustausch zwischen
Säugetieren und Pflanzen das Um und Auf von tierischem und menschlichem
Lebens ist. Aber vergesslich wie Menschen öfter einmal sind, achtet
man selten auf den Atem. So glauben mindestens in den Industriekulturen
die meisten Menschen, dass sie irgendwie selbständig und deutlich
getrennt von allen anderen Lebewesen sind. Tatsächlich ist das eine
fatale Illusion, die sich mit jedem Atemzug widerlegt. Nicht nur Pflanzen
und Bäume haben Wurzeln, auch Tiere. Ihre Wurzel ist die Luft. Das
heißt, dass Menschen Luftwurzler sind, verbunden über das unsichtbare
Netz der Atemwurzeln mit allem, was lebt und keineswegs alleinige
Herren der Schöpfung. Stammt doch der Atem selbst, der Menschen
lebendig macht, von Gott, dem Schöpfer dieses ganzen Zusammenhangs
von Erde, Pflanzen, Tieren und Menschen.
Mittwoch, 5. September 2001:
Der kleine Elefant in Schönbrunn fasziniert die Leute, wenn er wie ein
menschliches Kind sich bei der täglichen Dusche in das Plastikplanschbecken
fallen lässt, so dass die Hälfte des Wassers herausrinnt, oder wenn
er
mit seinem klugen Rüssel den Wasserschlauch in Verwirrung bringt.
Wenn man dem kleinen Elefanten und seiner großen Elefantenmutter
zuschaut, versteht man, dass es in Indien einen elefantenköpfigen Gott
gibt, Ganesha, den Gott, der die Hindernisse beseitigt. Ein Elefant
kann das tatsächlich; in Indien und Südostasien sind Elefanten bis heute
Arbeitstiere. Aber da gibt es noch irgendeine andere, nicht so genau
fixierbare Qualität: etwas, das mit Intelligenz und Wildheit zu tun hat,
mit
Gedächtnis und Zuneigung. Vielleicht liegt darin auch die Faszination
der Elefanten, selbst wenn sie im Wiener Tiergarten durch eine
Betonfelsen-
und Baumlandschaft statt durch die Savanne wandern. Sie verkörpern
die Sehnsucht nach einem anderen Leben, in dem Wildheit und Intelligenz,
Zuneigung und Gedächtnis den Lebensstil bestimmen. Seit dem Beginn
der Industrialisierung, also seit ungefähr zweihundert Jahren, gibt es
diese unbestimmte Sehnsucht, dass etwas wichtiges fehlt - der direkte
Geschmack der Welt, das Gespräch mit den Pflanzen und Tieren, die
Begegnung mit dem alten Weisen. In den Märchen wird von solchen
Vorkommnissen erzählt, doch die feinen Ohren, die man haben muss,
um einen Stein oder eine Rose singen zu hören, und noch viel schwieriger:
einen Menschen Sprechen zu hören bekommt man nur, wenn man lernt,
in der Gegenwart zu sein. Nicht gestern oder morgen, sondern jetzt.
Dafür gibt es viele Hindernisse, und die größten sind die eigene Trägheit
und Verbohrtheit. Die halten einen in den alten Gewohnheiten fest,
in
den Erwartungshaltungen, die einen dazu bringen, die Welt mit Vorurteilen
zu sehen, statt Augen und Ohren zu öffnen, für das was ist – und das ist
das Unvorhergesehene, das Wunder. Das Leben eben. Vielleicht können
das kleine Elefantenkinder.
Donnerstag, 6. September 2001:
Ein Mann beschimpft lautstark seine Frau in der Straßenbahn; eine Mutter
ohrfeigt ihr Kind im Bad. Szenen dieser Art gehören zum ganz
gewöhnlichen
Wahnsinn, über den meistens kein Wort verloren wird. Fast immer
sind
es allerdings die Männer, die zuschlagen. Ungefähr 300 000 mal pro
Jahr werden in Österreich Männern ihren Partnerinnen gegenüber
gewalttätig,
fast tausendmal pro Tag. Und das trifft auf alle sozialen Schichten zu und
für alle Bildungsniveaus. Man spricht viel davon, dass die Familie
in
Gefahr sei. Das stimmt, wenn man sich die Daten ansieht. Die Familie
ist einfach kein sicherer Ort. Das zeigt die jüngste
Kriminalstatistik.
Danach sind 80 % aller Gewaltverbrechen des letzten Jahres in der
Familie verübt worden; die meisten davon von Männern. Dabei sind
die aktenkundig gewordenen Gewaltverbrechen nur die Spitze des Eisbergs.
Der größere Teil der Gewalt in der Familie bleibt unsichtbar. Sichtbar
wird nur, das 37 % aller österreichischen Kinder Scheidungskinder sind,
und der häufigste Scheidungsgrund männliche Gewalt. Eigentlich ist die
Familie der Ort, an dem das Leben gepflegt und gehegt werden soll -
das Leben in Form von Beziehung zum geliebten Partner, das Leben
der Kinder, die aus dieser Beziehung kommen. Das ist das Ideal,
das die Gesellschaft zeichnet, und das sie auch einfordert. Gewalt
in der Familie ist ein Tabu; und wer darüber spricht, macht sich
schuldig.
Denn er oder sie hat an eine der gravierendsten Wunden dieser
Gesellschaft gerührt: an das Unvermögen, in Beziehung zu sein, in
Beziehung zu leben. Vielfach ist das ein Unvermögen der Männer,
aber auch die Frauen sind davon nicht verschont. Das Problem ist,
dass in den meisten Familien Beziehung über Macht definiert wird:
und Macht ist das Gegenteil von Zärtlichkeit und Zuwendung. Macht
bedeutet, seine Status in der Gesellschaft zu demonstrieren. Und
Macht ist männlich, darüber können gelegentliche Ausnahmen nicht
hinweg helfen. Wer allerdings seine Macht zur Schau stellt, hat
zugleich große Angst, sie zu verlieren. Das ganze ist aber nicht
bloß ein familiäres Problem. Die Gesellschaft demonstriert,
was wirklich zählt: nämlich Macht, Status, Sexualität, Potenz,
aber nicht Beziehung, Zuwendung, Zärtlichkeit. Kein Wunder,
wenn die alltägliche strukturelle Gewalt in der Familie, der Keimzelle
der Gesellschaft, in konkrete Gewalt umschlägt.
Freitag, 7. September 2001:
Unlängst sagte mir ein befreundeter Mediziner, der mit seiner Ehefrau
Probleme hatte, weil sie sich in jemanden anderen verliebt hatte:
solange in ihrem Hirn die Hormone so aktiv sind, hat es überhaupt
keinen Sinn, mit ihr zu reden. Ich war einigermaßen sprachlos. Sind
Eheprobleme demzufolge eine Angelegenheit von Hormonüberschuss?
Und wäre folglich das Eheproblem dadurch zu lösen, dass der
Hormonspiegel der Frau mittels eines chemischen Eingriffs gesenkt
wird? Tatsächlich gibt es diese Ansicht, dass der Mensch nichts anderes
sei als ein durch komplexe chemische Prozesse gesteuertes System.
Und tatsächlich ist diese Ansicht schwer zu widerlegen, ganz einfach,
weil es sich um eine Ansicht handelt, um eine ganz bestimmte
Sichtweise. War also im Falle der oben erwähnten Eheprobleme
die schrittweise emotionale Entfremdung, die man zwischen den
beiden Ehepartnern in den vergangenen Jahren hatte beobachten
können, ein hormonell zu steuerndes Problem? Die heftigen Diskussionen
und Streitigkeiten über Kindererziehung, Küchenarbeit, Urlaubsplanung,
über Kinobesuche und gemeinsame Freunde mit Hilfe von entsprechenden
Pillen ganz einfach hormonell lösbar? Und angenommen, es wäre so -
wer würde dann bestimmen, welche Pillen wann genommen werden
müssen? Dürfte zum Beispiel der Mann seiner Frau befehlen, eine
Pille zu nehmen, wenn er sieht, dass ihr ein anderer schöne Augen
macht und sie darauf einsteigt? Oder dürfte die Frau ihrem Mann
befehlen, eine andere Pille zu nehmen, wenn sie merkt, dass er
eifersüchtig wird, wenn sie mit einem anderen Mann freundlich
redet?
Alles Leben ist Chemie, davon gehen die Medizin als universitäre
Wissenschaft aus. Das stimmt natürlich. Aber ist alles Leben Chemie?
Die Ehe des besagten Mediziners ist in der Zwischenzeit wieder
heil - er hat mit großem persönlichen Einsatz und viel Taktgefühl
versucht, mit seiner Frau wieder in eine liebevolle Beziehung zu treten
und nicht nur über Kassenabrechnung, Kindererziehung und
Urlaubsplanung
zu reden. Alles Leben nur Chemie? Ganz offensichtlich doch nicht. Was
Menschen menschlich macht, ist immer noch die Liebe, nicht der Hormonspiegel.
Samstag, 8. September 2001:
Wenn man in Japan jemanden begrüßt, sagt man nicht guten Tag oder
Grüß Gott, sondern Genki desu ka? Das heißt: wie geht es Ihnen? Doch
genau genommen heißt es: wie geht es Ihrem Ki? Also, wie geht es Ihrer
Energie? Wie fühlen Sie sich? Doch so genau kann man das Wort Ki oder
wie die Chinesen sagen Qi nicht übersetzen. Denn Qi ist weder
Gefühl
noch Energie, sondern am ehesten Lebenskraft. Doch was ist Lebenskraft?
Dieser Begriff ist im Laufe des 19. Jahrhunderts zusammen mit dem
Wort "Seele" aus dem alltäglichen Vokabular verschwunden. Es kommt
im Alltag zwar mehr als häufig vor, dass einem etwas schwer auf der
Seele liegt, oder einem Stimmungen und Atmosphären das Leben
vergiften, doch weil die Worte fehlen, ist es kein richtiges Thema mehr.
Dafür gibt es mittlerweile ganze Bibliotheken von Büchern über
Lebenshilfe, Hier geht es genau um diesen ausgegrenzten Bereich:
um Lebenskraft, um diesen materiell nicht wirklich fassbaren Bereich
von Gestimmtheit und Atmosphäre. Und es gibt alle möglichen Kurse,
in denen man mehr oder minder profund lernen kann, mit Lebenskraft
umzugehen. Qi Gong, Tai Chi, Feng Shui, Kochen nach der traditionellen
chinesischen Medizin. Meistens werden diese Kurse unter der Rubrik
Esoterik verortet, weil sie in die harten Ecken und Kanten des
industriellen Bewusstseins nicht hineinpassen. Dabei ist es ganz
offensichtlich, dass eine angenehme Atmosphäre in einem Raum
oder um einen Menschen das Leben erfreulicher und leichter macht;
und dass ein grundlegendes leiblich-seelisches Gleichgewicht für alle,
inklusive einen selber, eine bessere Gestimmtheit bedeutet. Ganz kleine
Dinge können hier eine große Wirkung haben: eine Blume am Schreibtisch,
ein paar Mal ruhig und tief atmen, aufstehen und sich dehnen und
strecken. Einfach weghören vom Stress. Doch weil es meistens um
harte Fakten geht, um Zahlen irgendwelcher Art, gerät das Lebendige
Leben ins Hintertreffen. Auch in den Kirchen findet sich da selten Hilfe;
und das ist schade. Denn wir sollten doch Leben haben, und das in Fülle.
Letztes Update dieser Seite am 12.09.2001 um 13:50