Jüdische Rekurse auf Gewalt in der Durchsetzung des
Gotteswillens
Gewalt zur Durchsetzung religiöser Vorstellungen ist der Bibel
durchaus nicht fremd. Sie reicht vom Massaker an denen, die sich mit
dem Goldenen Kalb versündigen (Ex 32) bis zur Androhung völliger
Vernichtung für eine Stadt, die vom Glauben abfällt (Dtn 13).
Welche Auswirkungen ergeben sich durch solche Texte auf eine
religiös motivierte Gewaltbereitschaft ? Der Einsatz von Gewalt im
Interesse der Religion kann von der Zeit der Makkabäer bis zum
heutigen Staat Israel nachvollzogen werden.
In einer Zeit, die zumindest in Theorie das Ideal der
Gewaltfreiheit vertritt, ist die Ausübung von Gewalt gerade im
Namen der Religion ein Skandal. Auch wenn man von den vielen Fällen
absieht, in denen Religion nur scheinbar Gewalt begründet oder
rechtfertigt, zeigt doch ein Blick in die Geschichte: Jede Religion,
besonders aber jede monotheistische Religion, die ja Anspruch auf
den ausschließlichen Besitz der Wahrheit erhebt, neigt dazu, diese
Wahrheit mit allen Mitteln, auch gewaltsamen, durchzusetzen. Die
biblische Tradition bildet hier keine Ausnahme. Wie aus der oft so
blutigen Spur biblischer Geschichte schließlich eine religiöse
Tradition entstehen konnte, die das Ideal der Gewaltfreiheit auf
ihre Fahnen geheftet hat - auch wenn die Spannung zwischen diesem
Ideal und der Neigung zur praktischen Durchsetzung eigener
Vorstellungen durch Gewalt nie ganz aufgelöst wurde - dem sei
im Folgenden kurz nachgegangen.
Spur der Gewalt im Alten Testament
Kritiker religiöser Weltbilder - so in unserer Zeit besonders
nachhaltig Karlheinz Deschner mit seiner "Kriminalgeschichte
des Christentums" verweisen gern auf die Blutspur, die sich
durch das Alte Testament zieht. Am Anfang Israels steht der Tod
aller Erstgeborenen Ägyptens (Ex I1), dann der Untergang des
gesamten ägyptischen Heeres, das dem ausziehenden Israel nachjagt,
im Schilfmeer: "Nicht ein einziger von ihnen blieb
übrig". Was hier geschieht, erfolgt nicht durch menschliche
Gewalt, sondern durch wunderbares Eingreifen des rettenden Gottes,
was jedoch den Eindruck nicht verbessert. Auch im auserwählten Volk
selbst können religiöse Ideale erst durch Gewalt durchgesetzt
werden. Die Israeliten, die sich während Moses Abwesenheit in der
Wüste ein goldenes Kalb gegossen haben, werden auf Befehl Moses
getötet: "So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege
sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder
erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die
Leviten taten, was Mose gesagt hatte.
Aufgespießt auf Pfählen, mit Lanzen durchbohrt
Vom Volk fielen an jenem Tage gegen dreitausend Mann" (Ex
32,27f). Völlig ausgerottet werden etwas später auch jene
Israeliten, die sich mit moabitischen Frauen eingelassen und an
deren Opferfesten teilgenommen haben. "Der Herr sprach zu Mose:
Nimm alle Anführer des Volkes, und spieße sie für den Herrn im
Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des
Herrn von Israel abwendet" (Num 25,4). Zur Strafe für Israel
bricht eine Plage aus, der 24.000 Mann zum Opfer fallen. Sie endet
erst, als Pinhas einen in flagranti mit einer Moabiterin ertappten
Israeliten mit seiner Lanze durchbohrt. Pinhas, fortan Leitbild
aller religiösen Zeloten, wird für sein Tun belohnt: "Ihm und
seinen Nachkommen wird der Bund des ewigen Priestertums zuteil, weil
er sich für seinen Gott ereifert und die Israeliten entsühnt
hat" (Num 25,13).
Völker die das Land bewohnten, müssen
ausgerottet werden
Bei der Landnahme, der Eroberung des verheißenen Landes, heißt
es dann immer wieder, dass Israel alle Völker ausrotten muss, die
vor ihm im Land gewohnt haben: Israel muss sie der Vernichtung
weihen, darf keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht
verschonen (z.B. Dtn 7). Exemplarisch ist die Einnahme von Jericho:
"Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war,
dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe
und Esel" (Jos 6,21 ). Auch später hört religiöse Gewalt
nicht auf, wenn z.B. der Eiferer Elija am Karmel 450 Baalspriester
am Bach Kischon töten lässt (1 Kön 18,22.40). Dazu kommt
besonders im Buch Deuteronomium geradezu als Refrain im Zusammenhang
mit todeswürdigen religiösen Vergehen immer wieder die
Aufforderung: "So sollst du das Böse aus deiner Mitte
wegschaffen" (Dtn 13,6; 17,7.12; 19,19; 21,21; 22,21.22.24;
24,7). Damit wird ein Sohn, der seinen Eltern nicht gehorcht, ebenso
bedroht wie der falsche Zeuge oder falsche Prophet, wer das
priesterliche Gericht nicht anerkennt oder auch eine ganze Stadt,
die vom wahren Glauben abfällt.
Texte sind nicht tatsachenbezogen
Es würde zu weit führen, auf diese und viele andere Texte im
Detail einzugehen. Auch wenn sich diesen Texten viele andere
entgegenstellen lassen, die jede Gewalt und Selbstjustiz strikt
ablehnen, bleibt der Eindruck einer auch und vor allem im Namen der
Religion blutrünstigen Zeit. Um die Texte in ihrem Rahmen richtig
zu verstehen, ist darauf zu verweisen, dass sie im allgemeinen nicht
einfach Tatsachen schildern wollen. Es ist erzählte, nicht wirklich
geschehene Geschichte. Deutlich wird das dort, wo man Texte noch
überprüfen kann, etwa im Bereich der Landnahme. Wenn das meiste
biblisch Erzählte so gar nicht geschehen ist, warum erzählt man es
dann so? Es ist auffällig, dass die meisten dieser breit
erzählenden Texte ziemlich spät sind, also erst nach der Rückkehr
aus dem babylonischen Exil anzusetzen sind. Aus der damaligen
Erfahrung, nämlich wie schwer es ist, in einer Umwelt voll von
konkurrierenden religiösen Systemen die eigene Religion unvermischt
zu bewahren, sucht man eine Erklärung, wie das denn in den
Anfängen gewesen sein mag, im goldenen Zeitalter, als Israel die
Offenbarung am Sinai empfing und das Land der Verheißung in Besitz
nahm.
Vermeidung des Vermischens mit anderen
Religionen
Vor allem die deuteronomistischen Erzähler betonen immer wieder,
dass die Reinerhaltung der Religion nur dadurch gelang, dass die
Verehrer des wahren Gottes unvermischt lebten, ohne Kontakt mit
fremden Religionen und in ständiger Selbstreinigung von allem
Bösen. Nur in einem von allem Fremden bereinigten Land konnte
Israel dem Bund vom Sinai treu bleiben, das Land als ihm nur
geliehenes Eigentum Gottes rein und heilig halten und der ständigen
Versuchung entgehen. Vereinfacht gesagt: Ideal lässt sich die
Religion nur verwirklichen, wenn sie nicht ständig der Anfechtung
durch andere Anwerbungen ausgesetzt ist. Zumindest in den idealen
Anfängen muss es so gewesen sein, und das war nur möglich, wenn
Israel bei der Landnahme das Land von allen Vorbewohnern gereinigt
oder überhaupt gleich ein unbewohntes Land angetroffen hatte.
Sicher war das Leben insgesamt damals mehr von Gewalt durchsetzt,
als wir uns heute vorstellen können; weithin werden deshalb in der
Bibel aus der Gewalterfahrung der eigenen Zeit entnommene Bilder
eingesetzt, bloß um damit das Ideal der Abgrenzung von allem Bösen
auszudrücken. Für den heutigen Leser bleibt natürlich der Anstoß
der biblischen Sprache und Bildwelt, die immer von neuem der
Übersetzung bedarf, dass dies nicht erst heute so verstanden wird,
sieht man klar in der Umformung so mancher früherer Erzählungen,
etwa über David, in den Büchern der Chronik.
Sensibilität gegenüber der Todesstrafe fehlte
früher
Was die vielfach in der Bibel angedrohten Todesstrafen betrifft,
ist einerseits festzuhalten, dass wir in den seltensten Fällen auch
Erzählungen von der tatsächlichen Anwendung dieser Strafen finden;
andererseits fehlt in diesen frühen Jahrhunderten einfach noch die
Sensibilität gegenüber jeder Todesstrafe, die den meisten von uns
heute - noch nicht sehr lange! - eigen ist; für damals mußte ihre
Einschränkung im Rahmen einer geordneten Justiz bereits einen
enormen Fortschritt in Richtung Humanisierung darstellen. Zeiten und
Mentalitäten ändern sich. Wie aber geht eine vielfach gewandelte
Zeit mit dem Erbe solcher Texte um, die man als heiliges
Vermächtnis der eigenen Religion versteht? Man könnte hier
natürlich mit Recht darauf verweisen, dass heilige Texte immer
selektiv rezipiert wurden und dass dabei immer mehr jene Linien
ausgezogen wurden, die eine zunehmende Humanisierung und
Verinnerlichung der Religion bedeuteten. Hier aber muss doch zuerst
dem auch in der Bibel angelegten Nachlass gewaltsamer Durchsetzung
religiöser Ansprüche nachgegangen werden.
Der Aufstand der Makkabäer
In biblischer Zeit finden wir nach der Landnahme nirgends
wirklich religiös motivierte Kriege. Das erste Beispiel dafür ist
der Aufstand der Makkabäer in der Mitte des zweiten Jahrhunderts.
Gegen die zunehmende Hellenisierung Jerusalems, die fortschreitende
Assimilierung selbst vieler Priester und die durch fremde Riten
erfolgte Entweihung des Tempels unter Antioches Epiphanes regt sich
Widerstand. Mattatias wehrt sich gegen die Entwicklung: "Wir
gehorchen den Befehlen des Königs nicht und wir weichen weder nach
rechts noch nach links von unserer Religion ab." In diesem
Augenblick sieht er einen Juden, der ein heidnisches Opfer
darbringt. "Da packte ihn leidenschaftlicher Eifer ... und er
ließ seinem gerechten Zorn freien Lauf: Er sprang vor und erstach
den Abtrünnigen über dem Altar" (1 Mak 2,22.24). Der Text
schildert dann, wie Mattatias mit seinen sieben Söhnen, den
Makkabäern, den bewaffneten Widerstand organisiert. "Sie
stellten eine bewaffnete Streitmacht auf, und sie erschlugen die
Sünder in ihrem Zorn . .. Wer übrig blieb, musste zu den
Nachbarvölkern fliehen, um sein Leben zu retten ...Sie zogen durch
das ganze Land und rissen die Altäre nieder. Alle unbeschnittenen
Kinder, die sie in dem Gebiet Israels fanden, beschnitten sie
gewaltsam ... Sie entrissen das Gesetz der Gewalt fremder Völker
und der Hand der Könige. Dem Sünder ließen sie keine
Möglichkeiten" (2,44-48). In seinen letzten Worten an seine
Söhne erinnert Mattatias an das Vorbild der biblischen Eiferer:
"Pinhas, unser Ahnherr, ereiferte sich für Gottes Sache und
empfing den Bund ewigen Priestertums ... Elija kämpfte mit
leidenschaftlichem Eifer für das Gesetz und wurde in den Himmel
aufgenommen ..." (2,54.58).
Religionskrieg weitete sich aus
Was unter religiösem Vorzeichen begonnen hatte, ging schnell
darüber hinaus. Auch nach der Wiedererlangung des Tempels und
seiner Reinigung kämpft man weiter. Am Schluss steht ein fast
völlig unabhängiges jüdisches Reich, in dem die Nachfahren der
Makkabäer in Personalunion Könige, Hohepriester und oberste
Militärführer waren. Eroberte Gebiete wurden zwangsweise der
jüdischen Religion unterworfen: sicher der Süden des Landes -
Idumäa, woher Antipater und sein Sohn Herodes stammten,
wahrscheinlich auch Galiläa - das "Galiläa der Heiden" -
, über dessen religiöse Unzuverlässigkeit man sich noch lange zu
beklagen hatte. Johannes Hyrkan führte gegen die Samaritaner Krieg
und zerstörte ihr Heiligtum und ihre Siedlung auf dem Garizim.
Unter Alexander Jannai hatte das Reichsgebiet wieder fast den Umfang
des Staates Israel unter David erreicht. Die Ideologie des Heiligen
Landes, in dem allein das Gesetz der biblischen Religion gelten
durfte, konnte den Machtansprüchen der Hasmonäer nur dienlich
sein.
Religiöse Vorwände auch zur Bekämpfung
innenpolitischer Gegner
Die weitere Geschichte zeigt, wie Gewalt für religiöse Zwecke
bald Eigendynamik gewinnt und auch in der Innenpolitik Gegner unter
religiösen Vorwänden immer mehr bekämpft wurden. Die Entstehung
der jüdischen Religionsparteien in der Makkabäerzeit und die
Geschichte ihrer Auseinandersetzungen ist auch in diesem
Zusammenhang zu sehen. Anfangs stützen sich die hasmonäischen
Könige auf die Pharisäer, wenden sich dann aber von ihnen ab,
schaffen die pharisäischen Gesetzestraditionen ab und verbünden
sich mit den Sadduzäern. Nach Jahren des Bürgerkriegs empfiehlt
der sterbende Alexander Jannai seiner Frau, nach seinem Tod wieder
die Pharisäer an der Macht zu beteiligen, was diese dazu
ausnützen, ihre sadduzäischen Gegner gewaltsam und blutig zu
verfolgen. Die Essener, die sich schon früher aus dem aktuellen
politischen Geschehen zurückgezogen hatten, wurden in der Wüste am
Versöhnungsfest (so nach eigenem Kalender, der von jenem in
Jerusalem abwich) von Alexander Jannai überfallen. Bei Josephus
Flavius, zum Teil nun auch in manchen Texten von Qumran, finden wir
detailreich die Schilderung dieser steten Eskalation der Gewalt, die
oft nur noch oberflächlich religiös begründet wurde.
Religiöse Gewalt durch die Bewegung der
Zeloten
Neue direkt religiöse Impulse bekam die Bereitschaft zur Gewalt
in der Bewegung der Zeloten, die Judas der Galiläer von den
Pharisäern abspaltete, als 6 n. Chr. Judäa in eine römische
Provinz umgewandelt wurde. "Er erklärte es für einen Frevel,
wenn sie weiter an die Römer Steuern zahlen und nach Gott
irgendwelche sterbliche Gebieter auf sich nehmen würden" (Josephus,
BJ II 117-118). Es blieb aber nicht bei der Steuerverweigerung aus
religiösen Gründen. Überzeugt davon, dass das Land Israel als
Gottes Erbbesitz rein und heilig bleiben müsse, drängten sie immer
mehr darauf, dass Römer sich in Judäa nur aufhalten durften, wenn
sie sich an bestimmte Vorschriften hielten, vor allem nicht ihre
Feldzeichen mit den "heidnischen" Abbildungen mitbrachten;
einen als Dekoration am Tempel angebrachten Adler entfernte man
gewaltsam, setzte immer striktere Maßstäbe, was die Reinheit des
heiligen Landes beeinträchtigte, und wusste dies auch mit Gewalt
durchzusetzen. Somit war es nicht nur die mangelnde Sensibilität
der römischen Besatzung, sondern auch der steigende Radikalismus
bestimmter Kreise im Judentum, die zu immer neuen gewaltsamen
Auseinandersetzungen führten und im Jahre 66 in den Krieg gegen Rom
mündeten.
Innerpharisäischer Streit
Nach einer - historisch wenig brauchbaren - rabbinischen
Erzählung (pal. Talmud Schabbat I,2) - stand am Anfang des Krieges
ein innerpharisäischer Richtungsstreit: die Schule Schammais setzte
sich mit einer Reihe von Bestimmungen durch, die das Judentum
radikal von den Nichtjuden abgrenzte und auch kein Opfer von
Nichtjuden mehr im Tempel annahm. Der Streit zwischen den beiden
Gruppen der Pharisäer soll damals so eskaliert sein, dass Anhänger
der Schule Schammais solche der Schule Hillels mit Waffengewalt
daran hinderten, an der Abstimmung teilzunehmen. Ein später Text
will sogar davon wissen, dass damals 3000 Anhänger der Schule
Hillels gefallen seien - ebenso viele wie nach der Geschichte vom
Goldenen Kalb.
Essener verhielten sich zurückhaltender
Die Essener hielten sich in ihrer Machtlosigkeit weithin aus den
verschiedenen Streitigkeiten heraus, was aber nicht heißt, dass sie
Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele absolut ablehnten. Nur
machten sie aus ihrer Ohnmacht eine Tugend und verlegten, darin
apokalyptischer Tradition folgend, die Auseinandersetzung zwischen
den Mächten des Lichtes und der Finsternis an das Ende der Zeiten.
Dann aber würden die Anhänger der Lebensform und Lehre von Qumran,
angeführt vom Messias und den Priestern, in Gemeinschaft mit den
Engeln die Mächte des Bösen völlig vernichten, wie es in der
"Kriegsrolle" heißt, einem Text, der sich einerseits auf
ein römisches Militärhandbuch stützt, zugleich aber den Endkrieg
wie eine Liturgie schildert (man vergleiche die Eroberung Jerichos
in Jos 6), in der man sich ganz auf die himmlischen Mächte
verlassen kann. Dass man aber, wenn sich die Gelegenheit bot, nicht
erst auf ein fernes Ende wartete, zeigt die Tatsache, dass sich auch
Essener am Krieg gegen Rom beteiligten und einige der führenden
Kommandanten stellten. Auch bei der Verteidigung von Masada sind
wohl manche von ihnen bis zum Schluss dabei gewesen.
Durch Gewaltlosigkeit zum Erhalt des Judentums
In den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach 70, nach dem Verlust
des Tempels und der letzten Reste von Eigenstaatlichkeit, versuchten
die Rabbinen eine religiöse Ideologie zu entwickeln, die der nun
völligen Machtlosigkeit des Judentums Rechnung trug und ein
Überleben sicherte. Nun mehrten sich die Stimmen, die menschliche
Anwendung von Gewalt immer nachdrücklicher ablehnten, auch wo es um
Fragen der Religion ging, und immer mehr, wenn auch durchaus nicht
konsistent, auf ein Ideal der Gewaltlosigkeit hinstrebten. Davor
hatte es allerdings noch den zweiten großen Aufstand unter Bar
Kochba gegeben (132-135), in dem man nochmals mit totalem
militärischem Einsatz die Erneuerung des Tempels in Jerusalem und
die Durchsetzung biblischer Ordnungen zu erreichen und auch
Judenchristen mit Methoden des Terrors zur Beteiligung am
messianischen Aufstand zu zwingen versuchte. Schon zuvor, in den
Jahren 115-117, hatte ein wohl auch messianisch motivierter Aufstand
die großen Zentren der östlichen Diaspora in Blut und Schrecken
untergehen lassen: Um diese Zeit in der Cyrenaike zerstörte
griechische Tempel und Theater zeigen, welche Urgewalt der
Zerstörung damals losbrach, und eine Reihe zeitgenössischer Papyri
aus Ägypten belegt, welche panische Angst vor den jüdischen
Aufständischen damals die ägyptische Bevölkerung erfasste.
Rückblickend gesehen, gehören diese blutigen Ereignisse, in denen
die wichtigsten Zentren der Diaspora auf lange Zeit völlig
zerstört wurden und auch Judäa als jüdisches Zentrum fast jede
Bedeutung verlor, noch zu den Nachwehen des Jahrhunderts der Gewalt.
Die Auslegung biblischer Texte
Die Rabbinen mit ihrer eher pazifistischen Linie konnten sich nur
langsam im Volk Gehör verschaffen. Interessant ist zu sehen, wie
sie ihre Positionen im Umgang mit dem biblischen Text entwickeln und
dabei auch mit Texten fertig werden, deren Gewaltpotential nicht zu
übersehen ist. Anders als in der christlichen Tradition erklärt
man diese Texte nicht einfach als abgetan und nicht mehr gültig,
sondern beherrscht sie durch Auslegung. Am radikalsten zeigt sich
diese Tendenz in der Auslegung von zwei Texten aus dem Deuteronomium,
die jeweils mit der Aufforderung schließen: "Du sollst das
Böse aus deiner Mitte wegschaffen." Der eine Text spricht vom
"störrischen und widerspenstigen Sohn", der den Eltern
nicht gehorcht und am Tor der Stadt zu steinigen ist (Dtn 21,18-21
), der andere von einer Stadt, die vom Jahweglauben abfällt und die
völlig vernichtet werden muss (Dtn 13,13-19). Von beiden sagen die
Rabbinen: Das "hat es nie gegeben und wird es nie geben. Warum
steht es dann geschrieben? Damit du auslegest und Lohn
empfangest" (Sanhedrin 71a). Man kann die Texte, so wie sie
sind, nicht in die Praxis umsetzen; dazu fehlt die Macht, dagegen
ist auch das gewandelte sittliche Empfinden. Daher interpretiert man
die Texte so wortwörtlich und buchstäblich, dass sie in der Praxis
nicht mehr anwendbar sind.
Der Umgang mit der Todesstrafe
Dieselbe Tendenz sieht man auch in der Besprechung der biblischen
Todesstrafe. Zwar beschreibt noch die Mischna ausführlich, welche
Todesstrafen für welche Vergehen zu verhängen sind. Doch bleibt
dies weithin theoretisches Recht. Aus der Bibel entnommene
Vorschriften für das Beweisverfahren vor Gericht werden so strikt
angewendet, dass ein Verbrechen fast nicht mehr verfolgt werden
kann. Das gilt insbesondere durch die strengen Anforderungen an die
beiden Zeugen, die gemeinsam und einhellig das Verbrechen bezeugen
und die selbst den entscheidenden Akt gesehen haben müssen. Meist
muss man daher, auch wo der Tatbestand völlig sicher ist, das
Urteil Gott überlassen: "Möge der, der die Gedanken kennt,
den Mann zur Rechenschaft ziehen, der seinen Genossen ermordet
hat" (Sanhedrin 37b). So kommt man in der Mischna zum Schluss:
"Ein Gerichtshof, der auch nur einen Menschen in sieben Jahren
hinrichten lässt, heißt Verderber. R. Eleasar ben Asarja sagt:
Auch schon bei einem in siebzig Jahren. R. Tarfon und R. Aqiba
sagen: Wären wir im Gerichtshof gesessen, wäre nie ein Mensch
hingerichtet worden" (Makkot 1,10).
Die Unterscheidung von Kriegen
Eine ähnliche Entwicklung sieht man bei den Rabbinen, wenn sie
sich mit der Möglichkeit eines Krieges befassen. Sie unterscheiden
den gebotenen Krieg vom erlaubten Krieg: Muster des ersten sind die
im Buch Josua beschriebenen Kämpfe bei der Landnahme, Beispiel des
zweiten die Expansionskriege Davids. In Dtn 20 wird bestimmt, dass
beim Volksheer nicht mitmachen muss, wer gerade geheiratet hat, wer
ein neues Haus noch nicht eingeweiht hat usw., ja auch, wer ganz
einfach zu feige ist. Die Mischna diskutiert ausführlich diesen
Text (Sota 8) und deutet die Befreiungsgründe exzessiv. Was bleibt,
ist ein reines Freiwilligen-Heer. Auch hier gilt wie bei den
Todesstrafen: Man hat sich damit zu befassen, weil es in der Bibel
steht. Da die eigene Lebenserfahrung aber zeigt, dass man als Jude
die Gewalt des Krieges wie der Gerichtsbarkeit nur erleidet, nicht
aber selbst aktiv darin eingreifen kann, lehnt man sie immer mehr
ab. Die Mischna rechnet zwar noch mit der Möglichkeit, dass in
bestimmten Fällen, wo das jüdische Gericht keine Macht mehr hat,
Fanatiker das Recht in ihre Hand nehmen und den Übeltäter lynchen
können, so etwa, wenn ein Priester im Tempel den Dienst in
Unreinheit verrichtet, oder auch, wenn ein Jude mit einer
Nichtjüdin schläft (Sanhedrin 9,6). Der talmudische Kommentar dazu
verweist auf das Beispiel des Pinhas und erklärt: "Wer eine
Aramäerin heiratet und mit ihr Kinder zeugt, lässt Feinde für
Gott erstehen." Doch heißt es hier auch ausdrücklich, dass
solche Lynchjustiz nicht dem Willen der Rabbinen entspricht (pal.
Talmud, Sanhedrin 9,11,27b). Immerhin sind hier Ansätze auch zu
einem aktiveren Einsatz der Gewalt für religiöse Ziele. Im
allgemeinen aber sind die Rabbinen immer mehr gegen jede Gewalt
aufgetreten, die eigene Machtlosigkeit hat diese Entwicklung
gefördert, wenn nicht gar erst ermöglicht.
Recht auf Tötung bei Bedrohung der jüdischen
Gemeinde
Im Mittelalter führen jüdische Autoren im allgemeinen diese
Linie weiter, auch wenn es in einer Zeit zunehmender Rechtslosigkeit
dazu kommt, dass man im Einzelfall bereit ist, Mitglieder der
jüdischen Gemeinde, die für diese eine existentielle Bedrohung
bedeuten (etwa durch Denunzierung vor nichtjüdischen Behörden),
gleichsam in Notwehr formlos zu töten. Dabei beruft man sich vor
allem auf Ex 22,1, wonach ein nächtlicher Einbrecher, der ertappt
und dabei tödlich verletzt wird, keine Blutschuld auslöst, wohl
aber, wenn er erst bei hellem Tag getötet wird. Auswirkungen hatte
auch die umfassende Besprechung sämtlicher biblischer und
rabbinischer Gebote im Mischne Tora des Maimonides (1138-1205). In
vielen Fällen des religiösen Strafrechts, wie in der Tora
verbotenen Praktiken der Wahrsagerei oder sogar den meisten Formen
des Götzendienstes, sieht er Auswirkungen von Wahnsinn oder Irrtum
und damit keine strafbaren Handlungen. Er befasste sich in seinem
Streben, so umfassend wie möglich zu sein, aber auch mehr als
andere mit dem Kriegsrecht und ist daher für orthodoxe Kreise auch
heute eine wesentliche Autorität, wie der Staat Israel mit dem
Krieg umgehen soll.
Berufung auf Maimonides möglich
Doch ist gerade durch die Zusammenfassung aller Vorschriften, von
der Bibel an über die verschiedenen Stufen der Tradition, es auch
Vertretern verschiedenster Meinungen möglich, sich auf Maimonides
zu berufen, solange man nicht den größeren Kontext beachtet.
Zumindest im Vorübergehen sei hier auch Moses Mendelssohn
(1729-1886) genannt, der in seiner Schrift "Jerusalem. Oder:
Über religiöse Macht und Judenthum" praktisch die Anwendung
jeder Form von Gewalt oder Zwang zur Durchsetzung religiöser Ziele
ablehnte und damit über die Ablehnung rein physischer Gewalt im
Namen der Religion weit hinausging. Im Grunde war damit die völlige
Trennung von Religion und Staat eingeleitet, der Staat als der
einzige Ort bestimmt, wo eventuell legitim Gewalt angewendet werden
darf.
Gewalt im Namen der Religion in der Gegenwart?
Wenn wir uns abschließend der heutigen Situation zuwenden,
könnte man im Prinzip kurz sagen, dass sich die Entwicklung von den
Rabbinen bis zu Mendelssohn durchgesetzt hat. Das gilt auch vom
Staat Israel. Die verschiedenen Kriege, in die der Staat von Anfang
an verwickelt war, sind in keiner Weise religiös begründet. Das
schließt nicht aus, dass es bestimmte religiöse Tendenzen und
Strömungen gibt, die aus einer religiös motivierten Ideologie des
Heiligen Landes dessen Heiligkeit und somit die Einhaltung der Tora
fordern. Es sollte damit idealerweise rein jüdisch sein, sich so
leichter für den Militärdienst gewinnen lassen und in der
Verteidigung der jüdischen Integrität des Landes einen
"Pflichtkrieg" sehen. Allgemein aber spielen hier
religiöse Gründe keine Rolle, und man kann nicht von
Glaubenskriegen sprechen.
Juden dürfen über Juden kein Todesurteil
aussprechen
Ein Punkt verdient hier besondere Erwähnung: Das Recht des
Staates Israel sieht keine Todesstrafe vor, obwohl im allgemeinen
der größte Teil des Rechts aus dem türkischen bzw.
angelsächsischen Recht abgeleitet ist, das im Land vor der
Gründung des Staates Israel galt. Dabei dominiert der Grundsatz,
dass Juden nicht über Juden den Tod verhängen sollten; doch gilt
das Recht ganz allgemein, auch für Nichtjuden in Israel. Schon vor
Staatsgründung plädierte Oberrabbiner Herzog gemäß jüdischem
Recht gegen die Todesstrafe; 1954 wurde sie auch offiziell
abgeschafft. Einzige Ausnahme in den fünfzig Jahren der Geschichte
des Staates war der Fall Eichmanns, der prototypisch als
"Verfolger" Israels (rodef) galt und hingerichtet wurde.
Dennoch kam es zur Eskalation der Gewalt
Man kann natürlich nicht verschweigen, dass es in den letzten
Jahren eine Eskalation von Gewalt auch im Namen bzw. unter dem
Vorwand der Religion gegeben hat. Wer erinnert sich nicht an Meir
Kahane, der ständig Gewalt predigte und schließlich in New York
selbst einem Attentat zum Opfer fiel. Vor allem aber Baruch
Goldstein ist hier zu nennen, der in der Moschee an den
Patriarchengräbern in Hebron eine Anzahl von Betern von hinten
niederschoss, ehe er selbst durch einen tödlichen Schuss gestoppt
werden konnte. Der Fall als solcher ist tragisch genug. Welche
Motive im einzelnen Goldstein bewogen haben und wie dominant dabei
religiöse Gründe waren, wird wohl nie ganz geklärt werden
können. Höchst bedrohlich aber wirkt die Tatsache, dass er in
zahlreichen Todesanzeigen als Märtyrer gepriesen wurde, der für
die Heiligung des Namens Gottes gestorben sei, und dass sein Grab am
Ortseingang von Kirjat Arba bis heute fast ein Wallfahrtsort
geworden ist - erst kürzlich hat der Ortsrabbiner entschieden, dass
das Grab aus religiösen Gründen nicht verlegt werden darf. Das
zeigt, dass die Bereitschaft zu Gewalt und Verherrlichung von Gewalt
im Namen der Religion über gewisse Einzelfälle hinausgeht.
Die Ermordung Jizchak Rabbins
Auch die Ermordung von Jizchak Rabin ist hier zu erwähnen. Der
Mörder kam ja nicht nur aus der religiösen Universität von Bar
Ilan, sondern hatte sich auch auf ein rabbinisches Gutachten
gestützt, wonach Rabin aufgrund seiner konzessionsbereiten Politik
eine Bedrohung nationaljüdischer Interessen darstelle und daher wie
ein rodef, ein "Verfolger" Israels, in Notwehr getötet
werden könne. Auch Jigal Amir war nicht einfach ein irregeleiteter
Einzeltäter, sondern hat noch immer seine Bewunderer in gewissen
religiösen Kreisen. Neben diesen spektakulären Einzelfällen darf
man natürlich auch die eher alltäglich gewordene Gewalt nicht
vergessen - man denke nur an die Bilder von Juden in orthodoxer
Tracht, die am Sabbat Steine auf Autos werfen, und ähnliche immer
häufiger werdende Vorfälle. Hier macht sich ein moderner
Zelotismus bemerkbar, der eigene religiöse Vorstellungen auch mit
physischer Gewalt durchzusetzen bereit ist. Im säkularen Staat
Israel ist das noch ein Randphänomen, das aber zunimmt und zu Recht
von vielen als bedrohliche Entwicklung gesehen wird. Der Staat, vor
allem aber die religiöse Gemeinschaft, steht hier vor der wichtigen
Aufgabe, diese Entwicklungen einzudämmen und durch Erziehung zu
überwinden.
Jüdische Religion lässt sich nicht auf den
privaten Bereich beschränken
Hier zeigt sich aber auch, dass jüdische Religion sich nie auf
den Privatbereich des einzelnen reduzieren lässt - sosehr dies auch
ein Mendelssohn und andere angestrebt haben mögen; sie ist und
bleibt eine Religion, die das ganze Leben in all seinen
Ausprägungen bis in den Bereich des Politischen umfasst und
zumindest im Land der Verheißung nach biblischem Recht das gesamte
Leben bestimmen möchte. Somit hängt die Vorstellung, was diese
Verheißung des Landes für die Gegenwart bedeuten kann, eng mit
eventueller Bereitschaft zu Gewalt im Namen der Religion zusammen.
Es gibt gewisse Stränge in der mehrtausendjährigen biblischen und
jüdischen Tradition, die - isoliert für sich genommen - zu einer
steigenden Bereitschaft zu religiöser Gewalt beitragen. Ich glaube
doch, dass das allgemeine Gefälle der Traditionsentwicklung und
ihre wesentlichen Leitlinien das Judentum grundlegend zu einer
Religion werden ließen, die Gewalt unter religiösem Vorzeichen
ablehnt. Jahrhunderte erlittener Geschichte, die lange eigene
Erfahrung einer Existenz als gerade geduldeter, oft auch verfolgter
Minderheit, haben wesentlich zu diesem Lernprozess beigetragen. Auch
wenn es manchmal den Anschein hat, dass die Herrschaft über ein
Land bei manchen die Perspektive verändert, kann man berechtigt
hoffen, dass der Prozess unumkehrbar ist, dass Gewalt im religiösen
Diskurs des Judentums jedes Recht verloren hat.
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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