Riten und Symbole zwischen Volksreligion und Orthodoxie im
Judentum
Das antike Judentum, welches eine ausgearbeitete Theologie in
entsprechender Lehrform zu präsentieren vermied , sah sich im
Mittelalter zusehends Veränderungen ausgesetzt. So wurden
infolgedessen auch die Türen zu magischen Thesen und Praktiken
geöffnet. Entstanden sind Bruchlinien, Verwerfungen und
Zusammenstöße zwischen Volksreligion und theologischer Lehre. Wo
und wie sind die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen zu ziehen
und wie haben sich diese Grenzen im Laufe der Jahrhunderte
verschoben ?
Wir bewegen uns mit unserem Thema in einem Spannungsfeld von
mindestens drei unterschiedlichen Paradigmen: Religion - Magie -
Wissenschaft. Wenn man nun versucht, bestimmte Phänomene als Magie,
Wissenschaft oder Religion zu klassifizieren, um diese gegeneinander
abzugrenzen, steht man vor einem Problem: Denn diese Begriffe
entstammen der eigenen Kultur und sind somit auch von der
historischen Ausgangslage dieser Bereiche innerhalb der eigenen
Kultur zu einer bestimmten Epoche abhängig.
Paradigmen können kulturell unterschiedlich
sein
Es stellt sich also die Frage, ob Abgrenzungen, die zwischen
Kategorien gezogen werden, auf andere Kulturen oder andere Zeiten
übertragen werden können. Wenn Europäer heute beispielsweise von
Magie sprechen, so ist deren Einschätzung vor dem Hintergrund der
in der eigenen Geschichte vollzogenen strikten Trennung von Magie
und Religion, der Ablehnung und Bekämpfung der magischen Praktiken
durch die Kirche und der rationalen Überzeugung der Unwirksamkeit
der Magie zu sehen. Für jedes dieser Paradigmen gibt es die dazu
gehörenden Vorstellungen über den nötigen Zusammenhang zwischen
Ursache und Wirkung. Während Wissenschaft verstanden werden kann
als "der Inbegriff des durch Forschung, Lehre und überlieferte
Literatur gebildeten, geordneten und begründeten, für gesichert
erachteten Wissens einer Zeit wozu auch die für seinen Erwerb
typische methodisch-systematische Forschungs- und
Erkenntnisarbeit" (Brockhaus, 1981) gehört, beruht die
Religion auf dem "Glauben an Mächte, die höher sind als der
Mensch" (Frazer, Sir James George, Der goldene Zweie, Rowohlt
Verlag, Hamburg 1989), als dem theoretischen Element der Definition
und "dem Versuch, diesen Mächten zu gefallen oder sie zu
versöhnen" (Ebd.), als dem praktischen Element der Definition.
Unter Magie wollen wir jene Praktiken zusammenfassen, mit denen der
Mensch seinen eigenen Willen auf die Umwelt in einer Weise
übertragen will, die nach naturwissenschaftlichen Kriterien
irrational erscheint.
Das Spannungsfeld zwischen Volksreligion und
theologischer Lehre
Das ist jenes Umfeld, in dem wir nun bewegen. Wir wollen uns
besonders auf das Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und
Volksreligion konzentrieren. Worauf ist es zurückzuführen ?
Während die Orthodoxie, also der richtige Glaube, und - im Judentum
das wichtigere Element - die Orthopraxie, also das richtige Handeln,
auf dem Denken und Philosophieren über (und auf dem Handeln
entsprechend seinen Geboten beruhen, basieren zumindest große Teile
der Volksreligion auf magischem Denken, also auf der Vorstellung,
durch bestimmte Gedanken, Worte oder Handlungen eine Wirkung zu
erreichen, die nicht über eine allgemein einsichtige Kausalkette
erzielt wird; eine solche Wirkung kann erwünscht oder auch
unerwünscht sein. Wenn wir im Judentum nach den Bruchlinien und
Verwerfungen zwischen Volksreligion und theologischer Lehre suchen,
muss uns bewusst sein, dass es in der jüdischen Theologie keine
einheitliche Vorstellung von der Gottheit gibt. Das Spektrum reicht
von einen~ rationalen, abstrakten, sehr transzendenten Gottesbild,
wie es z.B. Maimonides (Rabbi Moscheh ben Maimon, auch als Rambam
bekannt, 1135-1204. Sein Werk als Halachist und Philosoph hatte sehr
großen Einfluss auf die jüdische Geschichte. Seine wichtigsten
Werke sind: Kommentar zur Mischnah, "Führer der
Verwirrten" als philosophisches und "Mischneh
(Wiederholung der) Torah" als halachisches Werk) unter Berufung
auf die Lehren des Aristoteles vertritt, mit einem Konzept, das
gottferne oder gar gottesleere Bereiche beinhaltet auf der einen
Seite bis hin zu Vorstellungen, m denen eine Seelenwanderung
gehört, durch die selbst Pflanzen und Steine beseelt sein können,
wie sie in der lurianischen (Isaak Luria, 1534 - 1577, wirkte ab
1569 in Safed) Kabbalah und im chassidischen Judentum auf der
anderen zu finden sind. Es wäre zu erwarten, dass, je nachdem
welche Theologie vertreten wird, auch das Gebiet des Magischen und
des aus der Sicht der Glaubenslehre unwirksamen, unerwünschten,
eventuell sogar verbotenen Volksglaubens - unterschiedlich definiert
wird. Ob dies der Fall ist, werden wir in der Folge sehen.
Der Umgang mit dem Magischen im Judentum
Das Judentum versuchte und versucht auf zwei Arten, mit magischen
Haltungen umzugehen. Einerseits wird versucht, sie bloßzustellen
und zu entwurzeln, andererseits werden sie ins Judentum integriert,
wobei aber die Anbetung von Geistern, Gespenstern und dgl. auf jeden
Fall abgelehnt wird. Es ist interessant: Die Bibel ist prinzipiell
gegen Rituale eingestellt, die mit magischem Denken verbunden sind.
Die damalige - und heutige - Anziehungskraft dieses Glaubens für
religiöse wie für säkulare Menschen war auch dem Verfasser des
Deuteronomiums bekannt. Dort (Deuteronomium 189-13) aber wurde
ausdrücklich gesagt, und dies könnte auch heute, am Ende des 20.
Jahrhunderts geschrieben worden sein: "Du kommst in das Land,
das der Ewige, dein Gott dir gibt. Lerne es, nicht so zu handeln,
wie die Greuel dieser Völker. Es soll sich nicht finden bei dir
jemand, der seinen Sohn oder seine Tochter durch das Feuer führt,
der zaubert, Wolken deutet, Schlangen beschwört, hext, Orakel
befragt, Tote beschwört, die Zukunft weissagt und Tote befragt,
denn der Greuel Gottes sind alle, die so handeln. Wegen dieser
Greuel vertreibt der Ewige, dein Gott sie vor dir. Ganz sollst du
sein mit dem Ewigen, deinem Gott."
Streben der Menschen, mehr über die Zukunft zu
erfahren
Dieser Schriftvers erinnert an Praktiken, gegen die die Propheten
ankämpften. Sie waren im israelitischen Volk anscheinend ziemlich
verbreitet und beweisen das allzu menschliche Streben, auf
übernatürliche Weise mehr über die Zukunft erfahren zu wollen.
Menschen sind eben nicht immer bereit, ihre Grenzen zu akzeptieren.
Zudem gibt es tief in uns zerstörerische seelische Kräfte, die im
Gegensatz zu unserem bewussten Willen wirken. Heutzutage
beschäftigt sich die Psychologie mit ihnen, früher wurden sie eben
Gespenstern, Geistern und anderen Kräften zugeordnet, die jenseits
des Menschen wirken, an seiner Seite leben und ihn manchmal sogar in
Besitz nehmen.
Die Existenz von Geistern wurde lange nicht
geleugnet
Der Talmud anerkennt eine selbständige Existenz von Gespenstern
und Geistern. Es sind dies Wesen, die für Menschen nicht sichtbar
sind, aber in seiner Umgebung leben: "Zehn Dinge wurden vor dem
Eingang des Schabbat erschaffen (...) und es gibt solche, die sagen,
auch die schädigenden Gespenster," wird in einem frühen
talmudischen Text berichtet. (Mischnah, Awot 5,9) Vielleicht ist dies
auch der Grund, warum der Freitag als Unglückstag gilt, gewiss
nicht, weil Jesus an ihm hingerichtet wurde. "Es gibt solche,
die sagen " im erwähnten Text weist auf eine Ambivalenz hin.
Bis ins Mittelalter wurde in der rabbinischen Literatur die Existenz
von Gespenstern nicht bezweifelt. Ihre Existenz hängt vom Verhalten
des Menschen ab. Sie sind wie der Schatten des Menschen und werden
durch seine Sünden geschaffen. "In allen jenen Jahren, in
denen Adam (wegen seiner Sünde, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu
haben (Genesis 3.17-19)) im Bann war, zeugte er männliche und
weibliche Gespenster," (BT, Eruwin 18b) steht im Talmud.
Interpretation der biblischen Verurteilung der
Magie
Im Buch der Erziehung aus dem 13. Jahrhundert wird das biblische
Verbot der Magie wie folgt kommentiert: "Worum es sich bei
Zauberei handelt, ist in der allgemeinen Form allen bekannt;
Menschen vollziehen unzählige Praktiken mit verschiedenen
Kräutern, Steinen und mit Gebrauchsgegenständen und (anderen)
Menschen. Einige führen diese bösen Taten gezielt zu bestimmten
Zeiten und zu bestimmten Monaten aus, die sich dafür besonders
eignen. Von all diesen abstoßenden und hässlichen Dingen hält uns
die Torah äußerst fern, denn sie sind Unsinn ... Jeder, der in
diesem Bereich richtet, muss über das Wissen der Magie verfügen,
damit er bei einer geschehenen Handlung weiß, ob es sich dabei um
eine der Arten der Magie handelt oder ob sie vielleicht zu den
Dingen gehört, die durch die Kraft der Natur und auf erlaubte Weise
geschah (...)." Für diese letzte Aussage kann sich der
Verfasser auf den Talmud (BT Sanhedrin 17a) berufen, wo gesagt
wurde: "Man berufe in das Sanhedrin," also das oberste
jüdische Gericht, "nur Personen von Stand, von Weisheit, von
Weitsicht, von Alter, Kenner der Zauberei etc."
Magische Handlungen sind sinnlos
Der Verfasser fährt fort: "Diese Dinge verlangen ein
intensives Studium; siehe, wir finden im Talmud mehrere Handlungen ,
die wir aus Furcht, dieses Verbot zu übertreten, untersagt hätten,
würden wir sie nicht aus dem Munde der Gelehrten s.A. kennen.
Jedenfalls gleicht jemand, der sich anmaßt, sich mit diesen
listigen Tätigkeiten einzulassen, indem er versucht, analog zu den
Dingen zu handeln, die die Gelehrten s. A. erwähnten, einem, der
sich eine Türe öffnet, um das Gehinnom (das jüdische Gegenstück
zur Hölle) zu betreten." Aus dem zitierten Text möchte ich
zwei Dinge festhalten: 1. Der Autor bezeichnet die magischen
Handlungen als Unsirrn, also offenbar als wirkungslos. 2. In der
jüdischen Tradition wird mit alten Texten in der Regel nicht
historisch-kritisch umgegangen. Dies hat zur Folge, dass der Autor
die aus dem Talmud bekannten magischen Handlungen nicht einfach
einer anderen, magiegläubigeren Zeit zuordnen und sie für seine
Zeit verbieten kann.
Talmut anerkennt magische Wirkungen
Im Talmud wird die Wirksamkeit magischer Praktiken kaum in Frage
gestellt. Es wird berichtet, wie eine Frau Erde zu magischen Zwecken
unter dem Stuhl des Rabbi Chanina sammelte. Rabbi Chanina ließ sie
gewähren. Der Talmud kann seinen Mut nur so begreifen, dass sich
Rabbi Chanina auf die Kraft seiner vielen Verdienste stützte. An
der gleichen Stelle sagt Rabbi Jochanan, die Zauberer leugneten die
himmlische Familie, da sie jene töteten, denen zu leben bestimmt
war. Beinahe ein ganzes Kapitel des Traktats Schabbat (TB Sanhedrin
61a ff) behandelt die Frage, welche Amulette als wirksam betrachtet
werden könnten und darum am Sabbat im öffentlichen Bereich
getragen werden dürften und für welche die Wirksamkeit nicht
erwiesen sei. Bezüglich der Frage der Wirksamkeit gibt es
allerdings eine bemerkenswerte Ausnahme. An einer Stelle (TB
P'sachim 110b) im Talmud wird berichtet, dass das Essen von
bestimmten Speisen in einer geraden Zahl - also z.B. von zwei oder
vier Eiern - schädlich sein könnte. Nach einer längeren
Diskussion darüber, für welche Speisen dies gelte und ob z. B.
für zehn - eher Nüsse, nicht Eier - eine Ausnahme gelte, kommt der
Talmud zum Schluss: "Wer darauf achtet, muss es ernst nehmen,
wer nicht darauf achtet, nicht." Es liegt nahe, diese Passage
psychologisch zu deuten: Jemand, der auf solche Dinge nicht achtet,
hat keine negativen Wirkungen zu befürchten.
Gegensätzliche Anschauungen zur Magie im
Mittelalter
Im Mittelalter betrachten die jüdischen Gelehrten solche
Wirksamkeiten kontrovers. Während Maimonides (Gesetze über den
Götzendienst, Kap. 11) - bei seinem rationalen Zugang nicht
erstaunlich - magische Praktiken für unwirksam hält, führt
Nachmanides (In seinem Kommentar zu Deuteronomium 18,10) viele
Beweise aus dem talmudischen Schrifttum für die Wirksamkeit der
Magie an. Er schreibt: "Gott verbot die Wahrsagerei, da er dir
Überlegenheit über alle Völker der Erde gab (Deuteronomium 28,1)
, indem er dir aus deiner Mitte einen Propheten gibt. Er wird sein
Wort in seinen Mund geben und von ihm wirst du hören, was Gott
denken wird. Du musst die Zukunft nicht von Wahrsagern erfahren, die
sie von den Sternen oder den niedrigsten himmlischen Fürsten
empfangen. Deren Worte stimmen nicht immer, und sie teilen dir nicht
alles Nötige mit. In der Prophetie wird aber der Willen Gottes
kundgetan und nichts fehlt."
Keine Unterscheidung zwischen Religion, Magie
und Wissenschaft
Die Differenz zwischen Maimonides und Nachmanides kann auch
historisch interpretiert werden. Maimonides - der selber gegen Ende
seines Lebens Hofarzt des ägyptischen Königs war - hat ein
sozusagen modernes Weltbild und unterscheidet zwischen
naturwissenschaftlicher, religiöser und magischer Anschauung.
Nachmanides lebt zwar später, denkt aber immer noch - oder wieder,
im Sinne eines restaurativen Zugangs - in antiken Mustern. Zwischen
Religion, Magie und Wissenschaft wird in der antiken Welt nicht
unterschieden, eine Austreibung von Geistern ist eine heilende,
medizinische Handlung, da Gespenster die Ursache von Erkrankung
sind. Dies entspricht nach antiker Sicht - der Bekämpfung von
Bakterien oder Viren, die den Körper eines modernen Menschen
befallen haben.
Komplizierte Reglung der Akzeptanz magischer
Handlungen
Das Kriterium, ob eine magische Handlung verboten oder erlaubt
ist, liefert nicht ausschließlich das Resultat der Handlung,
sondern stellen auch die verwendeten Mittel. "Die Gesetze über
die Zauberei sind (kompliziert) wie diel Gesetze über den Schabbat,"
sagt der~ babylonische Talmudlehrer Abbaje (Gest. 338; BT Sanhedrin
67b), "Es gibt solche, die mit Steinigung zu bestrafen sind,
solche, die straffrei, aber verboten sind, und solche, die erlaubt
sind. Wer eine magische Handlung ausführt, ist zu steinigen, wenn
jemand die Menschen irreführt," (indem er den Anschein
erweckt, er führe eine magische Handlung aus) so "ist dies
verboten aber straffrei. Erlaubt ist eine Handlung~ wie jene des
Rabbi Chanina und Rabbi Oschaja, die sich jeden Freitag mit den
Gesetzen der Schöpfung beschäftigten und so ein Kalb schufen, das
sie verzehrten." Das heißt, dass sie dafür heilige göttliche
Namen verwendeten, was erlaubt ist. Von hier führt der Weg ziemlich
direkt zu den Ba'ale Schem, den Herrn des (göttlichen) Namens des
Mittelalters und der Neuzeit, auf die wir noch zu sprechen kommen.
Heilende Praktiken waren erlaubt
Eine generelle Erlaubnis wurde im Talmud für alle magischen
Praktiken gegeben, die heilende Wirkung haben. "Alles, was
heilende Wirkung hat, gilt nicht als Wege der Emoriter", also
der palästinensischen Ureinwohner, und ist darum erlaubt. Der Grund
für diese Erlaubnis kann als sehr pragmatischer Zugang der Rabbinen
zu Krankheit und Heilung verstanden werden. Wenn ich zur Gesundung
eines Menschen beitragen kann, interessiert mich die Wirkweise des
Heilmittels nicht; wichtig ist, dass der Mensch gesund wird, und sei
es auch durch den Placebo-Effekt eines heidnischen Rituals (Nach R.
David Hoffmann, Responsa Melamed le-ho'il, II, 63) . Diese
Interpretation wird durch eine Formulierung des Maimonides in seinem
Kodex (Gesetze über den Götzendienst 11,11) unterstützt:
"Wenn jemand von einem Skorpion oder von einer Schlange
gebissen wurde, ist es erlaubt, an der Stelle des Bisses selbst am
Schabbat Zaubersprüche zu sprechen, um den Gebissenen zu beruhigen
und seine Widerstandskraft zu stärken. Obwohl das Ganze überhaupt
nichts nützt, wurde dies erlaubt, da er in Gefahr schwebt, damit er
nicht beunruhigt wird." Eine andere Interpretation ist, dass
die Heilkräfte die positive Wirkung des Zaubers beweisen. Positiv
wirkende Zauberei ist aber erlaubte Zauberei - womit die Wirkung als
Kriterium durch die Hintertür wieder zum Vorschein gekommen ist!
Naturwissenschaftliche Gesetze bestimmen die
Grenzen
Zu diesen Interpretationen gilt es jene des Maimonides
anzufügen. Er schreibt - im 12, Jahrhundert! "Alles, dem wir
eine Wirkung zuschreiben, das sich nicht aus der
naturwissenschaftlichen Forschung ergibt, das aber dennoch wirken
soll, wie z.B. (...) die speziellen Energien, darüber wurde gesagt
nach ihren Gesetzen sollt ihr auch nicht verhalten. (...) Dies
nannten die Weisen die Wege der Emoriter, da es sich um magische
Handlungen handelt, also Handlungen, die nicht aufgrund
naturwissenschaftlicher Folgerungen geschehen, sondern (...)
zwangsläufig auf astrologischem Denken beruhen," einem
Denksystem, das andere Kausalitäten als direktes göttliches
und/oder natürliches Wirken kennt, "was den Glauben an die
Gestirne (...) verstärkt. Die Weisen sagten: Alles, was heilende
Wirkung hat, gilt nicht als Weg der Emoriter. Sie wollen damit
sagen, alles, was sich aus der naturwissenschaftlichen Forschung
ergibt, ist erlaubt, alles andere verboten (...). Wundere dich
nicht, warum sie (...) das Tragen eines Fuchszahns erlaubten (...),
denn zu dieser Zeit glaubten sie noch, die Erfahrung beweise dessen
Wirkung."
Der Umgang mit abgeschnittenen Fingernägeln
als praktisches Beispiel
Als praktisches Beispiel möchte ich über den Umgang mit
abgeschnittenen Fingernägeln berichten. In vielen Kulturen gibt es
den Glauben, mit abgeschnittenen Haaren, Fingernägeln etc. müsse
vorsichtig verfahren werden. So gibt es bei den Eskimos zum Beispiel
die Regel: "Verbrenne immer deine Fingernägel, nachdem du sie
geschnitten hast, damit deine Nägel nicht Menschen heimsuchen, die
versuchen, deinen Körper zu finden, nachdem du gestorben
bist." Im Talmud wird festgehalten: "Bei fünf Dingen
vergeht sich derjenige, der sie tut, an seiner Seele und seine
Blutschuld lastet auf ihm: Wer geschälten Knoblauch, geschälte
Zwiebeln und geschälte Eier isst, wer gemischte Getränke trinkt,
über denen eine Nacht vergangen ist, wer im Friedhof übernachtet,
wer seine Nägel schneidet und sie auf die Straße wirft, wer sich
zur Ader lässt und danach Geschlechtsverkehr hat."
Anschließend werden die Dinge im Talmud einzeln begründet:
"Wer seine Nägel schneidet und sie auf die Straße wirft: Es
könnte eine schwangere Frau über sie treten und eine Fehlgeburt
haben." Weiter an dieser Stelle im Talmud: Die Rabbinen
lehrten: "Drei Dinge wurden über Fingernägel gesagt: Wer sie
verbrennt, ist ein Frommer, wer sie vergräbt, ein Gerechter, wer
sie wegwirft, ein Übeltäter." Die Verbrennung ist dem
Vergraben vorzuziehen, weil beim Vergraben zu befürchten ist, dass
die Fingernägel wieder zum Vorschein kommen und Schaden anrichten
könnten.
Ableitung von Talmud zum jüdischen Recht
Wie hat die zitierte Stelle aus dem Talmud ihren Niederschlag in
der Halachah - dem verbindlichen jüdischen Recht - und den
entsprechenden Kodizes gefunden? Interessanterweise ist einzig die
Weisung bezüglich Aderlass und anschließendem Geschlechtsverkehr
in Maimonides' halachischem Werk zu finden (Hilchot De'ot 4,19), der
vom Autor wohl medizinische Bedeutung zugeordnet wurde. Alle anderen
Richtlinien sind weder bei Maimonides noch im Schulchan Aruch - dem
Kodex aus dem 16. Jahrhundert, der heute für alle orthodoxen Juden
verbindlich ist - vorzufinden. Daraus ist zu folgern, dass solchen
Passagen aus dem Talmud kein verbindlicher, weisungsgebender
Charakter zugeordnet wurde; vielmehr wurden sie als Reflexionen
persönlicher Meinung oder als Wissensstand der damaligen Zeit
verstanden.
Regeln zum Schneiden der Fingernägel
Nach einer mehrere hundert Jahre dauernden Periode, in der für
das Schneiden der Fingernägel keine speziellen Regeln zu beachten
waren, wird im 14. Jahrhundert vom spanischen Rabbi David Abudraham
folgende Regel gegeben: "Wenn man die Nägel schneidet, soll
man sie nicht in ihrer Reihenfolge schneiden. Man fange links beim
Ringfinger an und rechts beim Zeigefinger. Das Zeichen dafür:
4-2-5-3-1 für die Linke, 2-4-1-3-5 für die Rechte." Diese
Regel hat über die Glossen des Rabbi Moscheh Isserles (Krakau, 1525
– 1572) Eingang in den Schulchan Aruch gefunden. Gleichzeitig wird
in den Kommentaren berichtet, viele Autoritäten hätten sich nicht
an die Regel gehalten, unter anderem auch der große Kabbalist R.
Isaak Luria (Safed, 1534 – 1572).
Die Beziehung zwischen Magie und der Kabbalah
Wie kommt es, dass eine Praxis, die über viele Jahrhunderte
wegen ihres magischen Hintergrundes nicht eingehalten wurde,
plötzlich wieder aktuell wird? Wir müssen ein wenig über die
Beziehung zwischen Magie und Kabbalah sprechen, bevor ich ihnen eine
mögliche Antwort zu dieser Frage präsentieren kann. R. Moscheh
Cordovero, ein wichtiger Kabbalist im Safed des 16. Jahrhunderts,
schreibt (Pardes Rimonim, 10,1): "Es besteht kein Zweifel, dass
die Farben einen Zugang zu den Wirkungen der Sefirot", dem
kabbalistischen Bild der göttlichen Emanation, das auch als
Lebensbaum bekannt ist und das zu neuplatonischen Ideen in Beziehung
steht, "bieten und dazu, ihren Einfluss hinunter (zur Erde) zu
ziehen. Wenn jemand also den Einfluss des Erbarmens von der Sefirah
Chessed (unbegrenzte Liebe) hinunter ziehen möchte, soll er sich
(vor seinem inneren Auge) den Namen der Sefirah vorstellen mit der
Farbe, die zu dem passt, was er benötigt und die der Farbe der
Sefirah entspricht. Wenn er also vollkommene Gnade (benötigt,
stelle er sich) das hellste Weiß (vor). (...) Wer etwas bewirken
möchte und den Einfluss von (der Sefirah) Gericht braucht, kleide
sich in rote Gewänder und stelle sich die Form des göttlichen
Namens in Rot vor. Dasselbe gilt für alle Wirkungen und Einflüsse.
(...) Dies gilt auch für Amulette. Wenn jemand ein Amulett für
Unbegrenzte Liebe vorbereitet, stelle er sich den (göttlichen)
Namen in glänzendem Weiß vor, da so die Wirkung des Namens
gesteigert wird."
Starke Ähnlichkeiten mit magischen Praktiken
In dieser Passage sehen wir, wie das System der Sefirot für
magische Aktivität instrumentalisiert wird. Statt der Geister, die
über Kleider und Farben angerufen werden, spricht der magische
Kabbalist hier die Sefirot an. Die Technik zielt hier darauf, den
Einfluss der himmlischen Kräfte, der Sefirot, entsprechend den
Wünschen des Magiers wirken zu lassen. Cordovero war sich der
Übereinstimmung seiner Konzepte mit magischen Vorstellungen
bewusst. Gleich anschließend schreibt er: "Diese Dinge sind
jenen, die Amulette schreiben, bekannt und klar, und wir haben
keinen Anteil an ihrem Werk. Aber wir sahen jemanden, der Amulette
(...), die auf das Gericht hinweisen in Rot schrieb, solche für
Unbegrenzte Liebe in Weiß und solche für Erbarmen in Grün. Alles
erfolgte in Übereinstimmung damit, was ihn (himmlische) Meister
über die Herstellung von Amuletten lehrten. All dies lehrt, dass
die Farben einen Zugang zu himmlischen Wirkungen bieten." Der
Kabbalist war sich also der Ähnlichkeit seiner Kabbalah mit
magischen Praktiken bewusst. Trotz seiner Zurückhaltung gegenüber
dieser Praxis stand er mit jemandem in Kontakt, der diese Technik
verwendete, und betrachtete diese auch von himmlische Herkunft.
Vielleicht die einflussreichste Persönlichkeit des jüdischen
Mystizismus, die schon durch ihren Namen als Magier wahrgenommen
wurde, war R. Israel ben Elieser, der Ba'al Schem Tov, der Meister
des (himmlischen) Namens, der Gründer des Chassidismus. Er wurde
auch als Heiler verstanden, der himmlische Namen und Amulette als
Mittel für Heilungen gebrauchte.
Magische Konzepte trotz antimagischer Tendenz
Hier möchte ich eine Frage formulieren: Wie ist es möglich,
dass eine Religion, deren grundlegende kanonische Bücher - die
Bibel und die talmudische Literatur - in ihrer Tendenz eher
antimagisch sind, dermaßen viele magische Konzepte absorbieren
konnte? Die Frage wird noch pointierter, wenn wir bedenken, dass die
zitierten Persönlichkeiten, wie R. Moscheh Cordovero oder der Ba'al
Schem Tov, zur jüdischen Elite gehörten und nicht etwa aus
Unwissen das Verbot magischer Praktiken ignorierten. Eine Antwort
könnte in den Prozessen gefunden werden, die der Absorption
magischer Inhalte im 15. Jahrhundert vorangingen. Seit dem 9.
Jahrhundert wurde das jüdische Denken um zwei Strukturen erweitert,
nämlich die philosophische und die kabbalistische. Diese Strukturen
veränderten - jede auf ihre Art - die Bedeutung religiösen
Handelns im Judentum, manchmal auch das Verständnis der Bedeutung
Israels in der Welt. Spätestens im 15. Jahrhundert waren diese
Strukturen im Judentum integriert und bildeten einen Bestandteil
seiner Theologie. Dies erleichterte das Eindringen magischer
Praktiken ins Judentum. Wenn die Kabbalah die soterische Bedeutung
des Judentums betonte, warum sollte dann die praktische Anwendung
der Kabbalah ausgeschlossen werden? Wenn neoplatonische Theorien
bereits Bestandteil des Judentums waren, warum sollte dann die
praktische Anwendung dieser Theorien abgelehnt werden?
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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