Fachartikel

Israels Pilgerweg durch die Geschichte

Von Kurt Schubert (Biografie)

 

Der Begriff "Heilsgeschichte" (hebr. Toledot) ist eine Erfindung des alttestamentlichen Israel. Nach diesem Verständnis ist die Geschichte der eigentliche Ort der Offenbarung Gottes. Die Geschichte Israels bewegt sich zwischen dem Glauben Abrahams und der Gabe des Gottesgesetzes, der Tora, an ihrem Anfang sowie der messianischen Zeit an ihrem Ende. Die Zeiten dazwischen gehören den "weltlichen Völkern", für die Geschichte bloß Machtpolitik ist - ohne Heilsdimension. Nicht politische oder militärische Ereignisse entscheiden aber für Israel den Lauf der Geschichte, sondern einzig sein Treueverhältnis zum Bundesgott. Diese Hoffnung machte Israel sein Überdauern möglich - als seinen Pilgerweg in der Geschichte.

Grundlegend für das Selbstverständnis des Judentums ist die Auslegung seiner eigenen Geschichte. Am Beginn der Geschichte Israels steht nicht irgendeine Geschichtsstunde, sondern die Glaubenszeit: der Glaube Abrahams (Gn 15,6) und der Glaube des ganzen Volkes am Sinai (Ex 19,8; 24,7). Somit ist für Israel die Geschichte kein rein politisches Phänomen, wie es für andere Völker gelten mag, sondern Heilsgeschichte. Dem entsprechend soll auch das Ende dieser Geschichte wieder ein heilsgeschichtliches Ereignis bestimmen, nämlich das Anbrechen der messianischen Zeit. Für Israel ist diese Zukunftshoffnung genau so real wie die Heilsvergangenheit, die Errettung aus der Knechtschaft in Ägypten durch den starken Arm Gottes unter Zeichen und Wundern.

Heilsgeschichtliches Bewusstsein

Dieses "heilsgeschichtliche" Bewusstsein findet u.a. in der Pessach-Haggada, der Liturgie des Festes der jüdischen Osternacht, seinen Niederschlag. Israels Geschichte ist also eingebettet zwischen Heilsvergangenheit und Heilszukunft. Vergangenheit und Zukunft, nicht die bloße Gegenwart, sind die entscheidenden Faktoren im jüdischen Geschichtsbewusstsein. Die jeweilige Gegenwart wird von den weltlichen Völkern, den "ummot ha’olam" bestimmt, die für die Dauer solcher Geschichtsstunden entstehen und nach solchen auch wieder vergehen. Somit kann man Israels Weg in der Geschichte auch als einen Pilgerweg bezeichnen, denn Geschichte ist von ihrem religiösen Verständnis her im Judentum nichts anderes als der einzig mögliche Weg zur heilsgeschichtlichen Vollendung. Damit wird schon allein die beständige Existenz des Judentums, d.h. sein Nicht-Untergehen-Können in der Geschichte, wie zu einer Erfüllung seiner Sendung in dieser Welt. Denn Israel und die Weltgeschichte haben ein und dasselbe heilsgeschichtliche Ziel: die Zeit des Messias.

Das Verständnis der Rabbinen

Nach rabbinischem Verständnis wurde die Tora, das heilige Gottesgesetz, nicht im Lande Israel, sondern außerhalb des Landes - eben auf dem Sinai - zuerst den weltlichen Völkern und dann erst Israel angeboten - nachdem die ersteren "Geschichtsvölker" sie abgelehnt hatten. Esau, Ammon, Moab und Ismael sind hier die Chiffren für die weltlichen Völker. So heißt es in dem Midrasch Mekhilta, Bachodesch 5 zu Ex 20,2: "Aus diesem Grund wurden auch die Weltvölker aufgefordert, damit sie nicht argumentieren und sagen können: ,Wenn wir aufgefordert worden wären, hätten wir die Tora angenommen.‘ Sie sind ja aufgefordert worden und haben sie nicht angenommen, denn es heißt: ,Der Herr kam vom Sinai‘ (Dt 33,2). Er erschien (zunächst) den Söhnen Esaus, des Frevlers, und sprach zu ihnen: ,Wollt ihr die Tora auf euch nehmen?‘ Sie antworteten ihm: ,Was steht darin geschrieben?‘ Er antwortete darauf: ,Du sollst nicht unzüchtig sein‘ (Ex 20,12). Sie antworteten ihm: ,Wir alle entstammen doch der Unzucht‘, denn es heißt, ,Und es wurden die beiden Töchter Lots von ihrem Vater schwanger‘ (Gn 19,36). Dann erschien er den Söhnen Ismaels und sprach zu ihnen: ,Wollt ihr die Tora auf euch nehmen?‘ Sie antworteten ihm: ,Was steht darin geschrieben?‘ Er antwortete: ,Du sollst nicht stehlen.‘ (Ex 20,12) Sie antworteten ihm: ,Gerade das aber ist der Segen, mit dem unser Vater gesegnet wurde: Ein Wildling wird er sein, seine Hand wird auf Allen lasten‘ (Gn 16,12); und weiter steht geschrieben: ,Gestohlen wurde ich aus dem Lande der Hebräer‘ (Gn 40,15). Als er zu Israel kam, war ,zu seiner Rechten ein feuriges Gesetz für sie‘ (Dt 33,2). Alle öffneten ihren Mund und sprachen: ,Alles, was der Herr gesprochen hat, wollen wir tun und hören‘ (Ex 24,7)." Die Pointe dieser rabbinischen Erzählung ist klar: Die weltlichen Völker halten sich an die Regeln dieser Welt: Mord, grenzenlose Sinnlichkeit und Übervorteilung anderer. Daher haben sie die Tora nicht angenommen. Sie wollten zuerst wissen, was von ihnen gefordert wird. Israel jedoch nahm auf die Autorität Gottes hin das Gottesgesetz an. Die Israeliten sagten: Wir wollen es tun und dann erst hören, was von uns verlangt wird. Darin drückt sich nach jüdischem Verständnis der Unterschied zwischen dem Heilsgeschichtsvolk Israel und den profan-geschichtlichen Weltvölkern aus.

Zionsberg und Berg Sinai waren eigentlich ein Berg

Für die historische Zeit des Volkes Israel aber gilt der Satz in Jes 2,3: "Von Zion geht aus die Tora und das Wort des Herrn aus Jerusalem." Um die Gesetzgebung vom Sinai mit dieser zentralen Lehre des Judentums in Einklang zu bringen, meinten manche rabbinische Gelehrte, dass der Zionsberg und der Sinai ursprünglich ein Berg waren, der nur zum Zwecke der Gabe der Tora geheiligt wurde, sodass es sich hier nur äußerlich um zwei Berge handelt. So z.B. im Midrasch Tehilin zu Ps 68,15: "Und woher kam der Sinai? Nach Rabbi Josse (2. Hälfte 2. Jahrhundert) hatte er sich vom Berge Moria (i.e. Zion) losgetrennt ... vom Orte, wo unser Vater Isaak gebunden wurde, so geziemt es sich, dass seine Söhne auf ihm die Tora empfangen. Und woher lässt sich beweisen, dass er zu seinem Ort zurückkehren wird? Weil es heißt (Jes 2,2): ,Der Berg des Hauses des Herrn wird fest sein auf dem Gipfel der Berge (Plural!)‘." Der Berg Moria, der allgemein mit dem Tempelberg in Jerusalem identifiziert wurde (2 Chr 3,1), wird also hier mit aller Deutlichkeit mit dem Sinai gleichgesetzt.

Das "Land Israel"

Damit aber wird auch deutlich, dass das "Land Israel" das einzig verheißene Land ist. Somit blieb und bleibt es auch das Ziel der messianischen Erlösung. Schon die Vorgeschichte des Volkes Israel, die Patriarchengeschichte, wird in der Genesis von der Ideologie der vollzogenen Landnahme aus dargestellt. Die Geschichte Israels in seinem Land wird nur unterbrochen durch die Knechtschaft in Ägypten, auf die der Auszug aus Ägypten und damit die Rückkehr in das Land der Verheißung folgten. Auch in der Geschichtstheologie der Propheten bildet Israels Anspruch auf das Land Israel ein zentrales Thema. Die vorexilischen Propheten drohen mit dem Verlust des Landes, die exilischen und nachexilischen verkünden seinen Wiedererwerb. Besonders deutlich ist dies bei Amos 9,8c: "Nichts wird daraus. Denn nicht werde ich das Haus Jakobs vernichten, Ausspruch des Herrn (Glosse)."

Land und Messias sind eng verbunden

Das Thema "Messianismus" wäre also ohne Bezug auf das Land unvollkommen. Es ist eng verbunden mit der Dynastie des König David, dessen Nachkommen nach 2 Sm 7,11-16; 1 Chr 17,10-14; Ps 2.110 Adoptivsöhne des Bundesgottes Israels sein sollen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn der Prophet Chaggai schon bald nach der Gründung der nachexilischen Gemeinde den Davididen Zerubbabel messianisch akklamierte (Chag 2,20-22), obwohl sein Zeitgenosse Zacharia diesbezüglich zur Vorsicht mahnte (Zach 4,6: Nicht durch Kraft und nicht durch Macht). Durch die Erwartung eines messianischen Sohnes Davids hat die davidische Dynastie ideologisch somit ihr reales Ende überlebt. Das Erscheinen dieses neuen Sohnes Davids ist in der jüdischen Tradition fest verbunden mit dem "Qibbutz Galujot", mit der Rückkehr der Exilierten aus den Ländern der Diaspora in die altneue Heimat "Land Israel" und mit dem Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem. Illustrierte Pesach Haggadot (Liturgien der Osternacht) zeigen dabei am Ende den wieder aufgebauten Tempel, die aus allen Windrichtungen heimkehrenden Israeliten und den auf einem Esel reitenden König Messias (Zach 9,9). Das Ende der Geschichte ist somit die überzeugende Rechtfertigung für das Durchhalten Israels in der Geschichte.

Die naheschatologisch bestimmte Apokalyptik

In der zwischentestamentlichen, neutestamentlichen und früharabischen Zeit bildeten sich im Judentum jene Strukturen, die entscheidend blieben für die späteren Jahrhunderte. Ein wesentliches Element war zunächst die naheschatologisch bestimmte Apokalyptik. Man war der Meinung, dass das Übel bereits seine Grenzen erreicht habe, dass es so nicht weitergehen könne, dass also die messianische Zeit unmittelbar bevorstehe. Diese Grundeinstellung gemeinsam mit der Überzeugung, dass der Tempelkult in Jerusalem von unwürdigen Priestern, nach einem falschen Kalender und falschen rituellen Auffassungen begangen wird, führte z.B. etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zur Gründung der qumran-essenischen Gemeinschaft. Doch war das Judentum in der Zeit vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. alles andere als eine geschlossene Einheit. Es gab auch Widerspruch gegen die apokalyptischen akut messianischen Schwärmereien. Die Träger dieses Widerspruchs waren die im Synedrion vertretenen Pharisäer und Sadduzäer. Besonders die Pharisäer meinten, dass man das Ende nicht herbeidrängen, sich aber wohl ständig darauf vorbereiten solle. Einem im Habakukkommentar von Qumran um etwa 100 v.Chr. als Lügenmann bezeichneten Pharisäer wird dort vorgeworfen, dass er die eschatologische Botschaft des qumranischen "Lehrers der Gerechtigkeit" nicht akzeptiert habe.

Pharisäismus als Antwort auf allzu überschwängliches Warten auf die kommende Welt

Damit aber kommen wir schon zu einer für die gesamte jüdische Geschichte entscheidenden Position: Das Warten auf eine Erfüllung, die auf sich warten lässt! Der historische Pharisäismus war mit Sicherheit zunächst skeptisch allen eschatologisch-apokalyptischen Schwärmereien gegenüber eingestellt. Hält man die äußerst bild- und wortreichen apokalyptischen Texte, die auf die "kommende Welt" vorbereiten sollten (z.B. äthiop. Henoch etc), beispielsweise neben die nüchterne Aussage des Pharisäers Hillel um etwa 50 v. Chr., dann merkt man etwas von der Nüchternheit des damaligen Pharisäismus. Hillel sagte nach Abhot II,17: "Wer sich Worte der Tora erworben hat, hat sich das Leben in der kommenden Welt erworben." Noch deutlicher sind die Worte des Pharisäers Chananja Sgan Hakkohanim, die wohl in die Zeit unmittelbar vor dem großen Aufstand gegen Rom (66-70) zu datieren sind. Nach Abhot III,2 sagte er: "Bete für den Frieden des Reiches (i.e. Rom), denn bestünde nicht die Furcht vor ihm, hätte schon jeder seinen Nächsten lebendig verschlungen", und nach Siphre Numeri 42 (ed. Friedmann 13a): "Groß ist der Friede, denn er wiegt das ganze Schöpfungswerk auf."

Beispiel für Distanz zu optimistischen Schwärmereien

Doch, wie es nicht anders möglich ist, blieb auch das vom Pharisäismus stark geprägte rabbinische Judentum aufgrund der Erfahrungen mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels für naheschatologische und apokalyptische Vorstellungen recht aufgeschlossen (Berakhot 28b: Jochanan ben Zakkai auf seinem Totenbett, etwa 80 n. Chr.). So gibt es in der rabbinischen Literatur seit etwa 100 immer wieder Spekulationen über "die Jahreswoche, in der der Sohn Davids kommen wird" (z.B. Sanhedrin 97a). Dennoch regte sich im Pharisäismus immer wieder Widerspruch gegen allzu optimistische messianische Schwärmereien. Dafür nur ein, aber sehr deutliches Beispiel. Nach j. Ta’anit IV, 68d verstand Rabbi Akiba die messianischen Aspirationen Bar Kochbas, der für den Aufstand gegen Rom 132-135 verantortlich war, im Anschluß an Nm 24,17 als berechtigt. Doch sein Kollege Jochanan ben Torta mahnte allerdeutlichst zur Vorsicht. Er sagte dem Rabbi Akiba: "Gras wird aus deinen Backenknochen wachsen, und der Sohn Davids wird noch immer nicht gekommen sein."

Spannung zwischen Hoffnung und Warten

Am deutlichsten und schönsten formulierte Franz Rosenzweig im Anschluss an eines der Zionslieder Jehuda Halevis (gest. 1141) - der nach Meinung Rosenzweigs von akut messianischen Hoffnungen ziemlich beeinflusst war - die Spannung zwischen akuter Hoffnung und andauernder Erwartung: "Der falsche Messias ist so alt wie die Hoffnung des echten. Er ist die wechselnde Form dieser bleibenden Hoffnung. Jedes jüdische Geschlecht teilt sich durch ihn in die, welche die Glaubenskraft haben, sich täuschen zu lassen, und die, welche die Hoffnungskraft haben, sich nicht täuschen zu lassen. Jene sind die Besseren, diese die Stärkeren. Jene bluten auf dem Altar der Ewigkeit des Volkes, diese dienen als Priester vor diesem Altar. Bis es einmal umgekehrt sein wird und der Glaube der Gläubigen zur Wahrheit, die Hoffnung der Hoffenden zur Lüge wird. Dann - und niemand weiß, ob dieses dann nicht noch heute eintreten wird - dann ist die Aufgabe der Hoffenden zu Ende. Und wer dann, wenn der Morgen dieses Heute angebrochen ist, noch zu den Hoffenden und nicht zu den Glaubenden gehört, der läuft Gefahr, verworfen zu werden. Diese Gefahr hängt über dem scheinbar gefahrlosen Leben der Hoffenden." (Franz Rosenzweig, Jehuda Halevi, Zionslieder, Berlin 1933, 29).

Durchhalten bis zur messianischen Erfüllung

Solange also die messianische Zeit noch nicht Realität ist, muss Israel in der Geschichte als Zeugnisvolk für die Wirklichkeit des Gottes Israels, dessen unmittelbarster Ort der Offenbarung eben die Geschichte ist, durchhalten. So heißt es z.B. in Gn r 83,5 zu Gn 36,43: "So tun es die Weltvölker: Die einen sagen: Wir sind die Hauptsache und nur um unsretwillen wurde die Welt geschaffen. Und auch die anderen sagen: Um unsretwillen wurde die Welt geschaffen. Da sagt Israel zu ihnen: Wartet nur ab, bis der Tag kommen wird. Dann werden wir wissen, um wessentwillen die Welt geschaffen wurde." Die weltlichen Völker erheben ihren Anspruch aufgrund ihrer politischen Macht. Aber Reiche - auch große und mächtige - vergehen gegenüber dem die Zeit überdauernden Anspruch des Pilgerweges Israels in der Geschichte bis hin zu seiner messianischen Erfüllung. Von dieser Sicht her ist es klar, dass jede innerweltliche Macht mit metaphysischem Anspruch, wie es ganz deutlich der Nationalsozialismus war, als Usurpator der Macht im Glauben Israels an eine von Gott zu wirkende endzeitliche messianische Erfüllung den metaphysischen Gegenpol ihrer selbst sehen musste. Die Hoffnung auf die messianische Erfüllung blieb tatsächlich das konkreteste Gegenstück zum Machtanspruch des tausendjährigen Reiches im Sinn des Nationalsozialismus.

Versuchte Beiträge zum Anbruch der messianischen Erfüllung

Natürlich gab es immer wieder Perioden, da im Judentum Persönlichkeiten aufstanden, die der Meinung waren, dass sie einen konkreten Beitrag zur messianischen Erfüllung leisten müssten. Die Entdeckung Amerikas 1492, im selben Jahr, da auch die Juden aus Spanien vertrieben wurden, ergab für Christen und Juden ein völlig neues Weltbild, zumal der Seeweg nach Indien rund um Afrika entdeckt und immer mehr zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Faktor wurde. Es war der Beginn des kolonialen Zeitalters. Doch auf den Landkarten gab es noch große weiße Flächen. Irgendwo müsste doch der sagenhafte Fluss Sambation sein, dessen Wasser am Sabbat nicht fließen und hinter dem doch noch die verlorenen 10 Stämme Israels existieren könnten. Auch so etwas vermochte dafür aufgeschlossene Juden zu inspirieren, die Rückkehr der 10 Stämme und somit den Anbruch der messianischen Zeit zu erwarten.

Messianische Gestalten

Da sind zunächst David Re’ubheni und Schlomo Molcho in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu nennen. David Re’ubheni tauchte 1523 in Kairo auf und gab sich als Bruder des Königs Joseph über die Nordstämme Ruben, Gad und Manasse aus. Von dort her auch sein Name Re’ubheni. Er hatte ein politisch-strategisches messianisches Konzept. Die Nordstämme Israels, als deren Heerführer er sich ausgab, sollten zusammen mit den Christen das Heilige Land von der muslimischen Herrschaft befreien. Zu diesem Zweck verhandelte er auch mit dem Papst als er 1524 in Rom weilte. Von diesem erhielt er Briefe an den König von Portugal, wohin er 1525 reiste. Von diesem wiederum wollte er Schiffe, Waffen und Munition für ein auszurüstendes Heer im Kampf gegen die Muslime in Palästina. Obwohl die Juden Portugals auch schon 1497 ausgewiesen worden waren und somit auch in Portugal keine Synagogen mehr bestanden, wurde David Re’ubheni mit diplomatischen Ehren empfangen und konnte sowohl mit dem König als auch mit den noch immer im Lande verbliebenen Untergrundjuden verhandeln. Einer davon war ein junger königlicher Beamter namens Diego Pines, der von der Botschaft des David Re’ubheni so sehr begeistert war, dass er sich selbst beschnitt und den Namen Schlomo Molcho annahm.

Das Ende der beiden "messianischen Schwärmer"

Nun wurde aber der Boden in Portugal für beide zu heiß. Sie verlegten ihre Wirksamkeit nach Italien. Schlomo Molcho hatte auch zu Papst Clemens VII. (1528-1534) einen guten Kontakt. Schlußendlich trafen David Re’ubheni und Schlomo Molcho in Mantua wieder zusammen. Beide begaben sich 1532 zum Reichstag nach Regensburg, wo sie Karl V. für einen gemeinsamen Kampf gegen die Türken und die Muslime im Heiligen Land gewinnen wollten. Doch das bedeutete ihr Ende. Schlomo Molcho wurde als Judaisierender noch 1532 in Mantua verbrannt. David Re’ubheni wurde in Ketten nach Spanien gebracht. 1538 war er bereits tot. In gewisser Hinsicht kann die Wirksamkeit dieser beiden messianischen Schwärmer als politischer Protozionismus bezeichnet werden, denn ihre Tätigkeit war ein mystisch-messianisch motivierter Versuch, die Mächtigen der Weltpolitik für die Sache des Judentums zu gewinnen.

Geografische Begrenztheit als Grund des Ausbleibens messianischer Erfüllung

Schon differenzierter und mehr die reale politische Situation berücksichtigend war in dieser Richtung die politische Wirkung des Manasse ben Israel (1604-1657). In seinem Buch "Esparanza de Israel/Miqwe Jisrael" stellte er seine messianische Naherwartung dar und begründete sie. Hinter einem großen Fluss im Gebiet der Anden lebten seiner Meinung nach die 10 Stämme, die über Sibirien und die Beringstraße dorthin gekommen seien. Da die ganze Welt viel übersichtlicher geworden sei, als sie bisher gewesen war, müssten Juden nur noch auch diese Länder in den Kolonialgebieten besiedeln, um dann von dort geschlossen in das Land der Verheißung zurückzukehren. Das, was bisher die Verwirklichung der messianischen Zeit verhindert hatte, war eben nur die geographische Begrenztheit der jüdischen Diaspora gewesen. Jedes Land, das die Juden auf seinem Gebiet nicht zuließ, verhinderte somit die Verwirklichung der messianischen Zeit. Daher begab er sich auch nach England, um mit Oliver Cromwell über die Wiederzulassung der Juden in England zu verhandeln. Dort schrieb er auch einen Traktat, in dem er die Juden gegen die seit dem Mittelalter immer wiederkehrenden Standardvorwürfe in Schutz nahm. Dadurch sollte nämlich die englische Öffentlichkeit von ihrer ablehnenden Haltung zur Zulassung von Juden abgebracht werden.

Aufgabe des jüdisches Volkes zur Erlösung der Menschheit ist unumstößlich

Für die jüdische Mystik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts war der Messianismus das zentrale Thema. Schon Isaak Luria und sein Schüler Chaim Vital in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren der Meinung, dass es die Aufgabe Israels sei, gemeinsam mit Gott den "Urschaden der Natur" zu beheben. Diese Aufgabe nannten sie Tiqqun, "Wiederherstellung". Verstand man zunächst diesen Tiqqun als Aufgabe des ganzen Volkes, so konkretisierte sie sich bald in einem bestimmten Einzelmenschen als einer messianischen Leitfigur des Tiqqun. Dies war im 17. Jahrundert Sabbatai Zwi (1626-1677) und im 18. Jahrhundert Jakob Frank (1726-1791). Beide hielten sich für Verkörperungen der Messiasseele. Beide meinten, das Judentum warte schon viel zu lange auf seine Erlösung. Die Stunde zur konkreten messianischen Aktivität sei nun gekommen. Sie und ihre Anhänger konnten den individuellen Weg "aus der jüdischen Gasse" nicht gutheißen, den etwa Baruch Spinoza ging, der im selben Jahr starb wie Sabbatai Zwi. Beide wussten darum, dass nur die Erlösung der gesamten Menschheit - konkretisiert durch das Judentum - zur wirklichen Erlösung führen könne. Sie wussten klar, dass es keinen zielführenden Ausbruchsversuch aus dem Judentum geben kann. Die Geschichte bleibt eben zugleich Last und Verheißung des Judentums, denn am Ende des Pilgerwegs durch die Geschichte kann nur die Erfüllung in der messianischen Zeit stehen. Diese aber bleibt nach wie vor die heilsgeschichtliche Chance des jüdischen Volkes und somit auch seine Aufgabe, der es sich nicht entziehen kann.

Der politische Zionismus

Eine neue Variante zur Verkürzung des Pilgerwegs durch die Geschichte bietet der politische Zionismus. Er hat mehrere neue Voraussetzungen: Auch das Judentum konnte sich den geistesgeschichtlichen Strömungen und Entwicklungen des 19. Jahrhunderts nicht entziehen. Zunächst war es die von Moses Mendelssohn in Berlin ausgehende Aufklärung, die die bisherige problemlose Ausgliederung des Judentums, die "Schtetl Existenz", aus der europäischen Geistesgeschichte (eine jüdische Renaissance gab es nur in Italien) in Frage stellte. Mit der seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und seit Anfang des 19. Jahrhunderts beginnenden Aneignung weltlicher Bildungswerte durch gebildete Juden wurden auch die bisher problemlos weiter tradierten Werte des jüdischen Selbstverständnisses hinterfragt.

Die Zeit der Aufklärung

In Mittel- und Westeuropa folgte auf die Aufklärung die Romantik mit der Verklärung nationaler Werte. In Deutschland bot sie die Ideologie für die antinapoleonischen Befreiungskriege und für das Verlangen nach einem geeinten deutschen Reich. Im jüdischen Osteuropa ging die Aufklärung ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bündnis mit der nationalen Romantik ein, als dessen frühe Protagonisten unter anderem Abraham Mapu und Jehuda Lebh Gordon und als dessen Ausläufer Denker und Dichter wie Achad Ha’am und Chaim Nachman Bialik zu nennen sind. Diese für das jüdische Osteuropa typische Strömung nennt man Haskala, was eigentlich nur das hebräische Wort für "Aufklärung" ist. Es war aber nur eine Aufklärung gegenüber dem problemlosen Leben im Schtetl, sonst war es reinste nationale Romantik, deren Nahziel die Wiederbelebung der hebräischen Sprache auch für profane literarische Zwecke war. Damit war die osteuropäische jüdische Haskala die erste und auch wichtigste Vorstufe des Zionismus.

Protozionismus als Folge des Antisemitismus

Neben diesen weltanschaulich-ideologischen gab es aber noch weitere handfeste Gründe für die Entstehung eines Protozionismus. Das war die Erkenntnis des weltweit verbreiteten Antisemitismus, der zuerst den Juden vorwarf, sich nicht an die Umgebung angleichen zu wollen, und, als auch die Assimilation für viele Juden ein erstrebenswertes Ziel wurde, gerade das an den Juden bemängelte. In Osteuropa waren es die Pogrome 1882 und das Kischinewer Pogrom 1903. In Osteuropa wurde daher schon 1882 als Reaktion auf die Pogromstimmung die Chibbat Zion "Liebe zu Zion"-Bewegung gegründet, deren Ziel es war, "die Juden landwirtschaftliche Arbeit im Lande der Väter zu lehren, das Land Israel seinen Söhnen wieder lieb zu machen und das Volk Israel zu einem Volk zu machen, das sich kennt und schätzt." Die Zentrale der Chibbat Zion war das Odessaer Komitee, dessen erster Vorsitzender Leon Pinsker war, der 1882 schrieb: "Als Jude geplündert sein oder als Jude beschützt werden zu müssen ist gleich beschämend, gleich peinlich für das menschliche Gefühl der Juden." (Autoemanzipation ²Brünn 1903, 7)

Forderung nach Neuaufbau des Landes

Nach dem ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel, der "für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Heimstätte in Palästina" forderte, und der Gründung zionistischer Arbeiterparteien im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts (Beer Borochov, Aharon David Gordon u.a.) begann man mit der landwirtschaftlichen Erschließung des bis dahin weithin kargen Landes. Ein jüdischer Bauernstand als Grundlage für eine gesunde soziale Pyramide sollte entstehen. Das auf die messianische Verwirklichung hin ausgerichtete Heilsgeschichtsverständnis blieb in dieser arbeiterzionistischen Ideologie weithin ausgeklammert. Es blieb aber erhalten bei den national-religiösen Zionisten, der Misrachi-Partei, deren Anfänge ebenfalls bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Ihr geistiger Führer war Rabh Kuk, nach dem jetzt ein großer religiöser, wissenschaftlicher Verlag in Jerusalem benannt ist. Er zog für den Neuaufbau des Landes einen Vergleich mit dem Aufbau des salomonischen Tempels. An diesem hätten Architekten und Bauarbeiter aus Tyros und Sidon gearbeitet, also keine Juden, und dennoch sei er das bedeutendste Heiligtum für Israel geworden. Ebenso seien es jetzt - zur Zeit des Rabh Kuk - profane Juden, die das Land im Sinne der heilsgeschichtlichen Erfüllung des Volkes Israel aufbauten. Man solle also ihren Einsatz für das Land auch heilsgeschichtlich positiv bewerten.

Landverheißungen der Bibel als Basis des Staates Israel

Schon der Text der Hymne des Zionismus - heute leicht verändert als Hymne Israels, der Hattikwa "die Hoffnung" - hatte eine messianische Pointe. Er schloss mit den Worten "Zurückzukehren in das Land unserer Väter, in die Stadt, in der David wohnte". Hierin steckt eine Problematik, die auch heute niemand vergessen darf, der die innen- und außenpolitischen Probleme des Staates Israel verstehen will. Die Landverheißungen der Bibel sind die innere Rechtsbasis, auf die sich das jüdische Volk bei seiner Forderung nach dem Land Israel berufen kann, wenn auch der Teilungsplan der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 den formalen völkerrechtlichen Vorwand dafür bietet.

Das letzte Wort der Heilsgeschichte hat der Gott Israels

Der Zionismus ist somit geistesgeschichtlich ein in die profan-politische Gegenwart vorweggenommener Messianismus, dessen endzeitliche Erfüllung alles andere als gegenwärtig ist. Zuversichtlich und trotzdem alles offen lassend, heißt es jetzt am Ende der Pesach-Haggada: "Der Allerbarmer möge segnen den Staat Israel, den Anfang des Aufsprossens unserer Erlösung. Der Allerbarmer möge segnen die Soldaten unseres Heeres, denen der Schutz unseres Landes obliegt." Auch aus diesem Text spricht die messianische Hoffnung als eine der unzählig vielen Vorstufen der messianischen Erlösung. Denn das letzte Wort in der Welt-/Heilsgeschichte hat der Gott Israels. Bis auf dieses letzte Wort zu warten, das ist der Pilgerweg Israels in der Geschichte.

 

Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Heilsgeschichtliches Bewusstsein

>> Das Verständnis der Rabbinen

>> Zionsberg und Berg Sinai waren eigentlich ein Berg

>> Das "Land Israel"

>> Land und Messias sind eng verbunden

>> Die naheschatologisch bestimmte Apokalyptik

>> Pharisäismus als Antwort auf allzu überschwängliches Warten auf die kommende Welt

>> Beispiel für Distanz zu optimistischen Schwärmereien

>> Spannung zwischen Hoffnung und Warten

>> Durchhalten bis zur messianischen Erfüllung

>> Versuchte Beiträge zum Anbruch der messianischen Erfüllung

>> Messianische Gestalten

>> Das Ende der beiden "messianischen Schwärmer"

>> Geografische Begrenztheit als Grund des Ausbleibens messianischer Erfüllung

>> Aufgabe des jüdisches Volkes zur Erlösung der Menschheit ist unumstößlich

>> Der politische Zionismus

>> Die Zeit der Aufklärung

>> Protozionismus als Folge des Antisemitismus

>> Forderung nach Neuaufbau des Landes

>> Landverheißungen der Bibel als Basis des Staates Israel

>> Das letzte Wort der Heilsgeschichte hat der Gott Israels

 
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