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Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1

von Dr. Martin Bolz
evangelischer Religionspädagoge aus Wien

 

"Die Schule ist für Kinder da"

 

Montag, 10. September:

Die Ferien sind vorüber, für die einen haben sie viel zu lange gedauert, weil man schon nicht mehr wusste, was es noch für Möglichkeiten geben könnte, die Freizeit zu gestalten. Für die anderen sind sie immer zu kurz, besonders dann, wenn man in den letzten Ferientagen auch noch zu den Schulsachen greifen soll.

Dabei sind die Ferien ja keine Erfindung der Lehrerinnen und Lehrer, die wurden schon immer von der Natur gesetzt: im Sommer brauchte man die Kinder bei der Ernte, ausserdem ist es so heiss, dass ohnehin niemand bei der Sache sein kann. Ferien als Nichtstun hat es noch nie gegeben, es wurde eben anderes getan als das was in der Schule gefragt ist, damit auch das Hirn einmal auslüften kann.

Da hatte die Lehrerin in der Volksschule gefragt: " Werdet ihr mich wiedererkennen, wenn ich nach den langen Ferien äußerlich total verändert zurückkomme?" Die Kinder in der Klasse wussten die Antwort: " Ja, an deinem Wesen." Lehrerinnen und Lehrer verändern sich nicht, Schule auch nicht, man weiss ja, was man davon hat.

Alles ist bekannt: das Schulgebäude, die Klassenzimmer, der Schulgeruch, jenes Gemisch aus Kreide, Jausenbrot, Reinigungsmitteln und offen stehenden Turnsaaltüren.

Alles ist aber auch neu: Hefte, Bücher, Zeichenmaterial, Schultaschen – und sie warten auf ihren Einsatz, um dann spätesten gegen Schuljahrsende kaum noch eines Blickes gewürdigt zu werden. Und die Neuen in der Schule sind noch ein wenig unsicher und fragen auch viel, aber spätestens in zwei Monaten ist auch das vorbei. Nur in einem sind sich alle sozusagen "altgedienten" Schülerinnen und Schüler einig: Diese Erstklassler sind unmöglich! Wie die sich benehmen, wie die reden, was die sich herausnehmen, sogar gegenüber dem allmächtigen Herrn Schulwart: das hätten wir uns nicht getraut!

So beginnt ein neues Schuljahr.

 

Dienstag, 11. September:

"Waren die ersten Menschen Kinder oder Erwachsene?" hat ein Mädchen in der 4. Klasse Volksschule mitten aus heiterem Himmel gefragt. Solche Sätze kommen in der Schule andauernd vor und machen zuerst einmal alle sprachlos. Für das Mädchen ist die Frage klar, denn da hat sie sicher für sich selber schon lange darüber nachgedacht und vielleicht auch so manches entdeckt, aber an dieser Frage ist sie hängengeblieben. Also fragen wir die Lehrerin, denn jetzt, wo sie sich anschickt, in der vierten Klasse, einen Schulwechsel vorzunehmen, wo sie das Altbekannte verlassen und sich auf Neues einlassen muss, da müssen als Altlasten die Fragen, warum das alles denn so sein muss oder ob es auch ganz anders sein kann, noch schnell erledigt werden. Und die Frage ist nicht von schlechten Eltern, für jedermann, weil grundsätzlicher geht es ja nicht mehr. Wenn Adam und Eva die ersten Menschen waren, wie man ja im Religionsunterricht hört, ja, was waren sie denn dann? Waren sie Kinder, die in aller Unschuld herangewachsen sind und dann, wie Kinder das wohl doch so tun, einmal ausprobieren, ob man die Grenzen nicht ein wenig erweitern könne? Dann war die Reaktion zwar hart, aber doch klar und deutlich: Ihr seid jetzt keine Kinder mehr, also müsst ihr die Folgen eurer Handlungen voll auf euch nehmen. Punkt! Wenn die ersten Menschen allerdings Erwachsene waren, dann schaut die Sache wieder ganz anders aus: warum müssen denn Kinder alles das tun, was die Erwachsenen von ihnen wollen, wenn sie selbst solche Fehler machen?

Kinder haben in der Schule schon immer Fragen gestellt, auch heute noch, aber sie sind von Qualität und Zielrichtung her ganz anders: Sie bringen die Sachen auf den Punkt. Warum? Weil längst vor und neben der Schule so viele Dinge zu lernen und zu erfahren sind, dass die kindliche Unschuldsvermutung nicht mehr gelten muss, ausserdem: Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Also: Waren die ersten Menschen nun Kinder oder waren es Erwachsene? Was glauben wir denn, was Gott gewollt hat, damals?

 

Mittwoch, 12. Sepember:

Nach der Katastrophe in den USA vom 11.9.2001 äußert sich der Wiener Religionspädagoge Dr. Martin Bolz von der Evangelischen Kirche mit einem Text von Dalai Lama.

Als Buddhist sehe ich im Tod einen normalen Prozess. Ich akzeptiere ihn als Realität, der ich solange ausgesetzt bin, wie ich mich in weltlicher Existenz befinde. Da ich weiß, dass ich mich dem Tod nicht entziehen kann, sehe ich keinen Sinn darin, mich vor ihm zu fürchten. Ich sehe den Tod eher so, wie wenn man Kleider wechselt, wenn sie alt und abgetragen sind, und nicht als letztes Ende. Doch der Tod ist nicht vorherzusehen: Wir wissen weder wann noch wie er uns ereilen wird. Daher ist es klug, sich auf ihn vorzubereiten, bevor es soweit ist.

Natürlich wünschen sich die meisten von uns einen friedlichen Tod; es ist auch klar, dass wir nicht auf eitlen friedlichen Tod hoffen können, wenn unser Leben voller Gewalt ist oder unser Geist die meiste Zeit von Emotionen wie Zorn, Anhaften oder Furcht besessen ist. Wenn wir also gut zu sterben wünschen, müssen wir lernen, gut zu leben: Wenn wir auf einen friedvollen Tod hoffen, dann müssen wir in unserem Geist und in unserer Lebensführung den Frieden kultivieren.

 

Donnerstag, 13. September

Diskussion 3. Klasse Volksschule, irgendwie entstanden, und hinterher weiss eigentlich keiner mehr so genau, wie man ausgerechnet auf diese Frage gekommen ist: was ist der Sinn des Lebens? Die Lehrerin hat bemerkt, was da abläuft und hat mitgeschrieben. Was ist der Sinn? Ein Schüler hat gesagt:

"Das ist eine sehr schwere und ernste Frage. Ich denke nun schon drei Jahre darüber nach."

Auf die Frage der anderen Schüler, was nun der Sinn wäre, sagte er:

"Das kann ich euch nicht sagen, darüber müsst ihr selbst nachdenken. Für mich hat das auch mit Gott zu tun, weil ich mich nicht nur um mich, sondern um alles kümmere. Aber es ist sehr schwer und ich muss noch viel darüber nachdenken."

Er denkt schon 3 Jahre darüber nach, also seit er in der Schule ist, bisher offenbar wenig bemerkt. Er weiss, dass dieses Nachdenken schwer und ernst ist, ohne im Augenblick zu sagen, warum das so ist. Aber das muss er ja auch nicht sagen, durch welche Umstände er immer wieder an dieser Frage herumbastelt, wenn er das nicht will. Er fordert seine Mitschüler auf, sich selber auf diesen steinigen Weg zu begeben und nicht nachzulassen. Und diese Zurückhaltung ist für mich atemberaubend, einfach, weil sie weise ist. Ich kann niemandem anderen seinen Sinn des Lebens erklären, den muss er selber finden. Auch die Lehrerin weiss, dass sie höchstens Hilfestellungen geben kann, es aber besser ist, zuerst einmal wirklich zuzuhören und nicht gleich zu reagieren. Denn für diesen Buben geht es nicht nur um ihn, seine eigene persönliche und damit vielleicht egoistische Erklärung. Über den Sinn des Lebens nachdenken heisst nicht nur einen Sinn für das eigene Leben finden und damit hat sich’s, sondern die Suche nach diesem Sinn meint immer das Ganze, alles, was mich umgibt, denn in diesem Ganzen ist auch mein Sinn eingebettet. Wie hat er gemeint: "Für mich hat das auch mit Gott zu tun"! Jawohl, für ihn und für viele andere auch.

 

Freitag, 14. September:

Auf der einen Seite wird von den mit Spielzeug vollgestopften Kinderzimmern, andererseits von den leeren Beziehungskisten geredet und geschrieben und nicht selten wird dann gewissermassen als Sosse die Klage über die fehlenden Werte darüber geleert,

Wahrscheinlich waren aber die so ins Gerede gekommenen Werte nie weg, sie wurden nur anders gesehen und wahrgenommen und nicht so in die Öffentlichkeit getragen. Denn jeder lebt jeder nach seinen Grundsätzen, und darauf wird Wert gelegt. Im Grunde sind es immer noch die guten alten biblischen 10 Gebote, die so etwas wie die bürgerliche Richtschnur für das Handeln bilden. So hat ein Mädchen aus der 2, Klasse Hauptschule gemeint: "Ich habe noch nie gelogen, aber auch nicht immer die Wahrheit gesagt." Das ist klassisch.

Die 10 Gebote sind Teil des Religionsunterrichts. Jedes Kind kennt sie und fast jedes Kind hat seine eigene Art und Weise, sie zu verstehen und mit ihnen umzugehen.

Die klassische Auslegung des 8. Gebotes mit: ich lüge nicht, ist schulkonform, der Zusatz, ich sage auch nicht immer die Wahrheit, ist lebenskonform. Dieser Unterschied hilft anscheinend, bei Konflikten eine als notwendig erachtete Handlungsfreiheit zu haben, ohne sich gleich gegen den Vorwurf: Du lügst ja, wehren zu müssen. Denn wer lügt schon bewusst? Mit ihren 12 Jahren hat diese Schülerin mit der doppelten Anwendung des Gebotes, dass man nicht lügen soll, ihren Beitrag zur Wertediskussion einfach abgeliefert und damit die Grenzen und die Chancen von Schule gezeigt: sie kann es im kaum begonnenen Schuljahr bei dieser Doppelbödigkeit lassen. Man wird ja sehen, wie weit man damit kommt und ob sich nicht noch eine oder gar mehrere neue Möglichkeiten auftun. Das verstehe ich unter: Lernen, und das ist es, wofür die Schule ja da ist.

 

Samstag, 15. September:

Da bleibt so manches irgendwo im Gedächtnis, was während der Woche gewesen ist und was man doch irgendwie erledigen möchte. Da hat ein Mädchen in der vierten Klasse Volksschule gesagt: "Wenn ich etwas hasse, dann ist es warten, ich kann nicht warten, weil ... (Pause) mich mag eh keiner ... (Pause) auch meine Mutter wartet nie auf mich." Das ist schon ein starker Tobak, aber bevor ich darauf eingehe, möchte ich noch kurz festhalten, dass diese Sätze sowohl für die Lehrerin, die ihre Schülerin nicht unterbrochen, sondern hat ausreden lassen, als auch für das Mädchen stehen: sie hat sich sicher gefühlt, um ihren Satz auch zu Ende führen zu können. Sie mag nicht warten, das ist etwas, was sie sicher mit vielen Menschen teilt und was auch als normal gilt: Man lässt niemanden warten, denn allein im Warten – lassen spricht sich eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten aus, die den Wartenden auf jeden Fall zuerst einmal kleiner machen. Eine 10jährige hasst es zu warten, denn Leben heisst Bewegung und es wäre noch so viel zu erledigen, könnte man meinen. Weit gefehlt! Sie kann nicht warten, weil man auch auf sie nicht wartet, weil sie die Liebe vermisst und deshalb zutiefst unsicher ist. Diese Ursache – Wirkung – Kette spielt in den schulischen Alltag hinein, aber ob sie in der Schule bearbeitet werden kann, ob das nicht besser in der unterrichtsfreien Zeit zuhause passiert?

Damit sind wir bei den Gefühlen. Ein kleiner Szenenwechsel: Ein Mädchen in der 1. Klasse Volksschule, sagt: "Nein, die Sonne kann nicht lachen und nicht weinen. Sie hat keine Gefühle." Stimmt, sie hat keine Gefühle, es sind meine, die ich hineinlege oder nicht und sie bestimmen mein Bild von den Dingen. Ob ich nicht warten möchte, das ist mein Gefühl, mit dem ich mein Leben beschreibe, ob ich Sonne, Mond und Sterne Gefühle haben lasse, darüber bestimme auch ich.

 

 

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Letztes Update dieser Seite am  12.09.2001 um 13:26