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Morgengedanken
Sonntag, 6.05 Uhr - 6.08 Uhr, ORF Regionalradios
Montag bis Samstag, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

von Landessuperintendent Peter Karner

Sonntag, 17.6.2001
"Wenn meine Jünger schweigen, dann werden 
die Steine schreien!", hat Jesus seinen Kritikern 
gesagt. Und darum hat ein prophetischer Wiener 
Zettelpoet den folgenden Text auf die Mauer eines 
Hauses auf dem Wiener Graben gepickt:

Je mehr du auf dich selber hörst, umso näher 
kommst du dem Leben, das dir wirklich entspricht. 
Doch die, die dadurch reich werden, dass sie dir 
immer mehr einreden, sorgen mit vielen Dingen 
dafür, dass es schwer ist, nur auf sich selber zu hören.

Je mehr Dinge es gibt, die dich abhängig machen, 
umso verfügbarer bist du für die, die nicht wollen, 
dass du nur auf dich selber hörst. Denn wer nur auf 
sich selber hört, der misstraut allem, das ihn davon 
ablenkt, auf sich selber zu hören.

Und die, die verlernt haben, auf sich selber zu hören, 
merken nicht mehr, wie sehr ihr Leben denen gehört, 
die dafür sorgen, dass man verlernt, auf sich selber 
zu hören.

Und die, die verlernt haben, auf sich selber zu hören, 
verstehen nicht, wie man auf sich selber hören kann. 
Denn sie glauben, du bist so leer wie sie.

Die christliche Aufforderung "Geh in die Stille, geh in 
dich!", muss wohl auf die modernen 
Geräuschsüchtigen wie eine gefährliche Zumutung 
wirken. Und so mancher Zeitgenosse hat Angst, nach 
langer Zeit wieder seine Seele sprechen zu hören. Da 
kann man dann schon ganz schön erschrecken, wenn 
man hört, was für ein sinn-, liebe- und gottlüsternes 
Organ man da mit sich herumschleppt.

Und darum wäre es ein reizvolles Experiment, den 
täglichen Lärm, der die Seele wie ein Schutzschild 
umgibt, einmal stillzulegen. Aber die meisten 
Menschen haben wahrscheinlich doch viel zu viel 
Angst davor, nur mehr sich selbst zu hören.

Montag, 18.7.2001
Es war einmal ein guter Mensch, der freute sich 
seines Lebens. Da kam eine Mücke geflogen und 
setzte sich auf seine Hand, um von seinem Blut zu 
trinken. Der gute Mensch hat es gesehen und 
wusste, dass sie trinken wollte. Da dachte er: "Die 
arme kleine Mücke soll sich einmal satt trinken." 
Und er störte sie nicht. Da stach ihn die Mücke, 
trank sich satt und flog voller Dankbarkeit davon. Sie 
war so froh, dass sie es allen Mücken erzählte, wie 
gut der "gute Mensch" gewesen wäre, und wie gut 
sein gutes Blut geschmeckt hätte.

Da wurde der Himmel schwarz von Mücken, die 
alle den guten Menschen sehen und sein gutes Blut 
trinken wollten. Und sie stachen und stachen ihn und 
tranken und tranken, und wurden nicht einmal satt
weil sie viel zu viele waren. Der gute Mensch aber starb.

Dass diese Geschichte ein Gleichnis ist, merkt 
natürlich auch der unausgeschlafenste Zeitgenosse. 
Aber wofür - darüber lässt sich schon streiten. Idealisten 
wird dieses Gleichnis an ihr eigenes Leben erinnern, 
denn auch ihre Gutheit wird schamlos ausgenützt, und 
ihre Liebe missbraucht und ihre Großzügigkeit 
ausgebeutet.

Aber die Idealisten haben sich längst damit 
abgefunden, dass sie ein Opfer der blutrünstigen 
Mücken werden. Und fromme Leute könnten sich auch 
vorstellen, dass Jesus so ein aufopferungsbereiter 
Idealist war. Die Evangelien erzählen allerdings nicht, 
dass Jesus so ein "Gutmensch" gewesen ist, sondern 
berichten von einem selbstbewussten Mann, der den 
Ausbeutern mit Intelligenz, Zorn und Wehe-Rufen 
begegnet ist. Und darum sollten auch Sie sich in dieser 
Woche nichts gefallen lassen, wenn ihre "Mücken" 
kommen - und die stechenden Gfraster sind eh recht 
empfindlich.

Dienstag, 19.6.2001
Das wär‘ schön, wenn man sich einfach so geben 
könnte, wie man ist. Das wär‘ schön, wenn man 
einfach das G‘sicht machen könnte, wie einem zumute 
ist. Aber das erlauben sie einem kaum, die lieben 
Mitmenschen.

"Mama, du musst verstehen. Mama, du musst 
verzeihen, du musst verzichten, du musst alles 
schlucken. Aber gelt, du machst immer ein liebes 
Gesicht dazu." Wird sie sich wehren, die Mama? Oder 
wird sie die gewünschte Maske so lang tragen, bis sie 
ihr angewachsen ist?

Und der Vater, wird er die ihm zugedachte Rolle 
annehmen? Zum Besserwisser verurteilt, stark, 
männlich, überlegen, 24 Stunden ein Vorbild? Und die 
Kinderlein? Werden sie "Manderl-machen" lernen und 
apportieren und auf Wunsch das herzige Kindergsichterl 
dazu ?

Und die Chefs? Werden sie es tragen, das 
"Kompetenzantlitz"? - strotzend vor Sachkenntnis, auch 
wenn sie gerade ihren nächsten Irrtum vorbereiten? Man - 
ager, aber Gott behüte, keine Menschen! Und die 
Angestellten? Werden sie sich Schwierigkeiten ersparen 
und das "Aber-gern-Herr-Chef-Gesicht" aufsetzen: Jene 
einzigartige Mischung aus "Wann‘s sein muss" und "Steig 
mir auf den Buckel". Und so ein Pfarrer? Der kriegt das 
Gesicht verpasst wie die Soutane oder den Talar: gütig, 
freundlich, immer interessiert. Zweifel hat er nie zu haben, 
Zeit hat er immer - und dazu der "Evangelimann-Blick", 
das nie erlahmende Dauerlächeln.

Und der Onkel Doktor? Ratlosigkeit passt nicht zu einem 
braungebrannten Antlitz. Arzt, du musst helfen, also 
schau gefälligst so aus. Jeder Blick eine begnadete 
Diagnose, jeder Augenaufschlag ein stummes 
Heilungsangebot.

Es wäre doch schön, diesen täglichen Maskenball zu 
beenden und sich so zu geben, wie man ist; und so zu 
schauen, wie man sich fühlt.

Mittwoch, 20.6.2001
Also, diese Geschichte hat mich nicht mehr 
losgelassen. Ich habe sie übrigens in einer alten 
Zeitung gefunden.

Zwei Stinktiere streiten sich, wer von beiden wohl 
am besten stinken kann. "Ich", sagt das eine, "ich 
stinke, dass es den Häusern die Dächer abhebt." 
"Ich", sagt das zweite, "ich stinke, dass es allen 
Tieren den Pelz umdreht." "Ach du", sagt das erste, 
"du riechst so angenehm, dass dich die Menschen 
bald zu einem Parfüm verarbeiten werden." "Und du 
erst", erwidert das zweite, "du duftest, dass sie dich 
demnächst statt Blumen in ihr Zimmer stellen werden." 
"Du solltest lieber ordentlich stinken, statt hier 
herumzustänkern". "Und du Stinkatores", könntest dir 
einmal die Nase putzen, damit du merkst, wie 
ekelhaft frisch du riechst." Und jedes Stinktier 
versucht, zur Bekräftigung seinen üblen Geruch zu 
verbreiten. Das eine, dass sich die Grashalme 
biegen. Das andere, dass sich der Wald blau zu 
färben beginnt. Schließlich stinkt es so gewaltig, 
dass beide nicht mehr merken, wer schrecklicher 
miachtelt.

Und daher beschließen sie: Der Erstbeste, der 
vorbeikommt, soll ihren Streit entscheiden. Aber es 
kommt niemand vorbei.

Diese Fabel hätte auch Jesus erzählen können. 
Denn die Welt ist voller Stinktiere, die gar nicht wissen, 
was für einen penetranten Gestank sie verbreiten. Und 
die es natürlich nie vor sich selbst zugeben würden, 
dass sie Stinktiere sind. Dazu gehören nicht nur die 
Politiker, die einander aggressiv beschimpfen und 
darauf warten, dass jemand vorbeikommt und ihren 
Streit entscheidet. Denn ihr Streit interessiert 
niemanden mehr. Dazu gehören vor allem die vielen 
Paare, die einander seit langem einen Wettkampf in 
üblen Disziplinen wie Lügen, Streiten und Verletzen 
liefern. Denn am gefährlichsten ist der Streit, den 
niemand mehr schlichten will.

Donnerstag, 21.6.2001
"Not lehrt beten", sagen die Leute. Dieser Satz klingt 
fast wie eine Drohung. Und meistens ist er auch so 
gemeint. Spätestens, wenn einem das Wasser bis 
zum Hals geht, fällt einem der Herrgott wieder ein. 
Jetzt wäre es schön, wenn es ihn geben würde. Jetzt 
mache ich einen Blitzbesuch im Himmel. Jetzt 
beweise, dass es dich gibt, Gott. Und hol mich 
heraus aus der Not, den Schwierigkeiten, der 
Predulje. Und wenn du mir wirklich hilfst, dann werde 
ich auch etwas tun. Ich werde mich "revanchieren".

"Not lehrt beten", sagen die Leute. Ob Gott Freude 
hat an solchen Gebeten ?

Ernest Hemingway erzählt eine Art religiöse 
Anekdote aus dem l. Weltkrieg: Ein Soldat liegt - fast 
verrückt vor Angst - in einem Schützengraben und betet: 
"Ach, lieber Herr Jesus, hilf mir raus, Christus, bitte. 
Wenn du mich vor dem Tod rettest, werde ich alles tun, 
was du verlangst. Bitte, bitte, hilf mir." Und dann war 
der Kampf vorüber. Und nichts war ihm passiert. Und 
am nächsten Abend war er schon so lustig wie früher. 
Und er hat sich bei Christus nicht "revanchiert".

"Not lehrt beten", sagen die Leute, aber Not ist kein 
guter Lehrmeister. Denn Not lehrt wohl rechtzeitig zu 
Kreuz zu kriechen. Not lehrt, an einen Gott zu beten, an 
den man gar nicht glaubt.

Not lehrt, Gott ein unheiliges Geschäft anzubieten. 
Not lehrt - unter Angst und Druck - alles zu versprechen. 
Und nach der Rettung nichts zu halten. Not lehrt, Gott wie 
ein "Dienstleistungsgewerbe" zu gebrauchen - aber sonst 
nichts.

Wer nur aus Not beten gelernt hat, wird es rasch wieder 
verlernen.

"Not lehrt beten", sagen die Leute, aber: Not ist ein 
schlechter Lehrmeister.

Freitag, 22.6.2001
Dem Sohn war es zu eng geworden zu Hause. 
Und eines Tages sagt er es dem Vater auch. 
Und der Vater lässt ihn gehen. Er sieht voraus, 
was kommen könnte, vielleicht auch kommen 
wird. Aber er lässt den Sohn gehen. Er hätte ihm 
gern vieles erspart: Enttäuschungen, Demütigungen, 
Tränen, Einsamkeit. Aber der Vater lässt den Sohn 
gehen. Er hätte ihm gern begreiflich gemacht, was 
er aufgibt. Das Elternhaus, eine gewisse Sicherheit. 
Aber der Vater lässt den Sohn gehen.

Sie kennen die Geschichte - so fängt ein bekanntes 
Gleichnis an, das Jesus einmal erzählt hat. Man fragt 
sich: Hat der Vater dieses verlorenen Sohnes nur 
Pech gehabt mit seinem Kind? Während unsere 
Kinder ja Gott sei dank nicht davon rennen - und zu 
Haus bleiben und glücklich sind. Oder? Bekanntlich 
endet das Gleichnis so, dass der ramponiert 
heimkehrende Sohn am Schluss einen 
verständnisvollen Vater findet. Aber, so fragt man 
sich weiter: Musste der Sohn vielleicht den Vater 
verlassen, um ihn wiederfinden zu können? Vielleicht 
musste er das warme Nest verlassen, um es 
schätzen zu lernen? Nur wenige tun das im 
buchstäblichen Sinn. Die Bequemeren, die Feigeren, 
die Vorsichtigeren tun es lieber nur in der Phantasie. 
Ihre Abenteuer spielen sich nur im Kopf ab. Ich gebe 
zu, ich stelle meine Überlegungen ganz vorsichtig an, 
weil ich ja auch ein Vater bin, der seinem Sohn alles 
Unangenehme eher ersparen will. Und trotzdem 
frage ich: Könnte es nicht sein, dass Eltern etwas 
Schlimmes anstellen, wenn sie ihren Kindern keine 
Möglichkeit geben, das abzulehnen, was sie ihnen 
anbieten? Denn die Kinder werden nicht 
heimkommen, wenn sie nicht weggehen. Sie 
werden nicht lieben können, wenn sie nicht frei 
geworden sind. Sie werden auch Gott nicht 
entdecken können, wenn sie ihn nicht geleugnet haben.

Bravsein und Unglücklichsein haben oft mehr 
miteinander zu tun, als uns lieb ist. Das hat schon 
Jesus gesagt.

Samstag, 23.6.2001
Kaum eine Gesellschaft kann ohne "heilige Kühe" 
leben. Und man akzeptiert das auch. Mit einer 
großen Ausnahme. Es gibt eine einzige 
Menschengruppe, die man verurteilt und manchmal 
sogar verspottet, weil sie heilige Kühe hat - das 
sind die Inder.

Es wäre jetzt sehr vordergründig zu sagen, die 
heilige Kuh der Österreicher sei "ein goldenes 
Kalb", der Mammon, das Geld. Nein, die bei uns 
gedeihenden heiligen Kühe sind eine Art 
"Spezialvieh": die heilige Kuh ist ein Tier, dem 
man aus ganzem Herzen zugetan ist; ist ein Tier, 
das man ehrfürchtig umkreist. Ihre Schlachtung 
wäre nach der Überzeugung ihrer Verehrer eine 
Katastrophe: und daher ihre Heiligkeit und 
Unantastbarkeit.

Und solche Kühe genießen in unserm Landen 
höchst gesichertes Dasein - und zwar in recht 
erklecklicher Anzahl. Sie meinen vielleicht, ich 
sollte jetzt endlich einige solcher heiligen Kühe 
beim Namen nennen? Ich denke gar nicht daran. 
Sie werden doch ihre heilige Kuh kennen, Herr 
Abgeordneter, Herr Direktor, Herr Professor, Frau 
Chefin. Sie werden doch ihr Kälbchen nicht 
vergessen haben, Herr Nachbar, Frau Nachbarin?

Ich weiß schon, dass es niemand gern hat, wenn 
man dem Gegenstand seiner Verehrung in 
aggressiver Weise allzu nahe tritt - ich habe 
schließlich selbst eine im Stall stehen, eine heilige 
Kuh.

Und trotzdem frage ich: "Gibt es denn keine 
Abhilfe gegen die Landplage heiliger Kühe?" 
Immerhin - vor langer Zeit - hat ein Mann namens 
Mose gezeigt, dass es nur eine radikale Lösung 
gibt. Er hat das goldene Kalb, um das sein Volk 
getanzt ist, einfach zerschlagen. Er wollte damit 
seine Landsleute von dem verhängnisvollen Tanz 
menschlicher Unfreiheit befreien. Aber wer lässt 
sich das schon gefallen? Auch wenn er schon 
längst geahnt hat: Wenn man der "heiligen Kuh" 
den Heiligenschein wegnimmt, dann bleibt ein 
ganz gewöhnliches Rindviech über.

 

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Letztes Update dieser Seite am  25.06.2001 um 14:32