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Gedanken für den Tag
Montag, 20.11. bis Samstag, 25.11.2000, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1

"Die Geheimnisse werfen noch Schatten"
Zum 80. Geburtstag von Paul Celan

I "Menschen und Bücher"

"Es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten" – das sagte Paul Celan, einer der größten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts, über seine Heimatstadt Czernowitz. Bücher nicht als tote Gegenstände, als Demonstration von Belesenheit und Bildung oder als Wohnzimmerschmuck, sondern als lebendiges Gegenüber – was das bedeuten kann, habe ich während meiner zweijährigen Arbeit in der Sowjetunion erfahren, wo sich Menschen eine Nacht lang für ein besonderes Buch anstellten und bei meinen Freunden die in zwei Reihen aufgestellten Bücher aus den Regalen quollen. Bücher waren das Überlebenspotential und die Quelle von Individualität.

Eine Gegend, in der Menschen und Bücher leben – so eine Gegend habe ich auch in einem andern Teil von Celans Heimat Rumänien gefunden, in Siebenbürgen. Dort hat eine Frau bei der Scheidung ihrer Ehe nicht Wertsachen oder Sparbücher außer Haus gebracht, sondern sie hat ihre wichtigsten Bücher im Rucksack fortgetragen. Denn diese Bücher machen ihr Leben aus; mit ihnen ist sie die geworden, die sie ist. Sie gehören zu ihr wie die Menschen, mit denen sie lebt.

"Eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten" - Bücher hinterlassen Spuren und sie tragen die Spuren dessen, der sie liest und mit ihnen lebt. Sie gehören zu einem Menschen, darum werden Namen und Widmungen in sie hineingeschrieben. Und sie gehören zum Menschsein.

II "Cello-Einsatz von hinter dem Schmerz"

Paul Celan, der in Rumänien geborene deutschsprachige jüdische Dichter mit altösterreichischem Familienhintergrund, ist von der Geschichte des 20. Jahrhunderts in ein mehrfaches Exil getrieben worden. Die Nazis haben seine Eltern ermordet, die Sowjets ihm die Heimat genommen. Als sein Czernowitz sowjetisch wurde, übersiedelte er nach Bukarest. Als Rumänien zur Volksrepublik und die Literatur der Zensur unterworfen wurde, floh er unter lebensgefährlichen Umständen nach Wien; eine Bleibe fand er hier nicht. Ab 1948 lebte Paul Celan in Paris. Aber sein Leben konnte keinen dauerhaften Halt mehr finden; die Jugenderfahrungen von Verlust und Verfolgung waren stärker. Drei Monate vor seinem Tod schrieb Paul Celan an einen alten Freund in Czernowitz: "Ich habe in meinen Gedichten ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser unserer Zeit eingebracht. So paradox das auch klingen mag: gerade das hält mich auch." In vielen Gedichten Celans leuchten unmittelbare Bilder der schmerzhaften Erfahrungen ihres Autors auf. Manchmal können Trauer und Schmerz auch durchsichtig werden auf eine Hoffnung hin, die über Trauer und Schmerz hinausweist.

"CELLO-EINSATZ / von hinter dem Schmerz" – so beginnt eines dieser Gedichte, das mir besonders kostbar ist, weil es so selbstverständlich davon ausgeht, dass es einen Ort hinter dem Schmerz gibt - aber ihn nicht benennt. Denn allzu oft ist man hier mit Kategorien bei der Hand, mit Transzendenzen, die von Institutionen und Ideologien vereinnahmt worden sind.

"Cello-Einsatz / von hinter dem Schmerz", schreibt Celan lapidar. Darin liegt die Intensität seiner Dichtung. Und darum kann sie ein Trost sein, wo billige Tröstungen oder kluge Gedanken nicht weiterhelfen.

III Das Geheimnis

Die Gedichte von Paul Celan gelten als dunkel und schwierig. Sie sind aber keine Rätsel, mit denen sich ein elitärer Dichter ein auserlesenes Publikum schaffen will, sondern Bilder, die aus Erfahrungen gewachsen sind und gerade darum einen Rest von Geheimnis bewahren.

Persönliche wie politische Erfahrungen sind den Gedichten von Paul Celan eingeschrieben. Seine Lebensgeschichte spiegelt die traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: die Ermordung der Eltern, Verfolgung, Zwangsarbeit, Exil. "Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte", schrieb Celan an einen Freund in seiner Geburtsstadt Czernowitz. Aber die Existenz und die traumatischen Erfahrungen Celans werden verschlüsselt ausgedrückt, die Gedichte widersetzen sich dem schnellen Zugriff. Man kann ihnen nur näher kommen, wenn man auch ihre Fremdheit akzeptiert, die sich nicht durch Erklärungen auflösen lässt. Der Schriftsteller Erhard Kästner sagte von Celans Gedichten: "Rätselworte, Schlüsselworte: man wird sich wohl hüten, sie aufzulösen, weil sie dann sofort ihr Geheimnis verlören."

Bei geduldigem Lesen können die Gedichte Paul Celans zu einer Einübung in das Geheimnis werden: das Geheimnis eines Wortes, eines Bildes und vor allem in das Geheimnis eines Menschen. Der Anfang eines Celan-Gedichtes spricht von der Wichtigkeit der Geheimnisse im Leben:

ES IST ALLES ANDERS, als du es dir denkst, als ich es mir denke,
die Fahne weht noch,
die kleinen Geheimnisse sind noch bei sich,
sie werfen noch Schatten, davon
lebst du leb ich, leben wir.

IV Jude sein nach der Shoah

Heute wäre der Dichter Paul Celan 80 Jahre alt geworden. Aber er hat nicht einmal seinen 50. Geburtstag erlebt. Er ist in der Seine ertrunken, und es gibt keine andere Erklärung dafür, als dass er diesen Tod selbst gesucht hat. Wie Jean Améry oder Primo Levi ist auch Paul Celan einer von denen, die das Überleben nicht überlebt haben. Zeit seines Lebens hat er darunter gelitten, dass seine Eltern in einem Konzentrationslager ermordet wurden und er sie nicht retten konnte. Totengedächtnis durchzieht seine Lyrik – bis hinein selbst noch in die Liebesgedichte.

Und dazu kam für Paul Celan die existenzielle Frage: Kann man als Jude nach dem Holocaust noch Gedichte in deutscher Sprache schreiben. Die Muttersprache war zugleich die Mördersprache geworden. Celans frühes Gedicht "Nähe der Gräber" endet mit einer Frage an die tote Mutter:

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,
den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?

Paul Celan ist bei seiner deutschen Muttersprache geblieben und hat in dieser Sprache den ermordeten Juden das bedeutendste poetische Denkmal gesetzt: die "Todesfuge", ein Jahrhundert-Gedicht, mit dem er berühmt wurde. Celan musste freilich erleben, dass die Musikalität, die die Variation der bedrängenden KZ-Bilder in der "Todesfuge" zusammenhält, noch immer als "schön" erlebt und konsumiert werden konnte. Also schrieb er knappere, reduzierte und verdunkelte Gedichte, die oft mit seinen Erfahrungen als Jude zu tun haben. "Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch, auch heute, auch hier" – an diesem Satz in Celans Prosatext "Gespräch im Gebirg" ist mir als junger Mann zum ersten Mal aufgegangen, was es heißen kann, nach Auschwitz als Jude zu leben.

Diese Erfahrung hat Paul Celan befähigt, die Situation der Ohnmächtigen, der Opfer im Gedicht zur Sprache zu bringen. In den folgenden Zeilen hat Celan ein Bild dafür gefunden:

MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, unverschwiegenem, strahlendem Bund.

V Religion

"Ich hoffe, bis zuletzt lästern zu können" – diesen Satz hat der Lyriker Paul Celan in seinem Notizbuch festgehalten. Er hatte ihn im Gespräch mit der Dichterin Nelly Sachs geäußert. "Ich bin ja gläubig", soll Nelly Sachs zu Celan gesagt haben, als sie sich im Mai 1960 erstmals in Zürich trafen. Darauf antwortete Celan mit seiner Hoffnung, bis zuletzt lästern zu können.

Paul Celan war in seiner Geburtsstadt Czernowitz nach jüdischer Tradition erzogen wurden und feierte als Dreizehnjähriger seine Bar-Mizwa, mit der er Vollmitglied der jüdischen Gemeinde wurde. Aber danach hat er nie wieder einen Gottesdienst besucht. Das hing zunächst wohl mit dem Verhältnis zu seinem Vater zusammen und mit dem Zwang, der mit seiner jüdischen Erziehung verbunden war. Später hat sich Celan durchaus mit der jüdischen Religion beschäftigt – vor allem in den fünfziger Jahren, um sich über seine eigene Identität klarer zu werden. Auch Spuren christlicher Mystik finden sich in seiner Lyrik, und Franziskus hat er sehr verehrt. Doch er blieb bei seiner Absage an die jüdisch-christliche Gottesvorstellung. Das Gedicht "Es war Erde in ihnen" formuliert am deutlichsten den Grund, wenn es von den toten Juden heißt:

Und sie lobten nicht Gott
der, so hörten sie, alles die wollte,
der, so hörten sie, alles dies wußte.

Nicht selten knüpfen Gedichte Celans an Bibelstellen an, aber die biblische Überlieferung blieb für ihn nach der Shoah ein "Leertext", ein "glühender Leertext" freilich, wie es in einem der Gedichte aus dem Nachlass heißt.

"Ich hoffe, bis zuletzt lästern zu können" – das kann heißen: Ich hoffe, mich keinem Glauben, keiner Religion zu ergeben. Es kann aber auch bedeuten: Ich möchte die religiösen Fragen nicht aufgeben, nicht in Gleichgültigkeit verfallen. Die religiöse Tradition erweist ihre Kraft gerade auch im Widerspruch, den sie herausfordert.

VI Begegnung

Der Dichter Paul Celan bekannte einmal, er sei kein Freund der Vergesellschaftung des Innenlebens. Ihm ging es um das Individuelle, Persönliche. Er suchte die Begegnung – auch und gerade im Gedicht. Ein Gedicht konnte für ihn, wie er es ausdrückte, "eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken Glauben, irgendwo an Land gespült zu werden, an Herzland vielleicht".

Das Gedicht war für Celan Gespräch – oft auch ein verzweifeltes Gespräch. Und es war eine intensive Suche nach Wirklichkeit. Als Gründe für sein Dichten nannte er einmal: "um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen."

Dichtung, nicht nur die von Paul Celan, ist noch immer eine der besten Möglichkeiten, um herauszufinden, wer man ist und wer man sein möchte, um die eigene Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zu entwickeln und eine eigene Sprache zu finden. Nicht jeder Mensch ist ein Dichter, und doch steht er vor derselben Alternative: eine eigene Sprache zu finden oder zu verstummen. Und Verstummen führt in die Depression oder in die Gewalt.

Einem Gedicht zu begegnen, kann ein Auslöser sein, den eigenen inneren Bildern zu trauen und Worte für sie zu finden. Vor allem, wenn dieses Gedicht eine Flaschenpost ist, die an Herzland gespült wird und das eigene Herz in Bewegung setzt.

 

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Letztes Update dieser Seite am  22.11.2000 um 13:39