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Gedanken für den Tag
Montag bis Samstag, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr, Radio Österreich 1

Cornelius Hell über John Henry Newman
"Leben heißt sich wandeln"

Montag, 19.2.2001
"Ich selbst und mein Schöpfer"

Im England des 19. Jahrhunderts hat die industrielle 
Revolution ihren Ausgang genommen; hier wurden die 
ersten mechanischen Webstühle gebaut, hier fuhren die 
ersten Eisenbahnen. In diese Zeit wurde John Henry 
Newman hineingeboren. Er kam aus dem Großbürgertum 
und genoss eine fundierte Bildung in einer Internatsschule. 
Dort musste er als Fünfzehnjähriger den Sommer über 
bleiben, während die Familie nach einem Konkurs des 
Vaters in bescheidenere Verhältnisse umzog. Unter dem 
Einfluss eines jungen anglikanischen Priesters stieß er auf 
theologische Literatur und hatte ein einschneidendes 
Erlebnis, das ihn lebenslang prägte. Er spürte die 
Gewissheit – so formulierte er später – das es zwei und 
nur zwei Wesen gebe, die absolut und von einleuchtender 
Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer.

Diese Unmittelbarkeit gegenüber Gott und das 
Ernstnehmen der eigenen Person und des konkreten 
Lebens mit seinen Herausforderungen prägten seine 
Religiosität. Unter seinen Schriften finden sich viele 
autobiographische Aufzeichnungen, die er mehrmals 
überarbeitete. Rechenschaft über das eigene Leben – 
sich selbst, den Menschen und Gott gegenüber – war 
ihm wichtig. Und sein Leben sollte alles andere als 
einfach werden. Zunächst freilich machte er eine steile 
Kariere: Mit 15 Jahren trat er in das Trinity College in 
Oxford ein, mit 21 war er bereits Universitätslehrer, mit 
24 Jahren wurde er zum Priester der Church of England 
geweiht und drei Jahre später war er Vikar der 
Universitätskirche von Oxford, dem geistigen Zentrum der 
anglikanischen Kirche. Aber aus dem anglikanischen 
Priester sollte ein katholischer Kardinal werden. Bis dahin 
war es freilich ein weiter Weg. Newmans Leben, das fast 
das ganze 19. Jahrhundert umfasst, weist viele 
Wandlungen auf. Der Brennpunkt seiner Religiosität aber 
blieb unverändert: "Ich selbst und mein Schöpfer."

 

Dienstag, 20.2.2001
"Ich habe nicht gegen das Licht gesündigt"

John Henry Newman, eine der großen religiösen 
Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, hatte lebenslang 
ein großes Talent für Freundschaften. 1832/33 unternahm 
er mit Freunden eine Mittelmeerreise, auf der er 
lebensgefährlich erkrankte. Er spürte aber, er werde am 
Leben bleiben und sagte "Ich werde nicht sterben, denn 
ich habe nicht gegen das Licht gesündigt." Später fügte er 
hinzu: "Was ich damit meinte, konnte ich nie ganz erklären."

Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses schrieb Newman 
auf der Weiterreise zahlreiche Briefe und Gedichte. Das 
bekannteste von ihnen, das er zwischen Palermo und 
Marseille geschrieben hat, wird auch heute noch gerne 
gebetet und gesungen

Aus diesem Gedicht spricht das Faszinierende an 
Newmans Religiosität, die das Leben nicht verdunkelt, 
sondern erleuchtet. Er sprach oft von "providence", von 
einer göttlichen Vorsehung und Vorsorge, von der er sich 
durch die wechselnden Stationen seines Lebens 
getragen wusste.

Das vor allem besticht an John Henry Newman: dass es 
nicht darum geht, etwas zu werden oder zu erreichen, 
sondern das entscheidende Licht in seinem Leben nicht 
zu verlieren.

 

Mittwoch, 21.2.2001
"Anwalt des Gewissens"

Heute vor 200 Jahren wurde John Henry Newman in 
London geboren. Er gilt noch immer als der große 
Anwalt des menschlichen Gewissens. Nicht die Natur, 
das Gewissen war für Newman der entscheidende Ort 
der Gotteserfahrung:

"Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi, 
ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner 
Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und 
Bannflüchen. Selbst wenn das ewige Priestertum der 
Kirche aufhören könnte zu existieren, würde im Gewissen 
das priesterliche Prinzip fortbestehen und seine Herrschaft 
ausüben."

Newman selbst fühlte sich im Gewissen verpflichtet, die 
verbürgerlichte anglikanische Staatskirche seiner Zeit zu 
verlassen und in die katholische Kirche einzutreten; das 
Studium der Kirchenväter und der Anfänge des Christentums 
hat ihn dazu gebracht. Aber als Katholik sagte er dann:

"Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem 
Essen ein Hoch auf die Religion anzubringen (was freilich 
nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich 
trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das 
Gewissen und dann erst auf den Papst."

Bei John Henry Newman kann man deutlich sehen, was 
zu einer Gewissensentscheidung gehört: eine lange 
Phase der Prüfung und des Nachdenkens, keine Angst 
vor Einsamkeit und klare Konsequenzen. Das Gewissen 
kann man nicht delegieren: weder an den Zeitgeist noch 
an Autoritäten und Vorgesetzte – auch nicht an kirchliche. 
Und das Gewissen taugt nicht als Ausrede, wenn man 
sonst keine Argumente hat. Der Blick auf John Henry 
Newman zeigt: Das Gewissen bildet sich im Nachdenken, 
und es kann seine Argumente vorbringen.

 

Donnerstag, 22.2.2001

Sehr bestimmt und entschieden konnte John Henry 
Newman, der große englische Theologe des 
19. Jahrhunderts, sein, wenn es ihm um die Wahrheit 
ging. Aber Zeit seines Lebens war er ein musischer 
Mensch – und vielleicht gerade deswegen ganz und gar 
kein Fanatiker. Von Kind an spielte er Violine. Einmal, 
als er schon außer Übung war, spielte er so viel, dass er 
sich die zerschnittenen Finger mit Heftpflaster verkleben 
musste.

Als Newman zur katholischen Kirche übertrat, war er 
dadurch von seiner Familie isoliert. Seine Schwester, 
mit der er so oft zusammen musiziert hatte, sollte er 22 
Jahre nicht wiedersehen. Für dieses Wiedersehen lieh 
er sich dann alle Beethoven-Sonaten für Violine und 
Klavier aus, um sie endlich wieder mit ihr zu spielen. 
Später hat er ihr geschrieben, wie sehr er gerade an 
der A-Moll-Sonate hing. Im Brief an einen Freund hat 
John Henry Newman besonders eindrücklich 
festgehalten, was ihm die Musik bedeutete:

"Ich glaube wirklich, die Geige wird meine Arbeitskraft 
vermehren und mein Leben verlängern. Ich schrieb nie 
mehr, als wenn ich die Geige spielte. Nach Musik schlafe 
ich stets besser. Es muss einen elektrischen Strom geben, 
der von den Saiten durch die Finger in das Gehirn geht 
und das Rückenmark hinunter. Vielleicht ist Denken Musik."

John Henry Newman war einer der bedeutendsten 
theologischen Denker seiner Zeit. Aus der katholischen 
Kirche des 19. Jahrhunderts, die sich in einem sehr fixen 
Denksystem und Lebensmuster gegen die moderne Zeit 
verbarrikadiert hatte, hebt sich Newman mit seiner 
entschiedenen Offenheit und mit der Reflexion des eigenen 
Lebens deutlich heraus. Und er dachte über die Nähe des 
Menschen zu Gott nicht nur nach, sondern drückte sie aus in 
Dichtung und Musik. Bei Newman kann man sehen, wie es 
möglich ist, feste Überzeugungen zu haben und gleichzeitig 
das Leben in seiner Vielfalt ernst zu nehmen – das eigene 
wie das der Mitmenschen. Literatur und Musik sind dafür 
wichtige Begleiter.

 

Freitag, 23.2.2001
"Misserfolg, Intrige, Depression"

Durch den Übertritt von der anglikanischen in die 
katholische Kirche war John Henry Newman persönlich 
und gesellschaftlich in ein Niemandsland geraten. Katholisch 
sein – das bedeutete im England des 19. Jahrhunderts: einer 
ungebildeten und verachteten Minderheit angehören. Newman 
wollte dazu beitragen, die englischen Katholiken aus ihrem 
geistigen Ghetto herauszuführen und ihnen 
Bildungsmöglichkeiten zu verschaffen. Er trat für einen 
gebildeten Laienstand ein, der seinen Glauben auch 
intellektuell verteidigen und seine Erfahrungen in die Kirche 
einbringen konnte. Aber wegen seines Artikels "Zeugnis der 
Laien in Sachen der Glaubenslehre" wurde er in Rom 
angezeigt. Gleichzeitig wurde er von anglikanischer Seite 
öffentlich der Unaufrichtigkeit in bezug auf seine Bekehrung 
verdächtigt. Er antwortete mit einem Buch, mit seiner 
"Apologia pro vita sua", einem noch heute faszinierenden 
Werk religiöser Autobiographie.

Oft hatte Newman das Gefühl, in der katholischen Kirche 
überflüssig zu sein und lebte zurückgezogen. In einem Brief 
hatte er den Mut, seine Verzweiflung und seine Depression 
einzugestehen:

"Heute morgen beim Aufwachen überfiel mich die 
Empfindung, nur den Platz zu versperren, so stark, dass ich 
mich nicht dazu bringen konnte, unter meine Brause zu 
gehen. Ich sagte mir, was nützt es denn, seine Kraft zu 
erhalten oder zu vermehren, wenn nichts dabei 
herauskommt. Wozu für nichts leben?"

John Henry Newman überspielte die Rückschläge und 
Enttäuschungen nicht, und auch nicht das Leiden an der 
eigenen Kirche; für den Machtmissbrauch in der Kirche hatte 
er ein waches Gespür. An der Richtigkeit seiner 
Gewissensentscheidung, sich der katholischen Kirche 
anzuschließen, zweifelte er dennoch nie. Auch das kann man 
heute noch von ihm lernen: Die Richtigkeit einer Entscheidung 
hängt nicht immer davon ab, ob man sich wohlfühlt. Aber die 
Missstände, an denen man leidet, sollte man aussprechen – 
und wo sonst wäre der Ort dafür, wenn nicht in der eigenen 
Religionsgemeinschaft.

 

Samstag, 24.2.2001
"Leben heißt sich wandeln"

Aus der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts ragt der 
offene Geist John Henry Newmans deutlich heraus. Er 
reflektierte nicht nur abstrakte, unwandelbare religiöse 
Wahrheiten, sondern immer auch sein eigenes Leben. 
"Leben heißt sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich 
oft gewandelt haben", schrieb er einmal.

Am Ende seines Lebens war es ihm vergönnt, viele Früchte 
seiner Bemühungen zu ernten. 1877 wurde er als erster 
Katholik Ehrenfellow des Trinity College in Oxford. Der alte 
Mann freute sich wie ein Kind, dass er wieder nach Oxford, 
an die Wirkungsstätte seiner Jugend kommen konnte; aber 
vor allem auch darüber, dass der schmerzliche Riss, der 
durch seine Konversion zur katholischen Kirche entstanden 
war, dadurch geheilt wurde. Er hat sich Zeit seines Lebens 
dazu bekannt, dass er der anglikanischen Kirche, die er 
verlassen hatte, sehr viel verdankte.

1879 wurde John Henry Newman von Papst Leo XIII. zum 
Kardinal ernannt. Damit waren auch die Angriffe und das 
Misstrauen in der katholischen Kirche gegen ihn vorbei. 
Newman war in beiden Kirchen rehabilitiert, und das Ansehen 
der Katholiken in England hat sich gerade durch ihn deutlich 
verbessert.

Als er 1890 starb, schrieb die Londoner Times: "Ob Rom ihn 
heiligspricht oder nicht, er wird im Gedächtnis vieler 
Angehöriger verschiedener Glaubensbekenntnisse in England 
heiliggesprochen sein. Der Heilige und der Dichter in ihm 
werden überleben."

1958 hat die katholische Kirche den Prozess seiner 
Seligsprechung eröffnet. Offiziell heiliggesprochen ist John Henry 
Newman bis heute nicht. Aber als Anwalt des menschlichen 
Gewissens ist er anerkannt. Und vor allem ist er selbst ein 
lebendiger Zeuge dieses Gewissens – durch alle Wandlungen 
seines langen Lebens hindurch. Und gerade durch seine 
Gewissensentscheidung hat er erkannt, dass der Wandel zum 
Leben gehört.

 

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Letztes Update dieser Seite am  20.02.2001 um 11:15