Morgengedanken Morgengedanken Morgengedanken Morgengedanken

Morgengedanken
Sonntag, 5.1.2000,  6.05 Uhr - 6.08 Uhr, ORF Regionalradios
Montag, 6.11. bis Samstag, 11.11.2000, 5.40Uhr - 5.43 Uhr, ORF Regionalradios

Pfarrerin Margit Fliegenschnee (Salzburg)

 

Sonntag, 5.11.2000

Ich stelle mir einen Baum vor, er ist groß und steht auf einem Hügel, 
nur dieser eine Baum. Sein Stamm ist stark und dick, seine Krone ist
ausladend und reicht auf beiden Seiten weit, fast bis zum Boden 
hinunter. Die Blätter glänzen und leuchten in allen Farben, von gold 
über messing, zu braun und kupfer. Ein Feuerwerk an Farben.
Dieser Baum ist mir heute, an diesem Sonntag ein Bild für die Wunder,
die es in dieser Welt gibt. Dieser Baum ist vollkommen, er hat alles, was
er braucht, Wurzeln, einen Stamm, Äste, Blätter, Sonne, Regen, Vögel,
die in seinen Ästen Nester gebaut haben. Dieser Baum ist vollkommen.
Und ich nehme ihn als meinen Lebensbaum, so wünsche ich mir mein
Leben: so verwurzelt, dass nichts mich ausheben kann. So stark, wie
dieser Stamm, dass kein Sturm mich brechen kann.
So üppig und ausladend wünsche ich mir mein Leben, wie die Äste des
Baumes, dass ich im Wind tanzen kann, dass in meinen Armen andere
Zuflucht finden.
So bunt, wie die Farben der Blätter im Herbst soll mein
Leben sein.
Ihr eigener Lebensbaum schaut vielleicht ganz anders aus, als meiner.
Ich
lade sie heute ein sich ihren eigenen Baum zu erfinden, stellen sie ihn
sich vor, nehmen sie sich Zeit. Vielleicht haben sie Lust ihn zu malen,
groß und schön.
Ein Baum ist mir heute, an diesem Sonntag ein Wunder Gottes in dieser
Welt.

Montag, 6.11.2000

"Solange Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib
ihnen Flügel", hat Goethe einmal gesagt.
Wurzeln tragen einen Baum, sie wachsen tief in die Erde hinein, sie
verzweigen sich und nehmen viel Raum ein. Ohne seine Wurzeln kann ein
Baum nicht stehen, ohne Wurzeln kann er nicht leben.
Ich denke, dass Menschen und Bäume viel Ähnlichkeit haben: beide
stehen aufrecht, beide strecken ihre Arme bzw. Äste in die Welt hinaus
und bei beiden ist die Qualität der Wurzeln wesentlich für die Qualität des
Lebens.
Ein Schüler hat mir erzählt, dass er in einem Haus wohnt, das seiner
Familie schon seit 700 Jahren gehört, dieser Schüler kennt seine
Wurzeln und er fühlt sich dadurch stark.
Ich möchte meinen eigenen Wurzeln folgen: Ich denke an die Geschichte
meiner Familie, an meine Vorfahren – meine kommen aus vielen
verschiedenen Ländern: aus der Slowakei, aus Ungarn, aus Rumänien
und aus Österreich. Ich denke an die Kulturen, die mich prägen, an die
Umgebung, in der ich aufgewachsen bin. Und ich denke an meine
christliche Religion, in der ich seit meiner Kindheit eine Heimat gefunden
habe. Diese Wurzeln sind sehr alt, und sehr stark, ich sitze gut auf diesen
2000 Jahre alten Wurzeln.
Ich merke, dass meine Wurzeln mich tragen
können.
Und ich lade sie ein, sich einen Moment Zeit zu nehmen und ihren
eigenen Wurzeln nachzugehen und ich hoffe, dass sie sich dann so wie
ich, stark und getragen fühlen.

Dienstag, 7.11.2000

Vor meinen Augen sehe ich einen dicken, breiten Stamm. Er steht fest
am Boden und wenn ich den Kopf hebe, dann sehe ich eine ausladende
Krone. Der Stamm ist grau und glatt, und er ist stark, kein Sturm kann ihn
brechen.
Der Stamm ist das Rückgrat des Baumes, ohne ihn könnte er nicht
aufrecht stehen.
Und ich überlege: wann ist der Stamm meines Lebens so stark und
sicher, wie der Stamm dieses Baumes? Ich möchte auch aufrecht stehen
und mein Leben würdig genießen können, so wie ein wunderbarer Baum,
der allen Stürmen trotzt und in der Sonne funkelt.
Virginia Satir hat 5 Dinge genannt, die gemeinsam den Stamm unseres
Lebens bilden:
Die Gesundheit ihres Körpers.
Die Freundinnen und Freunde, die ihr Leben begleiten und tragen.
Die Arbeit, die sie tun, wenn sie ihr Leben bereichert und sie sich
gebraucht wissen.
Ihre materielle Sicherheit, also dass sie eine Wohnung haben und Essen
und Kleidung und dass sie sich in ihrem Lebensstandard gut bewegen
können.
Und als fünftes das, was sie glauben. Ihre Werte, was ihnen wichtig ist.
Und Satir meint, wenn alle anderes Teile des Stammes fehlen, dann wird
ihr Glaube sie tragen.
Der Stamm ihres Lebens wird den Stürmen trotzen, wenn sie diese
Dinge in ihrem Leben finden. Es lohnt sich im eigenen Leben zu forschen
und dazu lade ich sie heute ein.

Mittwoch, 8.11.2000

Wenn ich in diesen Tagen spazieren gehe, sehe ich Bäume ohne Blätter.
Die Pracht der vergangenen Wochen, mit ihren Farben ist vorbei. Die
Bäume haben sich verabschiedet von der Außenwelt, sie ziehen alle Kraft
in ihre Wurzeln zurück, sie kümmern sich nur noch um sich selbst.
Und
genau deshalb habe ich diese blattlosen Bäume so gern, sie sind mir ein
Vorbild.
Ich merke, dass auch ich Zeiten brauche, in denen ich mich nur
um mich kümmere, in denen ich meine eigene Kraft sammeln und die
Außenwelt Außenwelt sein lassen kann. Ich darf mich verabschieden von
dem Zwang immer etwas leisten zu müssen, ich darf mich auf mich selbst
konzentrieren. Nur so kann ich Kraft schöpfen, nur so kann ich mir selbst
begegnen.
Die Bäume sind zu beneiden, für sie ist es leicht, es ist ihre Natur, sich
zurückzuziehen. Wir Menschen brauchen dazu Mut, vor allem viel Mut.
Es heißt die Kinder und den Partner in die Schranken zu weisen, so dass
es Augenblicke gibt, in denen niemand etwas will und braucht. Vielleicht
legen sie sich in die Badewanne und schalten sich eine schöne Musik an
und verbieten allen, die etwas wollen könnten, zu stören. Sie schalten das
Telefon ab, sie sperren die Haustür zu. Sie gehören für eine Stunde nur
sich selbst.
Wie ein Baum im Herbst und Winter, so brauchen auch ein Mensch
Zeiten, in denen er sich in sich selbst zurückzieht und sich auf seine Kraft
besinnt.
Meine tiefste Kraft ist mein Glaube an einen Gott, der versprochen hat,
dass er sich finden lässt, wenn ich ihn suche.

Donnerstag, 9.11.

Meine Phantasie hat mir ein Zeitfernrohr geschenkt. Damit kann ich jeden
beliebigen Zeitpunkt herbeizoomen. Und ich richte mein Zeitfernrohr auf
den nächsten April und ich schaue mir die Welt an. Da sehe ich den
Baum vor meinem Fenster, und die Äste sind leer, aber da, an den
Spitzen da sitzt ein kleines Blatt, das zu wachsen beginnt.
Ich kann mir
die Explosion vorstellen, wie die Bäume scheinbar über Nacht voller
Blätter sind. Und dann dieses Wunder an Farben und Blüten, weiß, rosa,
duftend und beglückend. All die Kraft, die die Bäume im Winter
gesammelt haben, wird im Frühling ausgespuckt, unkontrolliert und
überwältigend. Und unübersehbar.
Ich weiß, dass diese Kräfte auch in ihnen stecken. Erinnern sie sich bitte
daran, als sie sich zuletzt verliebt hatten, fühlen sie diesem starken Gefühl
nach, es war wie der Frühling, rosa, beglückend, unkontrollierbar und
unübersehbar. Diese Stärke und Kraft ist in ihnen.
Wir können wie ein Baum unseren Rhythmus entwickeln. Zeit um Kraft zu
tanken, um sich selbst zu finden, wie ein Baum im Herbst, und dann Zeit
um die Produkte dieser Kraft in die Welt zu schleudern: vielleicht
beginnen sie zu malen, oder sie lernen ein Instrument. Es sind unendlich
viele Möglichkeiten.
In ihnen steckt die Kraft des Frühlings, sie können ihr
Leben bunt werden lassen und man wird es ihnen ansehen, ihre Augen
werden. Und man wird sie fragen, warum sie so blendend aussehen.
Und dann können sie sagen: ich habe mich selbst gefunden.

Freitag, 10.11.2000

Ich würde gern folgendes Bild malen: eine Straße, auf beiden Seiten
stehen Bäume und die Straße ist übersäht mit rosa Blüten. Der Wind
weht und wirbelt die Blüten durch die Luft, wie einen rosa Traum.
Die
Blätter der Bäume sind grün und es beginnen die Früchte zu wachsen.
Der Frühling ist vorbei, die Explosion der Farben ist einem satten Grün
gewichen. So wie die berauschenden Gefühle der Verliebtheit sich in
Liebe verwandeln, so wie die Begeisterung über neue Wege im Leben,
dann einer Zeit weicht, die ruhiger ist.
Damit Früchte reifen können, braucht es Zeit und Geduld, die Fähigkeit
zu warten und die Fähigkeit darauf zu vertrauen, dass das, was begonnen
hat, auch weiter wachsen wird.
Unser eigenes Leben hat mit diesem Ablauf begonnen. Ein Mensch
entsteht im besten Fall in einer Explosion der Gefühle, danach kommt
eine lange Zeit des Wartens und Vertrauens. Und so geht es immer
weiter. Es kommt der erste Schritt und dann die Zeit des Übens, bis man
sicher gehen kann. So geht es immer weiter, nur Erwachsene vergessen
das oft, unsere Gesellschaft vergisst es oft. Da sollte nach dem Frühling
der nächste Frühling kommen, am besten gleichzeitig mit reifen Früchten
- kein Wunder, wenn sich viele so ausgelaugt vorkommen.
Ich möchte von den Bäumen lernen und lade sie ein, das auch zu tun:
Gönnen sie sich die Zeiten, in denen sie Entwicklungen einfach abwarten
können, vertrauen sie darauf, dass Wachstum passiert, bei ihnen selbst,
aber auch bei denen die sie lieben.

Samstag, 11.11.2000

Frische Äpfel, saftige Birnen – die Zeit der Ernte ist herrlich. Die Bäume
haben alles gegeben, sie haben ihre Leistung erbracht.
Eine bestimmte
Menge Regen und Sonne, ein bestimmter Platz, die eigene Qualität der
Sorte, alles das wurde optimal umgesetzt. Ist die Frucht reif, wird sie
abgestoßen, der Baum hat seine Aufgabe erfüllt.
Er zieht sich in sich
selbst zurück, um Kraft zu tanken für das nächste Mal.
Es gibt diesen Kreislauf von leisten, ruhen, explodieren, wachsen und
wieder leisten auch für uns als Menschen.
Das Wochenende steht vor der
Tür, es ist die Möglichkeit zu ruhen, es ist die Möglichkeit nichts leisten zu
müssen. Sogar Gott hat nach der Erschaffung der Welt geruht, so erzählt
es die Bibel.
Wenn sie beginnen ihr Leben zu leben, so wie es ihrer Natur entspricht,
wenn sie sich Zeiten herausnehmen, die nur ihnen gehören, und wenn sie
es wagen neue Ideen, neue Gedanken ins Leben zu werfen und wenn sie
dann noch die Geduld haben, abzuwarten, was sich daraus entwickelt -
dann werden das andere Menschen merken und sie werden es ihnen
nachmachen.
Wie ein Baum werden sie würdig und aufrecht den Stürmen
des Lebens trotzen, weil ihre Wurzeln sie tragen und ihr Stamm sie
aufrecht stehen lässt und sie werden Früchte bringen und sie werden sich
danach verabschieden von dieser Welt um für eine neue Runde Kraft zu
tanken.

 

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Letztes Update dieser Seite am  23.11.2000 um 13:38