Fachartikel

Jüdische Rekurse auf Gewalt in der Durchsetzung des Gotteswillens 

Günter Stemberger (Biografie)

 

Gewalt zur Durchsetzung religiöser Vorstellungen ist der Bibel durchaus nicht fremd. Sie reicht vom Massaker an denen, die sich mit dem Goldenen Kalb versündigen (Ex 32) bis zur Androhung völliger Vernichtung für eine Stadt, die vom Glauben abfällt (Dtn 13). Welche Auswirkungen ergeben sich durch solche Texte auf eine religiös motivierte Gewaltbereitschaft ? Der Einsatz von Gewalt im Interesse der Religion kann von der Zeit der Makkabäer bis zum heutigen Staat Israel nachvollzogen werden.

In einer Zeit, die zumindest in Theorie das Ideal der Gewaltfreiheit vertritt, ist die Ausübung von Gewalt gerade im Namen der Religion ein Skandal. Auch wenn man von den vielen Fällen absieht, in denen Religion nur scheinbar Gewalt begründet oder rechtfertigt, zeigt doch ein Blick in die Geschichte: Jede Religion, besonders aber jede monotheistische Religion, die ja Anspruch auf den ausschließlichen Besitz der Wahrheit erhebt, neigt dazu, diese Wahrheit mit allen Mitteln, auch gewaltsamen, durchzusetzen. Die biblische Tradition bildet hier keine Ausnahme. Wie aus der oft so blutigen Spur biblischer Geschichte schließlich eine religiöse Tradition entstehen konnte, die das Ideal der Gewaltfreiheit auf ihre Fahnen geheftet hat - auch wenn die Spannung zwischen diesem Ideal und der Neigung zur praktischen Durchsetzung eigener Vorstellungen durch Gewalt nie ganz aufgelöst wurde -  dem sei im Folgenden kurz nachgegangen.

Spur der Gewalt im Alten Testament

Kritiker religiöser Weltbilder - so in unserer Zeit besonders nachhaltig Karlheinz Deschner mit seiner "Kriminalgeschichte des Christentums" verweisen gern auf die Blutspur, die sich durch das Alte Testament zieht. Am Anfang Israels steht der Tod aller Erstgeborenen Ägyptens (Ex I1), dann der Untergang des gesamten ägyptischen Heeres, das dem ausziehenden Israel nachjagt, im Schilfmeer: "Nicht ein einziger von ihnen blieb übrig". Was hier geschieht, erfolgt nicht durch menschliche Gewalt, sondern durch wunderbares Eingreifen des rettenden Gottes, was jedoch den Eindruck nicht verbessert. Auch im auserwählten Volk selbst können religiöse Ideale erst durch Gewalt durchgesetzt werden. Die Israeliten, die sich während Moses Abwesenheit in der Wüste ein goldenes Kalb gegossen haben, werden auf Befehl Moses getötet: "So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte.

Aufgespießt auf Pfählen, mit Lanzen durchbohrt

Vom Volk fielen an jenem Tage gegen dreitausend Mann" (Ex 32,27f). Völlig ausgerottet werden etwas später auch jene Israeliten, die sich mit moabitischen Frauen eingelassen und an deren Opferfesten teilgenommen haben. "Der Herr sprach zu Mose: Nimm alle Anführer des Volkes, und spieße sie für den Herrn im Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des Herrn von Israel abwendet" (Num 25,4). Zur Strafe für Israel bricht eine Plage aus, der 24.000 Mann zum Opfer fallen. Sie endet erst, als Pinhas einen in flagranti mit einer Moabiterin ertappten Israeliten mit seiner Lanze durchbohrt. Pinhas, fortan Leitbild aller religiösen Zeloten, wird für sein Tun belohnt: "Ihm und seinen Nachkommen wird der Bund des ewigen Priestertums zuteil, weil er sich für seinen Gott ereifert und die Israeliten entsühnt hat" (Num 25,13).

Völker die das Land bewohnten, müssen ausgerottet werden

Bei der Landnahme, der Eroberung des verheißenen Landes, heißt es dann immer wieder, dass Israel alle Völker ausrotten muss, die vor ihm im Land gewohnt haben: Israel muss sie der Vernichtung weihen, darf keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen (z.B. Dtn 7). Exemplarisch ist die Einnahme von Jericho: "Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel" (Jos 6,21 ). Auch später hört religiöse Gewalt nicht auf, wenn z.B. der Eiferer Elija am Karmel 450 Baalspriester am Bach Kischon töten lässt (1 Kön 18,22.40). Dazu kommt besonders im Buch Deuteronomium geradezu als Refrain im Zusammenhang mit todeswürdigen religiösen Vergehen immer wieder die Aufforderung: "So sollst du das Böse aus deiner Mitte wegschaffen" (Dtn 13,6; 17,7.12; 19,19; 21,21; 22,21.22.24; 24,7). Damit wird ein Sohn, der seinen Eltern nicht gehorcht, ebenso bedroht wie der falsche Zeuge oder falsche Prophet, wer das priesterliche Gericht nicht anerkennt oder auch eine ganze Stadt, die vom wahren Glauben abfällt.

Texte sind nicht tatsachenbezogen

Es würde zu weit führen, auf diese und viele andere Texte im Detail einzugehen. Auch wenn sich diesen Texten viele andere entgegenstellen lassen, die jede Gewalt und Selbstjustiz strikt ablehnen, bleibt der Eindruck einer auch und vor allem im Namen der Religion blutrünstigen Zeit. Um die Texte in ihrem Rahmen richtig zu verstehen, ist darauf zu verweisen, dass sie im allgemeinen nicht einfach Tatsachen schildern wollen. Es ist erzählte, nicht wirklich geschehene Geschichte. Deutlich wird das dort, wo man Texte noch überprüfen kann, etwa im Bereich der Landnahme. Wenn das meiste biblisch Erzählte so gar nicht geschehen ist, warum erzählt man es dann so? Es ist auffällig, dass die meisten dieser breit erzählenden Texte ziemlich spät sind, also erst nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil anzusetzen sind. Aus der damaligen Erfahrung, nämlich wie schwer es ist, in einer Umwelt voll von konkurrierenden religiösen Systemen die eigene Religion unvermischt zu bewahren, sucht man eine Erklärung, wie das denn in den Anfängen gewesen sein mag, im goldenen Zeitalter, als Israel die Offenbarung am Sinai empfing und das Land der Verheißung in Besitz nahm.

Vermeidung des Vermischens mit anderen Religionen

Vor allem die deuteronomistischen Erzähler betonen immer wieder, dass die Reinerhaltung der Religion nur dadurch gelang, dass die Verehrer des wahren Gottes unvermischt lebten, ohne Kontakt mit fremden Religionen und in ständiger Selbstreinigung von allem Bösen. Nur in einem von allem Fremden bereinigten Land konnte Israel dem Bund vom Sinai treu bleiben, das Land als ihm nur geliehenes Eigentum Gottes rein und heilig halten und der ständigen Versuchung entgehen. Vereinfacht gesagt: Ideal lässt sich die Religion nur verwirklichen, wenn sie nicht ständig der Anfechtung durch andere Anwerbungen ausgesetzt ist. Zumindest in den idealen Anfängen muss es so gewesen sein, und das war nur möglich, wenn Israel bei der Landnahme das Land von allen Vorbewohnern gereinigt oder überhaupt gleich ein unbewohntes Land angetroffen hatte. Sicher war das Leben insgesamt damals mehr von Gewalt durchsetzt, als wir uns heute vorstellen können; weithin werden deshalb in der Bibel aus der Gewalterfahrung der eigenen Zeit entnommene Bilder eingesetzt, bloß um damit das Ideal der Abgrenzung von allem Bösen auszudrücken. Für den heutigen Leser bleibt natürlich der Anstoß der biblischen Sprache und Bildwelt, die immer von neuem der Übersetzung bedarf, dass dies nicht erst heute so verstanden wird, sieht man klar in der Umformung so mancher früherer Erzählungen, etwa über David, in den Büchern der Chronik.

Sensibilität gegenüber der Todesstrafe fehlte früher

Was die vielfach in der Bibel angedrohten Todesstrafen betrifft, ist einerseits festzuhalten, dass wir in den seltensten Fällen auch Erzählungen von der tatsächlichen Anwendung dieser Strafen finden; andererseits fehlt in diesen frühen Jahrhunderten einfach noch die Sensibilität gegenüber jeder Todesstrafe, die den meisten von uns heute - noch nicht sehr lange! - eigen ist; für damals mußte ihre Einschränkung im Rahmen einer geordneten Justiz bereits einen enormen Fortschritt in Richtung Humanisierung darstellen. Zeiten und Mentalitäten ändern sich. Wie aber geht eine vielfach gewandelte Zeit mit dem Erbe solcher Texte um, die man als heiliges Vermächtnis der eigenen Religion versteht? Man könnte hier natürlich mit Recht darauf verweisen, dass heilige Texte immer selektiv rezipiert wurden und dass dabei immer mehr jene Linien ausgezogen wurden, die eine zunehmende Humanisierung und Verinnerlichung der Religion bedeuteten. Hier aber muss doch zuerst dem auch in der Bibel angelegten Nachlass gewaltsamer Durchsetzung religiöser Ansprüche nachgegangen werden.

Der Aufstand der Makkabäer

In biblischer Zeit finden wir nach der Landnahme nirgends wirklich religiös motivierte Kriege. Das erste Beispiel dafür ist der Aufstand der Makkabäer in der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Gegen die zunehmende Hellenisierung Jerusalems, die fortschreitende Assimilierung selbst vieler Priester und die durch fremde Riten erfolgte Entweihung des Tempels unter Antioches Epiphanes regt sich Widerstand. Mattatias wehrt sich gegen die Entwicklung: "Wir gehorchen den Befehlen des Königs nicht und wir weichen weder nach rechts noch nach links von unserer Religion ab." In diesem Augenblick sieht er einen Juden, der ein heidnisches Opfer darbringt. "Da packte ihn leidenschaftlicher Eifer ... und er ließ seinem gerechten Zorn freien Lauf: Er sprang vor und erstach den Abtrünnigen über dem Altar" (1 Mak 2,22.24). Der Text schildert dann, wie Mattatias mit seinen sieben Söhnen, den Makkabäern, den bewaffneten Widerstand organisiert. "Sie stellten eine bewaffnete Streitmacht auf, und sie erschlugen die Sünder in ihrem Zorn . .. Wer übrig blieb, musste zu den Nachbarvölkern fliehen, um sein Leben zu retten ...Sie zogen durch das ganze Land und rissen die Altäre nieder. Alle unbeschnittenen Kinder, die sie in dem Gebiet Israels fanden, beschnitten sie gewaltsam ... Sie entrissen das Gesetz der Gewalt fremder Völker und der Hand der Könige. Dem Sünder ließen sie keine Möglichkeiten" (2,44-48). In seinen letzten Worten an seine Söhne erinnert Mattatias an das Vorbild der biblischen Eiferer: "Pinhas, unser Ahnherr, ereiferte sich für Gottes Sache und empfing den Bund ewigen Priestertums ... Elija kämpfte mit leidenschaftlichem Eifer für das Gesetz und wurde in den Himmel aufgenommen ..." (2,54.58).

Religionskrieg weitete sich aus

Was unter religiösem Vorzeichen begonnen hatte, ging schnell darüber hinaus. Auch nach der Wiedererlangung des Tempels und seiner Reinigung kämpft man weiter. Am Schluss steht ein fast völlig unabhängiges jüdisches Reich, in dem die Nachfahren der Makkabäer in Personalunion Könige, Hohepriester und oberste Militärführer waren. Eroberte Gebiete wurden zwangsweise der jüdischen Religion unterworfen: sicher der Süden des Landes - Idumäa, woher Antipater und sein Sohn Herodes stammten, wahrscheinlich auch Galiläa - das "Galiläa der Heiden" - , über dessen religiöse Unzuverlässigkeit man sich noch lange zu beklagen hatte. Johannes Hyrkan führte gegen die Samaritaner Krieg und zerstörte ihr Heiligtum und ihre Siedlung auf dem Garizim. Unter Alexander Jannai hatte das Reichsgebiet wieder fast den Umfang des Staates Israel unter David erreicht. Die Ideologie des Heiligen Landes, in dem allein das Gesetz der biblischen Religion gelten durfte, konnte den Machtansprüchen der Hasmonäer nur dienlich sein.

Religiöse Vorwände auch zur Bekämpfung innenpolitischer Gegner

Die weitere Geschichte zeigt, wie Gewalt für religiöse Zwecke bald Eigendynamik gewinnt und auch in der Innenpolitik Gegner unter religiösen Vorwänden immer mehr bekämpft wurden. Die Entstehung der jüdischen Religionsparteien in der Makkabäerzeit und die Geschichte ihrer Auseinandersetzungen ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Anfangs stützen sich die hasmonäischen Könige auf die Pharisäer, wenden sich dann aber von ihnen ab, schaffen die pharisäischen Gesetzestraditionen ab und verbünden sich mit den Sadduzäern. Nach Jahren des Bürgerkriegs empfiehlt der sterbende Alexander Jannai seiner Frau, nach seinem Tod wieder die Pharisäer an der Macht zu beteiligen, was diese dazu ausnützen, ihre sadduzäischen Gegner gewaltsam und blutig zu verfolgen. Die Essener, die sich schon früher aus dem aktuellen politischen Geschehen zurückgezogen hatten, wurden in der Wüste am Versöhnungsfest (so nach eigenem Kalender, der von jenem in Jerusalem abwich) von Alexander Jannai überfallen. Bei Josephus Flavius, zum Teil nun auch in manchen Texten von Qumran, finden wir detailreich die Schilderung dieser steten Eskalation der Gewalt, die oft nur noch oberflächlich religiös begründet wurde.

Religiöse Gewalt durch die Bewegung der Zeloten

Neue direkt religiöse Impulse bekam die Bereitschaft zur Gewalt in der Bewegung der Zeloten, die Judas der Galiläer von den Pharisäern abspaltete, als 6 n. Chr. Judäa in eine römische Provinz umgewandelt wurde. "Er erklärte es für einen Frevel, wenn sie weiter an die Römer Steuern zahlen und nach Gott irgendwelche sterbliche Gebieter auf sich nehmen würden" (Josephus, BJ II 117-118). Es blieb aber nicht bei der Steuerverweigerung aus religiösen Gründen. Überzeugt davon, dass das Land Israel als Gottes Erbbesitz rein und heilig bleiben müsse, drängten sie immer mehr darauf, dass Römer sich in Judäa nur aufhalten durften, wenn sie sich an bestimmte Vorschriften hielten, vor allem nicht ihre Feldzeichen mit den "heidnischen" Abbildungen mitbrachten; einen als Dekoration am Tempel angebrachten Adler entfernte man gewaltsam, setzte immer striktere Maßstäbe, was die Reinheit des heiligen Landes beeinträchtigte, und wusste dies auch mit Gewalt durchzusetzen. Somit war es nicht nur die mangelnde Sensibilität der römischen Besatzung, sondern auch der steigende Radikalismus bestimmter Kreise im Judentum, die zu immer neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen führten und im Jahre 66 in den Krieg gegen Rom mündeten.

Innerpharisäischer Streit 

Nach einer - historisch wenig brauchbaren - rabbinischen Erzählung (pal. Talmud Schabbat I,2) - stand am Anfang des Krieges ein innerpharisäischer Richtungsstreit: die Schule Schammais setzte sich mit einer Reihe von Bestimmungen durch, die das Judentum radikal von den Nichtjuden abgrenzte und auch kein Opfer von Nichtjuden mehr im Tempel annahm. Der Streit zwischen den beiden Gruppen der Pharisäer soll damals so eskaliert sein, dass Anhänger der Schule Schammais solche der Schule Hillels mit Waffengewalt daran hinderten, an der Abstimmung teilzunehmen. Ein später Text will sogar davon wissen, dass damals 3000 Anhänger der Schule Hillels gefallen seien - ebenso viele wie nach der Geschichte vom Goldenen Kalb.

Essener verhielten sich zurückhaltender

Die Essener hielten sich in ihrer Machtlosigkeit weithin aus den verschiedenen Streitigkeiten heraus, was aber nicht heißt, dass sie Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele absolut ablehnten. Nur machten sie aus ihrer Ohnmacht eine Tugend und verlegten, darin apokalyptischer Tradition folgend, die Auseinandersetzung zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis an das Ende der Zeiten. Dann aber würden die Anhänger der Lebensform und Lehre von Qumran, angeführt vom Messias und den Priestern, in Gemeinschaft mit den Engeln die Mächte des Bösen völlig vernichten, wie es in der "Kriegsrolle" heißt, einem Text, der sich einerseits auf ein römisches Militärhandbuch stützt, zugleich aber den Endkrieg wie eine Liturgie schildert (man vergleiche die Eroberung Jerichos in Jos 6), in der man sich ganz auf die himmlischen Mächte verlassen kann. Dass man aber, wenn sich die Gelegenheit bot, nicht erst auf ein fernes Ende wartete, zeigt die Tatsache, dass sich auch Essener am Krieg gegen Rom beteiligten und einige der führenden Kommandanten stellten. Auch bei der Verteidigung von Masada sind wohl manche von ihnen bis zum Schluss dabei gewesen.

Durch Gewaltlosigkeit zum Erhalt des Judentums

In den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach 70, nach dem Verlust des Tempels und der letzten Reste von Eigenstaatlichkeit, versuchten die Rabbinen eine religiöse Ideologie zu entwickeln, die der nun völligen Machtlosigkeit des Judentums Rechnung trug und ein Überleben sicherte. Nun mehrten sich die Stimmen, die menschliche Anwendung von Gewalt immer nachdrücklicher ablehnten, auch wo es um Fragen der Religion ging, und immer mehr, wenn auch durchaus nicht konsistent, auf ein Ideal der Gewaltlosigkeit hinstrebten. Davor hatte es allerdings noch den zweiten großen Aufstand unter Bar Kochba gegeben (132-135), in dem man nochmals mit totalem militärischem Einsatz die Erneuerung des Tempels in Jerusalem und die Durchsetzung biblischer Ordnungen zu erreichen und auch Judenchristen mit Methoden des Terrors zur Beteiligung am messianischen Aufstand zu zwingen versuchte. Schon zuvor, in den Jahren 115-117, hatte ein wohl auch messianisch motivierter Aufstand die großen Zentren der östlichen Diaspora in Blut und Schrecken untergehen lassen: Um diese Zeit in der Cyrenaike zerstörte griechische Tempel und Theater zeigen, welche Urgewalt der Zerstörung damals losbrach, und eine Reihe zeitgenössischer Papyri aus Ägypten belegt, welche panische Angst vor den jüdischen Aufständischen damals die ägyptische Bevölkerung erfasste. Rückblickend gesehen, gehören diese blutigen Ereignisse, in denen die wichtigsten Zentren der Diaspora auf lange Zeit völlig zerstört wurden und auch Judäa als jüdisches Zentrum fast jede Bedeutung verlor, noch zu den Nachwehen des Jahrhunderts der Gewalt.

Die Auslegung biblischer Texte

Die Rabbinen mit ihrer eher pazifistischen Linie konnten sich nur langsam im Volk Gehör verschaffen. Interessant ist zu sehen, wie sie ihre Positionen im Umgang mit dem biblischen Text entwickeln und dabei auch mit Texten fertig werden, deren Gewaltpotential nicht zu übersehen ist. Anders als in der christlichen Tradition erklärt man diese Texte nicht einfach als abgetan und nicht mehr gültig, sondern beherrscht sie durch Auslegung. Am radikalsten zeigt sich diese Tendenz in der Auslegung von zwei Texten aus dem Deuteronomium, die jeweils mit der Aufforderung schließen: "Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen." Der eine Text spricht vom "störrischen und widerspenstigen Sohn", der den Eltern nicht gehorcht und am Tor der Stadt zu steinigen ist (Dtn 21,18-21 ), der andere von einer Stadt, die vom Jahweglauben abfällt und die völlig vernichtet werden muss (Dtn 13,13-19). Von beiden sagen die Rabbinen: Das "hat es nie gegeben und wird es nie geben. Warum steht es dann geschrieben? Damit du auslegest und Lohn empfangest" (Sanhedrin 71a). Man kann die Texte, so wie sie sind, nicht in die Praxis umsetzen; dazu fehlt die Macht, dagegen ist auch das gewandelte sittliche Empfinden. Daher interpretiert man die Texte so wortwörtlich und buchstäblich, dass sie in der Praxis nicht mehr anwendbar sind.

Der Umgang mit der Todesstrafe

Dieselbe Tendenz sieht man auch in der Besprechung der biblischen Todesstrafe. Zwar beschreibt noch die Mischna ausführlich, welche Todesstrafen für welche Vergehen zu verhängen sind. Doch bleibt dies weithin theoretisches Recht. Aus der Bibel entnommene Vorschriften für das Beweisverfahren vor Gericht werden so strikt angewendet, dass ein Verbrechen fast nicht mehr verfolgt werden kann. Das gilt insbesondere durch die strengen Anforderungen an die beiden Zeugen, die gemeinsam und einhellig das Verbrechen bezeugen und die selbst den entscheidenden Akt gesehen haben müssen. Meist muss man daher, auch wo der Tatbestand völlig sicher ist, das Urteil Gott überlassen: "Möge der, der die Gedanken kennt, den Mann zur Rechenschaft ziehen, der seinen Genossen ermordet hat" (Sanhedrin 37b). So kommt man in der Mischna zum Schluss: "Ein Gerichtshof, der auch nur einen Menschen in sieben Jahren hinrichten lässt, heißt Verderber. R. Eleasar ben Asarja sagt: Auch schon bei einem in siebzig Jahren. R. Tarfon und R. Aqiba sagen: Wären wir im Gerichtshof gesessen, wäre nie ein Mensch hingerichtet worden" (Makkot 1,10).

Die Unterscheidung von Kriegen

Eine ähnliche Entwicklung sieht man bei den Rabbinen, wenn sie sich mit der Möglichkeit eines Krieges befassen. Sie unterscheiden den gebotenen Krieg vom erlaubten Krieg: Muster des ersten sind die im Buch Josua beschriebenen Kämpfe bei der Landnahme, Beispiel des zweiten die Expansionskriege Davids. In Dtn 20 wird bestimmt, dass beim Volksheer nicht mitmachen muss, wer gerade geheiratet hat, wer ein neues Haus noch nicht eingeweiht hat usw., ja auch, wer ganz einfach zu feige ist. Die Mischna diskutiert ausführlich diesen Text (Sota 8) und deutet die Befreiungsgründe exzessiv. Was bleibt, ist ein reines Freiwilligen-Heer. Auch hier gilt wie bei den Todesstrafen: Man hat sich damit zu befassen, weil es in der Bibel steht. Da die eigene Lebenserfahrung aber zeigt, dass man als Jude die Gewalt des Krieges wie der Gerichtsbarkeit nur erleidet, nicht aber selbst aktiv darin eingreifen kann, lehnt man sie immer mehr ab. Die Mischna rechnet zwar noch mit der Möglichkeit, dass in bestimmten Fällen, wo das jüdische Gericht keine Macht mehr hat, Fanatiker das Recht in ihre Hand nehmen und den Übeltäter lynchen können, so etwa, wenn ein Priester im Tempel den Dienst in Unreinheit verrichtet, oder auch, wenn ein Jude mit einer Nichtjüdin schläft (Sanhedrin 9,6). Der talmudische Kommentar dazu verweist auf das Beispiel des Pinhas und erklärt: "Wer eine Aramäerin heiratet und mit ihr Kinder zeugt, lässt Feinde für Gott erstehen." Doch heißt es hier auch ausdrücklich, dass solche Lynchjustiz nicht dem Willen der Rabbinen entspricht (pal. Talmud, Sanhedrin 9,11,27b). Immerhin sind hier Ansätze auch zu einem aktiveren Einsatz der Gewalt für religiöse Ziele. Im allgemeinen aber sind die Rabbinen immer mehr gegen jede Gewalt aufgetreten, die eigene Machtlosigkeit hat diese Entwicklung gefördert, wenn nicht gar erst ermöglicht.

Recht auf Tötung bei Bedrohung der jüdischen Gemeinde

Im Mittelalter führen jüdische Autoren im allgemeinen diese Linie weiter, auch wenn es in einer Zeit zunehmender Rechtslosigkeit dazu kommt, dass man im Einzelfall bereit ist, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die für diese eine existentielle Bedrohung bedeuten (etwa durch Denunzierung vor nichtjüdischen Behörden), gleichsam in Notwehr formlos zu töten. Dabei beruft man sich vor allem auf Ex 22,1, wonach ein nächtlicher Einbrecher, der ertappt und dabei tödlich verletzt wird, keine Blutschuld auslöst, wohl aber, wenn er erst bei hellem Tag getötet wird. Auswirkungen hatte auch die umfassende Besprechung sämtlicher biblischer und rabbinischer Gebote im Mischne Tora des Maimonides (1138-1205). In vielen Fällen des religiösen Strafrechts, wie in der Tora verbotenen Praktiken der Wahrsagerei oder sogar den meisten Formen des Götzendienstes, sieht er Auswirkungen von Wahnsinn oder Irrtum und damit keine strafbaren Handlungen. Er befasste sich in seinem Streben, so umfassend wie möglich zu sein, aber auch mehr als andere mit dem Kriegsrecht und ist daher für orthodoxe Kreise auch heute eine wesentliche Autorität, wie der Staat Israel mit dem Krieg umgehen soll.

Berufung auf Maimonides möglich

Doch ist gerade durch die Zusammenfassung aller Vorschriften, von der Bibel an über die verschiedenen Stufen der Tradition, es auch Vertretern verschiedenster Meinungen möglich, sich auf Maimonides zu berufen, solange man nicht den größeren Kontext beachtet. Zumindest im Vorübergehen sei hier auch Moses Mendelssohn (1729-1886) genannt, der in seiner Schrift "Jerusalem. Oder: Über religiöse Macht und Judenthum" praktisch die Anwendung jeder Form von Gewalt oder Zwang zur Durchsetzung religiöser Ziele ablehnte und damit über die Ablehnung rein physischer Gewalt im Namen der Religion weit hinausging. Im Grunde war damit die völlige Trennung von Religion und Staat eingeleitet, der Staat als der einzige Ort bestimmt, wo eventuell legitim Gewalt angewendet werden darf.

Gewalt im Namen der Religion in der Gegenwart?

Wenn wir uns abschließend der heutigen Situation zuwenden, könnte man im Prinzip kurz sagen, dass sich die Entwicklung von den Rabbinen bis zu Mendelssohn durchgesetzt hat. Das gilt auch vom Staat Israel. Die verschiedenen Kriege, in die der Staat von Anfang an verwickelt war, sind in keiner Weise religiös begründet. Das schließt nicht aus, dass es bestimmte religiöse Tendenzen und Strömungen gibt, die aus einer religiös motivierten Ideologie des Heiligen Landes dessen Heiligkeit und somit die Einhaltung der Tora fordern. Es sollte damit idealerweise rein jüdisch sein, sich so leichter für den Militärdienst gewinnen lassen und in der Verteidigung der jüdischen Integrität des Landes einen "Pflichtkrieg" sehen. Allgemein aber spielen hier religiöse Gründe keine Rolle, und man kann nicht von Glaubenskriegen sprechen.

Juden dürfen über Juden kein Todesurteil aussprechen

Ein Punkt verdient hier besondere Erwähnung: Das Recht des Staates Israel sieht keine Todesstrafe vor, obwohl im allgemeinen der größte Teil des Rechts aus dem türkischen bzw. angelsächsischen Recht abgeleitet ist, das im Land vor der Gründung des Staates Israel galt. Dabei dominiert der Grundsatz, dass Juden nicht über Juden den Tod verhängen sollten; doch gilt das Recht ganz allgemein, auch für Nichtjuden in Israel. Schon vor Staatsgründung plädierte Oberrabbiner Herzog gemäß jüdischem Recht gegen die Todesstrafe; 1954 wurde sie auch offiziell abgeschafft. Einzige Ausnahme in den fünfzig Jahren der Geschichte des Staates war der Fall Eichmanns, der prototypisch als "Verfolger" Israels (rodef) galt und hingerichtet wurde.

Dennoch kam es zur Eskalation der Gewalt

Man kann natürlich nicht verschweigen, dass es in den letzten Jahren eine Eskalation von Gewalt auch im Namen bzw. unter dem Vorwand der Religion gegeben hat. Wer erinnert sich nicht an Meir Kahane, der ständig Gewalt predigte und schließlich in New York selbst einem Attentat zum Opfer fiel. Vor allem aber Baruch Goldstein ist hier zu nennen, der in der Moschee an den Patriarchengräbern in Hebron eine Anzahl von Betern von hinten niederschoss, ehe er selbst durch einen tödlichen Schuss gestoppt werden konnte. Der Fall als solcher ist tragisch genug. Welche Motive im einzelnen Goldstein bewogen haben und wie dominant dabei religiöse Gründe waren, wird wohl nie ganz geklärt werden können. Höchst bedrohlich aber wirkt die Tatsache, dass er in zahlreichen Todesanzeigen als Märtyrer gepriesen wurde, der für die Heiligung des Namens Gottes gestorben sei, und dass sein Grab am Ortseingang von Kirjat Arba bis heute fast ein Wallfahrtsort geworden ist - erst kürzlich hat der Ortsrabbiner entschieden, dass das Grab aus religiösen Gründen nicht verlegt werden darf. Das zeigt, dass die Bereitschaft zu Gewalt und Verherrlichung von Gewalt im Namen der Religion über gewisse Einzelfälle hinausgeht.

Die Ermordung Jizchak Rabbins

Auch die Ermordung von Jizchak Rabin ist hier zu erwähnen. Der Mörder kam ja nicht nur aus der religiösen Universität von Bar Ilan, sondern hatte sich auch auf ein rabbinisches Gutachten gestützt, wonach Rabin aufgrund seiner konzessionsbereiten Politik eine Bedrohung nationaljüdischer Interessen darstelle und daher wie ein rodef, ein "Verfolger" Israels, in Notwehr getötet werden könne. Auch Jigal Amir war nicht einfach ein irregeleiteter Einzeltäter, sondern hat noch immer seine Bewunderer in gewissen religiösen Kreisen. Neben diesen spektakulären Einzelfällen darf man natürlich auch die eher alltäglich gewordene Gewalt nicht vergessen - man denke nur an die Bilder von Juden in orthodoxer Tracht, die am Sabbat Steine auf Autos werfen, und ähnliche immer häufiger werdende Vorfälle. Hier macht sich ein moderner Zelotismus bemerkbar, der eigene religiöse Vorstellungen auch mit physischer Gewalt durchzusetzen bereit ist. Im säkularen Staat Israel ist das noch ein Randphänomen, das aber zunimmt und zu Recht von vielen als bedrohliche Entwicklung gesehen wird. Der Staat, vor allem aber die religiöse Gemeinschaft, steht hier vor der wichtigen Aufgabe, diese Entwicklungen einzudämmen und durch Erziehung zu überwinden.

Jüdische Religion lässt sich nicht auf den privaten Bereich beschränken

Hier zeigt sich aber auch, dass jüdische Religion sich nie auf den Privatbereich des einzelnen reduzieren lässt - sosehr dies auch ein Mendelssohn und andere angestrebt haben mögen; sie ist und bleibt eine Religion, die das ganze Leben in all seinen Ausprägungen bis in den Bereich des Politischen umfasst und zumindest im Land der Verheißung nach biblischem Recht das gesamte Leben bestimmen möchte. Somit hängt die Vorstellung, was diese Verheißung des Landes für die Gegenwart bedeuten kann, eng mit eventueller Bereitschaft zu Gewalt im Namen der Religion zusammen. Es gibt gewisse Stränge in der mehrtausendjährigen biblischen und jüdischen Tradition, die - isoliert für sich genommen - zu einer steigenden Bereitschaft zu religiöser Gewalt beitragen. Ich glaube doch, dass das allgemeine Gefälle der Traditionsentwicklung und ihre wesentlichen Leitlinien das Judentum grundlegend zu einer Religion werden ließen, die Gewalt unter religiösem Vorzeichen ablehnt. Jahrhunderte erlittener Geschichte, die lange eigene Erfahrung einer Existenz als gerade geduldeter, oft auch verfolgter Minderheit, haben wesentlich zu diesem Lernprozess beigetragen. Auch wenn es manchmal den Anschein hat, dass die Herrschaft über ein Land bei manchen die Perspektive verändert, kann man berechtigt hoffen, dass der Prozess unumkehrbar ist, dass Gewalt im religiösen Diskurs des Judentums jedes Recht verloren hat.

 

Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Spur der Gewalt im Alten Testament

>> Aufgespießt auf Pfählen, mit Lanzen durchbohrt

>> Völker die das Land bewohnten, müssen ausgerottet werden

>> Texte sind nicht tatsachenbezogen

>> Vermeidung des Vermischens mit anderen Religionen

>> Sensibilität gegenüber der Todesstrafe fehlte früher

>> Der Aufstand der Makkabäer

>> Religionskrieg weitete sich aus

>> Religiöse Vorwände auch zur Bekämpfung innenpolitischer Gegner

>> Religiöse Gewalt durch die Bewegung der Zeloten

>> Innerpharisäischer Streit

>> Essener verhielten sich zurückhaltender

>> Durch Gewaltlosigkeit zum Erhalt des Judentums

>> Die Auslegung biblischer Texte

>> Der Umgang mit der Todesstrafe

>> Die Unterscheidung von Kriegen

>> Recht auf Tötung bei Bedrohung der jüdischen Gemeinde

>> Berufung auf Maimonides möglich

>> Gewalt im Namen der Religion in der Gegenwart?

>> Juden dürfen über Juden kein Todesurteil aussprechen

>> Dennoch kam es zur Eskalation der Gewalt

>> Die Ermordung Jizchak Rabbins

>> Jüdische Religion lässt sich nicht auf den privaten Bereich beschränken

 
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