Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1
von Christiane Koch
Montag, 12.2.2001
Gerade jetzt in der kalten Jahreszeit kann man einen völlig
unscheinbaren, alltäglichen Moment mit besonderer Intensität
erleben: nämlich den, wenn man am Morgen aus der Haustüre
tritt. Von einem Augenblick zum nächsten umfängt mich nicht
mehr die wohlige Wärme und der gewohnte Geruch, sondern
der kalte Wintermorgen, der mich hautnah mit der Realität des
neuen Tages konfrontiert. Ob ich das Erfrischende und
Belebende dieses Augenblicks genieße, oder erschreckt den
Kragen hochstelle und den Schal enger ziehe – es ist ein
Moment der mich einlädt. Einlädt dazu, für Sekunden
innezuhalten und zu erleben, was eben zu erleben ist: Den
Schritt heraus aus der privaten Umgebung hinein in das,
was auch immer mich erwartet: der Arbeitsalltag mit all
seinen Anforderungen oder seiner langweiligen Routine,
der Supermarkt, der Stadtbummel oder die obligatorische
Runde um den Häuserblock ... Es ist interessant zu
beobachten, welch unterschiedliches Erleben sich mit
diesem Schritt heraus aus der kleinen Welt der eigenen
4 Wände verbindet. Er kann befreiend oder bedrückend
sein, voller Tatendrang oder ein wenig schleppend, von
einem Seufzen oder einem Aufatmen begleitet und er ist
heute so und morgen anders. Jeden Tag aufs Neue kann
ich diesen Moment im Eingang wahrnehmen und mich mit
ihm anfreunden.
Es mag banal erscheinen, ein so gewöhnliches Tun, wie
das allmorgendliche Aus-dem-Haus-Gehen anzusprechen.
Und doch lässt so ein bewusst erlebter Moment Wachheit
und Lebendigkeit spüren. Es ist ein Augenblick
Wahrhaftigkeit, der wie ein Segen am Beginn eines Tages
steht.
Dienstag, 13.2.2001
Ich wohne im 7. Stock eines 10-stöckigen Hochhauses. In
unserem Haus findet eine breite Palette an
unterschiedlichen Altersstufen, Nationalitäten und
Lebenssituationen. Da das Haus nicht gerade im besten
Zustand ist, kommt es hin und wieder vor, dass der Lift
ausfällt und ich nur zu Fuß in den siebten Stock gelange.
Bei aller Mühe ist dieser Weg vorbei an den einzelnen
Wohnungstüren, auch immer wieder interessant. Denn die
ganze Buntheit der Hausbewohner lässt sich an den
Wohnungseingängen erkennen. Da sind die geschmückten
Wohnungstüren, die zum Teil auf berührende Art auf die
Nationalität der Bewohner schließen lassen; da sind jene
Eingänge, an denen man nur akrobatisch vorkommt, da
Kinderwagen, Dreirad Gummistiefel und sonstige Dinge,
die in der viel zu kleinen Wohnung keinen Platz haben
eben im Eingang stehen; da sind die vergoldeten Türgriffe
und Namensschilder offensichtlich gut Situierter neben dem
Eingang mit dem Aufkleber ‚es ist zum Kotzen ...’; und da
sind die Türen der Single-Wohnungen, auf denen sich nichts
als ein Nachname findet, flüchtig befestigt – Vorläufigkeit
andeutend.
Wie am Wintermorgen, wenn ich aus der warmen Wohnung
in die Kälte trete, wird mir auch jedes Mal wenn ich
aufmerksam durch unser Stiegenhaus gehe bewusst –
Eingänge sind besondere Orte. An ihnen verdichtet sich das
Leben auf ganz eigene Art. Sie tragen Spuren des Heimwehs
und erzählen von der Sehnsucht der Menschen nach Wärme
und Glück.
Ich frage mich, ob es auch damit zu tun hat, dass Jesus im
Neuen Testament einmal von sich sagt: "Ich bin die Tür ..."?
Mittwoch, 14.2.2001
Es gibt Tage, an denen der Schritt durch die Haustüre
mühsamer ist als sonst. Das mag unterschiedliche Gründe
haben. Manchmal liegt es wohl auch daran, dass das Gepäck
zu schwer ist, dass ich zu viel mit mir tragen – in der Tasche
und im Herzen.
Wie immer, wenn ich mich allmorgendlich auf den Weg mache,
greife ich nach meiner Tasche, in der sich die gewichtigsten
Dinge – allen voran der Terminkalender – befinden. Und
plötzlich erinnert mich diese Tasche an all das, was mir heute,
morgen, übermorgen und in diesem Monat noch bevorsteht. Es
ist ein ganzer Vorrat an unerledigten Aufgaben, an offenen
Fragen und Schwierigkeiten; ein Vorrat an Sorgen, an
Bedrückendem und Unsicherheit. Mit diesem Gepäck steht es
sich schwer im Eingang.
Nicht immer, aber manchmal an solchen Tagen erinnere ich
mich dann an einen Tipp aus der Bibel: Als das Volk Israel 40
Jahre durch die Wüste zog, gab es viele Tage, an denen der
Weg unabsehbar und der Aufbruch am Morgen schwer war; und
einmal, so berichtet das Alte Testament, standen die Israeliten
im Eingang ihrer Zelte und jammerten. Es war wohl jener erste
Schritt des Aufbruchs, den ich zuvor meinte, der sie die ganze
Schwere des Weges mit einem Mal spüren ließ. Und Mose teilte
dem Volk folgende Worte Gottes mit: Schaut nur auf diesen
einen Tag, schaut nicht auf Morgen oder Übermorgen, kümmert
euch nur um heute. Lasst eure Vorräte zurück, sie sind zu schwer;
reist mit leichtem Gepäck; nehmt nur mit, was ihr heute braucht
und lebt diesen Tag gut.
Wenn mir diese Worte einfallen, stelle ich meine Tasche in
Gedanken nochmals ab und versuche die Vorräte an Sorgen im
Eingang zurückzulassen – mal sehen, vielleicht kommt ja ein Dieb ...
Donnerstag, 15.2.2001
Die Eingänge unserer Häuser und Wohnungen sind besondere
Orte. Das wird auch dann deutlich, wenn Menschen in unserem
Eingang stehen. Während meiner Studienjahre in Innsbruck hatte
ich eine gute Freundin, die mich des Öfteren besucht hat. Wir
haben so manchen Nachmittag miteinander verbracht, lernten
gemeinsam, hatten Ideen, tauschten Freud und Leid aus. Doch
mehr als einmal kam es so, dass die wichtigsten und tiefsten
Dinge erst zur Sprache kamen, als wir uns verabschiedeten. Uns
so standen wir denn oft lange – sie schwitzend, bereits in Anorak
und Schal – ich frierend im Pullover in der offenen Tür und beide
spürten wir die Bedeutung dieser ausgedehnten
Abschiedszeremonie. Eingänge sind Orte des Abschieds.
Vielfältig sind die Abschiede, die hier geschehen und jeder
davon – sei er alltäglich oder besonders – hat als Moment
ungeteilter Aufmerksamkeit zwischen Menschen Bedeutung
und Wert.
Eingänge sind aber auch Orte des Wiedersehens und des
Begrüßens. Hier geschieht der erste Augenblick einer
Begegnung, ein Händedruck oder eine Umarmung, manchmal
lange herbeigesehnt und erwartet, manchmal überraschend und
vielleicht völlig unpassend.
Meine kleine Nichte liebt es, wenn sie nach Hause kommt, zu
läuten, auch wenn die Türe längst offen ist. Sie möchte
empfangen werden und zwar im Eingang. Intuitiv hat sie die
Besonderheit dieses Ortes, an dem Menschen begrüßt
werden, erkannt. Wenn sie läutet wird nicht nebenbei und
mitten im Geschehen registriert, dass sie wieder da ist – im
Eingang gibt es jenen einen Augenblick, der nur ihr gehört.
Eingänge sind besondere Orte mitten im Alltag. Sie laden
dazu ein, Momente des Abschieds und des Wiedersehens
miteinander zu leben.
Freitag, 16.2.2001
Nicht immer stehen Menschen im Eingang, auf die ich warte,
oder über die ich mich freue. Manchmal läuten auch
unerwünschte Besucher an meiner Tür. Aus diesem Grund
haben viele Eingangstüren so genannte ‚Spione’ –
eingebaute Vergrößerungslinsen, durch die ein vor der Tür
stehender Mensch sichtbar ist. Diese Spione geben die
Möglichkeit, unbemerkt zu bleiben und von Fall zu Fall zu
entscheiden, ob ich die Türe öffne oder nicht.
Ein unbekanntes Gesicht – was kann der Menschen von mir
wollen; zum x-ten Mal läuten die zwei Frauen, die mir mit der
Bibel in der Hand den nahen Weltuntergang ankündigen und
sich nicht und nicht abwimmeln lassen; es kommt auch immer
wieder vor, dass ausländische Frauen und Männer
Handarbeiten oder irgendwelche Gegenstände an der
Haustüre verkaufen wollen – wer weiß ob die Geschichten,
die sie mir erzählen, überhaupt stimmen; oder wiedereinmal
der Bekannte, der über die Trennung von seiner Familie nicht
hinwegkommt und die ungewohnte Einsamkeit nicht erträgt ...
Unerwünschte Besucher in meinem Eingang – und ich,
unfreiwillig bereits involviert, vor der Frage: Bin ich da? Öffne
ich die Türe? Auch das sind Eingangssituationen.
Es geht mir hier nicht darum, Verhaltensweisen zu bewerten.
Wir leben in einer Zeit, die allen viel abverlangt und in einer
Welt, in der Erschreckendes und Beängstigendes geschieht;
und manchmal ist es wohl berechtigt, dass eine Türe zu bleibt.
Trotzdem scheint es mir wichtig, auch solche Situationen nicht
einfach zu übergehen – wie auch immer ich mich verhalten
habe. Denn unbemerkt geraten Menschen in Vergessenheit;
und: Die Linse im Tür-Spion vergrößert und verzerrt nicht nur
das Gesicht vor der Tür, sondern auch meine Angst.
Samstag, 17.2.2001
In der biblischen Weisheitsliteratur sind Schriften
zusammengefasst, die in einer Zeit großer kultureller und
weltanschaulicher Veränderungen entstanden sind. Als das
griechische Denken im Vorderen Orient Fuß zu fassen beginnt,
wird auf völlig neue Art, und mit ungewohnten Begriffen über
Gott und über das Leben nachgedacht.
Ein zentrales Stichwort, das den Schriften aus dieser Zeit auch
den Namen gibt, ist die ‚Weisheit’. Weisheit steht hier
zunächst
einmal für das Leben selbst; für die Fülle an Lebendigkeit, die,
aus Gott geboren, in jedem Menschen wohnt. Weisheit findet
sich in diesen Schriften aber auch mit göttlichen Attributen
versehen und an nicht wenigen Stellen, fragt man sich, ob
damit nicht Gott selbst gemeint ist.
Der Grund für diesen kleinen Exkurs, ist der, dass ich an den
Schluss meines Nachdenkens über Eingänge und
Eingangssituationen, ein Wort aus ebendieser biblischen
Weisheitsliteratur stellen möchte. Da heißt es nämlich einmal:
Die Weisheit sitzt an der Türe. Oder anders gesagt: Der
Eingang ist ein Ort der Weisheit. Das bedeutet nichts
anderes, als dass im Eingang das Leben wartet und dass ich
im alltäglichen Aus- und Eingehen, im Abschied und im
Wiedersehen, ja selbst in der Unsicherheit und in der Angst vor
Fremden an meiner Tür dem Leben in seiner ganzen,
schillernden Buntheit begegnen kann. Und die Begegnung mit
dem Leben vermag die eigene, oftmals schlummernde
Lebenskraft zu wecken. Mit dem Eingang als einem Ort der
Weisheit verbindet sich aber noch etwas. Denn die Weisheit
steht, wie gesagt, nicht zuletzt auch für Gott selbst. Der
Eingang als Ort des Lebens – also auch ein Ort Gottes ...? –
Ich denke, ja. Denn wo immer Menschen sich selbst und
andere wahr-nehmen, wo immer Lebendigkeit Ausdruck findet
und Wahrhaftigkeit Raum bekommt, gilt das Wort Jakobs aus
dem Buch Genesis: "Hier ist Ort Gottes, und ich wusste es nicht ...".
Letztes Update dieser Seite am 13.02.2001 um 10:32