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Riten und Symbole zwischen Volksreligion und Orthodoxie im Judentum

Von Raphael Pifko (Biografie)

 

Das antike Judentum, welches eine ausgearbeitete Theologie in entsprechender Lehrform zu präsentieren vermied , sah sich im Mittelalter zusehends Veränderungen ausgesetzt. So wurden infolgedessen auch die Türen zu magischen Thesen und Praktiken geöffnet. Entstanden sind Bruchlinien, Verwerfungen und Zusammenstöße zwischen Volksreligion und theologischer Lehre. Wo und wie sind die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen zu ziehen und wie haben sich diese Grenzen im Laufe der Jahrhunderte verschoben ?

Wir bewegen uns mit unserem Thema in einem Spannungsfeld von mindestens drei unterschiedlichen Paradigmen: Religion - Magie - Wissenschaft. Wenn man nun versucht, bestimmte Phänomene als Magie, Wissenschaft oder Religion zu klassifizieren, um diese gegeneinander abzugrenzen, steht man vor einem Problem: Denn diese Begriffe entstammen der eigenen Kultur und sind somit auch von der historischen Ausgangslage dieser Bereiche innerhalb der eigenen Kultur zu einer bestimmten Epoche abhängig.

Paradigmen können kulturell unterschiedlich sein

Es stellt sich also die Frage, ob Abgrenzungen, die zwischen Kategorien gezogen werden, auf andere Kulturen oder andere Zeiten übertragen werden können. Wenn Europäer heute beispielsweise von Magie sprechen, so ist deren Einschätzung vor dem Hintergrund der in der eigenen Geschichte vollzogenen strikten Trennung von Magie und Religion, der Ablehnung und Bekämpfung der magischen Praktiken durch die Kirche und der rationalen Überzeugung der Unwirksamkeit der Magie zu sehen. Für jedes dieser Paradigmen gibt es die dazu gehörenden Vorstellungen über den nötigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Während Wissenschaft verstanden werden kann als "der Inbegriff des durch Forschung, Lehre und überlieferte Literatur gebildeten, geordneten und begründeten, für gesichert erachteten Wissens einer Zeit wozu auch die für seinen Erwerb typische methodisch-systematische Forschungs- und Erkenntnisarbeit" (Brockhaus, 1981) gehört, beruht die Religion auf dem "Glauben an Mächte, die höher sind als der Mensch" (Frazer, Sir James George, Der goldene Zweie, Rowohlt Verlag, Hamburg 1989), als dem theoretischen Element der Definition und "dem Versuch, diesen Mächten zu gefallen oder sie zu versöhnen" (Ebd.), als dem praktischen Element der Definition. Unter Magie wollen wir jene Praktiken zusammenfassen, mit denen der Mensch seinen eigenen Willen auf die Umwelt in einer Weise übertragen will, die nach naturwissenschaftlichen Kriterien irrational erscheint.

Das Spannungsfeld zwischen Volksreligion und theologischer Lehre

Das ist jenes Umfeld, in dem wir nun bewegen. Wir wollen uns besonders auf das Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Volksreligion konzentrieren. Worauf ist es zurückzuführen ? Während die Orthodoxie, also der richtige Glaube, und - im Judentum das wichtigere Element - die Orthopraxie, also das richtige Handeln, auf dem Denken und Philosophieren über (und auf dem Handeln entsprechend seinen Geboten beruhen, basieren zumindest große Teile der Volksreligion auf magischem Denken, also auf der Vorstellung, durch bestimmte Gedanken, Worte oder Handlungen eine Wirkung zu erreichen, die nicht über eine allgemein einsichtige Kausalkette erzielt wird; eine solche Wirkung kann erwünscht oder auch unerwünscht sein. Wenn wir im Judentum nach den Bruchlinien und Verwerfungen zwischen Volksreligion und theologischer Lehre suchen, muss uns bewusst sein, dass es in der jüdischen Theologie keine einheitliche Vorstellung von der Gottheit gibt. Das Spektrum reicht von einen~ rationalen, abstrakten, sehr transzendenten Gottesbild, wie es z.B. Maimonides (Rabbi Moscheh ben Maimon, auch als Rambam bekannt, 1135-1204. Sein Werk als Halachist und Philosoph hatte sehr großen Einfluss auf die jüdische Geschichte. Seine wichtigsten Werke sind: Kommentar zur Mischnah, "Führer der Verwirrten" als philosophisches und "Mischneh (Wiederholung der) Torah" als halachisches Werk) unter Berufung auf die Lehren des Aristoteles vertritt, mit einem Konzept, das gottferne oder gar gottesleere Bereiche beinhaltet auf der einen Seite bis hin zu Vorstellungen, m denen eine Seelenwanderung gehört, durch die selbst Pflanzen und Steine beseelt sein können, wie sie in der lurianischen (Isaak Luria, 1534 - 1577, wirkte ab 1569 in Safed) Kabbalah und im chassidischen Judentum auf der anderen zu finden sind. Es wäre zu erwarten, dass, je nachdem welche Theologie vertreten wird, auch das Gebiet des Magischen und des aus der Sicht der Glaubenslehre unwirksamen, unerwünschten, eventuell sogar verbotenen Volksglaubens - unterschiedlich definiert wird. Ob dies der Fall ist, werden wir in der Folge sehen.

Der Umgang mit dem Magischen im Judentum

Das Judentum versuchte und versucht auf zwei Arten, mit magischen Haltungen umzugehen. Einerseits wird versucht, sie bloßzustellen und zu entwurzeln, andererseits werden sie ins Judentum integriert, wobei aber die Anbetung von Geistern, Gespenstern und dgl. auf jeden Fall abgelehnt wird. Es ist interessant: Die Bibel ist prinzipiell gegen Rituale eingestellt, die mit magischem Denken verbunden sind. Die damalige - und heutige - Anziehungskraft dieses Glaubens für religiöse wie für säkulare Menschen war auch dem Verfasser des Deuteronomiums bekannt. Dort (Deuteronomium 189-13) aber wurde ausdrücklich gesagt, und dies könnte auch heute, am Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sein: "Du kommst in das Land, das der Ewige, dein Gott dir gibt. Lerne es, nicht so zu handeln, wie die Greuel dieser Völker. Es soll sich nicht finden bei dir jemand, der seinen Sohn oder seine Tochter durch das Feuer führt, der zaubert, Wolken deutet, Schlangen beschwört, hext, Orakel befragt, Tote beschwört, die Zukunft weissagt und Tote befragt, denn der Greuel Gottes sind alle, die so handeln. Wegen dieser Greuel vertreibt der Ewige, dein Gott sie vor dir. Ganz sollst du sein mit dem Ewigen, deinem Gott."

Streben der Menschen, mehr über die Zukunft zu erfahren

Dieser Schriftvers erinnert an Praktiken, gegen die die Propheten ankämpften. Sie waren im israelitischen Volk anscheinend ziemlich verbreitet und beweisen das allzu menschliche Streben, auf übernatürliche Weise mehr über die Zukunft erfahren zu wollen. Menschen sind eben nicht immer bereit, ihre Grenzen zu akzeptieren. Zudem gibt es tief in uns zerstörerische seelische Kräfte, die im Gegensatz zu unserem bewussten Willen wirken. Heutzutage beschäftigt sich die Psychologie mit ihnen, früher wurden sie eben Gespenstern, Geistern und anderen Kräften zugeordnet, die jenseits des Menschen wirken, an seiner Seite leben und ihn manchmal sogar in Besitz nehmen.

Die Existenz von Geistern wurde lange nicht geleugnet

Der Talmud anerkennt eine selbständige Existenz von Gespenstern und Geistern. Es sind dies Wesen, die für Menschen nicht sichtbar sind, aber in seiner Umgebung leben: "Zehn Dinge wurden vor dem Eingang des Schabbat erschaffen (...) und es gibt solche, die sagen, auch die schädigenden Gespenster," wird in einem frühen talmudischen Text berichtet. (Mischnah, Awot 5,9) Vielleicht ist dies auch der Grund, warum der Freitag als Unglückstag gilt, gewiss nicht, weil Jesus an ihm hingerichtet wurde. "Es gibt solche, die sagen " im erwähnten Text weist auf eine Ambivalenz hin. Bis ins Mittelalter wurde in der rabbinischen Literatur die Existenz von Gespenstern nicht bezweifelt. Ihre Existenz hängt vom Verhalten des Menschen ab. Sie sind wie der Schatten des Menschen und werden durch seine Sünden geschaffen. "In allen jenen Jahren, in denen Adam (wegen seiner Sünde, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben (Genesis 3.17-19)) im Bann war, zeugte er männliche und weibliche Gespenster," (BT, Eruwin 18b) steht im Talmud.

Interpretation der biblischen Verurteilung der Magie

Im Buch der Erziehung aus dem 13. Jahrhundert wird das biblische Verbot der Magie wie folgt kommentiert: "Worum es sich bei Zauberei handelt, ist in der allgemeinen Form allen bekannt; Menschen vollziehen unzählige Praktiken mit verschiedenen Kräutern, Steinen und mit Gebrauchsgegenständen und (anderen) Menschen. Einige führen diese bösen Taten gezielt zu bestimmten Zeiten und zu bestimmten Monaten aus, die sich dafür besonders eignen. Von all diesen abstoßenden und hässlichen Dingen hält uns die Torah äußerst fern, denn sie sind Unsinn ... Jeder, der in diesem Bereich richtet, muss über das Wissen der Magie verfügen, damit er bei einer geschehenen Handlung weiß, ob es sich dabei um eine der Arten der Magie handelt oder ob sie vielleicht zu den Dingen gehört, die durch die Kraft der Natur und auf erlaubte Weise geschah (...)." Für diese letzte Aussage kann sich der Verfasser auf den Talmud (BT Sanhedrin 17a) berufen, wo gesagt wurde: "Man berufe in das Sanhedrin," also das oberste jüdische Gericht, "nur Personen von Stand, von Weisheit, von Weitsicht, von Alter, Kenner der Zauberei etc."

Magische Handlungen sind sinnlos

Der Verfasser fährt fort: "Diese Dinge verlangen ein intensives Studium; siehe, wir finden im Talmud mehrere Handlungen , die wir aus Furcht, dieses Verbot zu übertreten, untersagt hätten, würden wir sie nicht aus dem Munde der Gelehrten s.A. kennen. Jedenfalls gleicht jemand, der sich anmaßt, sich mit diesen listigen Tätigkeiten einzulassen, indem er versucht, analog zu den Dingen zu handeln, die die Gelehrten s. A. erwähnten, einem, der sich eine Türe öffnet, um das Gehinnom (das jüdische Gegenstück zur Hölle) zu betreten." Aus dem zitierten Text möchte ich zwei Dinge festhalten: 1. Der Autor bezeichnet die magischen Handlungen als Unsirrn, also offenbar als wirkungslos. 2. In der jüdischen Tradition wird mit alten Texten in der Regel nicht historisch-kritisch umgegangen. Dies hat zur Folge, dass der Autor die aus dem Talmud bekannten magischen Handlungen nicht einfach einer anderen, magiegläubigeren Zeit zuordnen und sie für seine Zeit verbieten kann.

Talmut anerkennt magische Wirkungen

Im Talmud wird die Wirksamkeit magischer Praktiken kaum in Frage gestellt. Es wird berichtet, wie eine Frau Erde zu magischen Zwecken unter dem Stuhl des Rabbi Chanina sammelte. Rabbi Chanina ließ sie gewähren. Der Talmud kann seinen Mut nur so begreifen, dass sich Rabbi Chanina auf die Kraft seiner vielen Verdienste stützte. An der gleichen Stelle sagt Rabbi Jochanan, die Zauberer leugneten die himmlische Familie, da sie jene töteten, denen zu leben bestimmt war. Beinahe ein ganzes Kapitel des Traktats Schabbat (TB Sanhedrin 61a ff) behandelt die Frage, welche Amulette als wirksam betrachtet werden könnten und darum am Sabbat im öffentlichen Bereich getragen werden dürften und für welche die Wirksamkeit nicht erwiesen sei. Bezüglich der Frage der Wirksamkeit gibt es allerdings eine bemerkenswerte Ausnahme. An einer Stelle (TB P'sachim 110b) im Talmud wird berichtet, dass das Essen von bestimmten Speisen in einer geraden Zahl - also z.B. von zwei oder vier Eiern - schädlich sein könnte. Nach einer längeren Diskussion darüber, für welche Speisen dies gelte und ob z. B. für zehn - eher Nüsse, nicht Eier - eine Ausnahme gelte, kommt der Talmud zum Schluss: "Wer darauf achtet, muss es ernst nehmen, wer nicht darauf achtet, nicht." Es liegt nahe, diese Passage psychologisch zu deuten: Jemand, der auf solche Dinge nicht achtet, hat keine negativen Wirkungen zu befürchten.

Gegensätzliche Anschauungen zur Magie im Mittelalter

Im Mittelalter betrachten die jüdischen Gelehrten solche Wirksamkeiten kontrovers. Während Maimonides (Gesetze über den Götzendienst, Kap. 11) - bei seinem rationalen Zugang nicht erstaunlich - magische Praktiken für unwirksam hält, führt Nachmanides (In seinem Kommentar zu Deuteronomium 18,10) viele Beweise aus dem talmudischen Schrifttum für die Wirksamkeit der Magie an. Er schreibt: "Gott verbot die Wahrsagerei, da er dir Überlegenheit über alle Völker der Erde gab (Deuteronomium 28,1) , indem er dir aus deiner Mitte einen Propheten gibt. Er wird sein Wort in seinen Mund geben und von ihm wirst du hören, was Gott denken wird. Du musst die Zukunft nicht von Wahrsagern erfahren, die sie von den Sternen oder den niedrigsten himmlischen Fürsten empfangen. Deren Worte stimmen nicht immer, und sie teilen dir nicht alles Nötige mit. In der Prophetie wird aber der Willen Gottes kundgetan und nichts fehlt."

Keine Unterscheidung zwischen Religion, Magie und Wissenschaft

Die Differenz zwischen Maimonides und Nachmanides kann auch historisch interpretiert werden. Maimonides - der selber gegen Ende seines Lebens Hofarzt des ägyptischen Königs war - hat ein sozusagen modernes Weltbild und unterscheidet zwischen naturwissenschaftlicher, religiöser und magischer Anschauung. Nachmanides lebt zwar später, denkt aber immer noch - oder wieder, im Sinne eines restaurativen Zugangs - in antiken Mustern. Zwischen Religion, Magie und Wissenschaft wird in der antiken Welt nicht unterschieden, eine Austreibung von Geistern ist eine heilende, medizinische Handlung, da Gespenster die Ursache von Erkrankung sind. Dies entspricht nach antiker Sicht - der Bekämpfung von Bakterien oder Viren, die den Körper eines modernen Menschen befallen haben.

Komplizierte Reglung der Akzeptanz magischer Handlungen

Das Kriterium, ob eine magische Handlung verboten oder erlaubt ist, liefert nicht ausschließlich das Resultat der Handlung, sondern stellen auch die verwendeten Mittel. "Die Gesetze über die Zauberei sind (kompliziert) wie diel Gesetze über den Schabbat," sagt der~ babylonische Talmudlehrer Abbaje (Gest. 338; BT Sanhedrin 67b), "Es gibt solche, die mit Steinigung zu bestrafen sind, solche, die straffrei, aber verboten sind, und solche, die erlaubt sind. Wer eine magische Handlung ausführt, ist zu steinigen, wenn jemand die Menschen irreführt," (indem er den Anschein erweckt, er führe eine magische Handlung aus) so "ist dies verboten aber straffrei. Erlaubt ist eine Handlung~ wie jene des Rabbi Chanina und Rabbi Oschaja, die sich jeden Freitag mit den Gesetzen der Schöpfung beschäftigten und so ein Kalb schufen, das sie verzehrten." Das heißt, dass sie dafür heilige göttliche Namen verwendeten, was erlaubt ist. Von hier führt der Weg ziemlich direkt zu den Ba'ale Schem, den Herrn des (göttlichen) Namens des Mittelalters und der Neuzeit, auf die wir noch zu sprechen kommen.

Heilende Praktiken waren erlaubt

Eine generelle Erlaubnis wurde im Talmud für alle magischen Praktiken gegeben, die heilende Wirkung haben. "Alles, was heilende Wirkung hat, gilt nicht als Wege der Emoriter", also der palästinensischen Ureinwohner, und ist darum erlaubt. Der Grund für diese Erlaubnis kann als sehr pragmatischer Zugang der Rabbinen zu Krankheit und Heilung verstanden werden. Wenn ich zur Gesundung eines Menschen beitragen kann, interessiert mich die Wirkweise des Heilmittels nicht; wichtig ist, dass der Mensch gesund wird, und sei es auch durch den Placebo-Effekt eines heidnischen Rituals (Nach R. David Hoffmann, Responsa Melamed le-ho'il, II, 63) . Diese Interpretation wird durch eine Formulierung des Maimonides in seinem Kodex (Gesetze über den Götzendienst 11,11) unterstützt: "Wenn jemand von einem Skorpion oder von einer Schlange gebissen wurde, ist es erlaubt, an der Stelle des Bisses selbst am Schabbat Zaubersprüche zu sprechen, um den Gebissenen zu beruhigen und seine Widerstandskraft zu stärken. Obwohl das Ganze überhaupt nichts nützt, wurde dies erlaubt, da er in Gefahr schwebt, damit er nicht beunruhigt wird." Eine andere Interpretation ist, dass die Heilkräfte die positive Wirkung des Zaubers beweisen. Positiv wirkende Zauberei ist aber erlaubte Zauberei - womit die Wirkung als Kriterium durch die Hintertür wieder zum Vorschein gekommen ist!

Naturwissenschaftliche Gesetze bestimmen die Grenzen

Zu diesen Interpretationen gilt es jene des Maimonides anzufügen. Er schreibt - im 12, Jahrhundert! "Alles, dem wir eine Wirkung zuschreiben, das sich nicht aus der naturwissenschaftlichen Forschung ergibt, das aber dennoch wirken soll, wie z.B. (...) die speziellen Energien, darüber wurde gesagt nach ihren Gesetzen sollt ihr auch nicht verhalten. (...) Dies nannten die Weisen die Wege der Emoriter, da es sich um magische Handlungen handelt, also Handlungen, die nicht aufgrund naturwissenschaftlicher Folgerungen geschehen, sondern (...) zwangsläufig auf astrologischem Denken beruhen," einem Denksystem, das andere Kausalitäten als direktes göttliches und/oder natürliches Wirken kennt, "was den Glauben an die Gestirne (...) verstärkt. Die Weisen sagten: Alles, was heilende Wirkung hat, gilt nicht als Weg der Emoriter. Sie wollen damit sagen, alles, was sich aus der naturwissenschaftlichen Forschung ergibt, ist erlaubt, alles andere verboten (...). Wundere dich nicht, warum sie (...) das Tragen eines Fuchszahns erlaubten (...), denn zu dieser Zeit glaubten sie noch, die Erfahrung beweise dessen Wirkung."

Der Umgang mit abgeschnittenen Fingernägeln als praktisches Beispiel

Als praktisches Beispiel möchte ich über den Umgang mit abgeschnittenen Fingernägeln berichten. In vielen Kulturen gibt es den Glauben, mit abgeschnittenen Haaren, Fingernägeln etc. müsse vorsichtig verfahren werden. So gibt es bei den Eskimos zum Beispiel die Regel: "Verbrenne immer deine Fingernägel, nachdem du sie geschnitten hast, damit deine Nägel nicht Menschen heimsuchen, die versuchen, deinen Körper zu finden, nachdem du gestorben bist." Im Talmud wird festgehalten: "Bei fünf Dingen vergeht sich derjenige, der sie tut, an seiner Seele und seine Blutschuld lastet auf ihm: Wer geschälten Knoblauch, geschälte Zwiebeln und geschälte Eier isst, wer gemischte Getränke trinkt, über denen eine Nacht vergangen ist, wer im Friedhof übernachtet, wer seine Nägel schneidet und sie auf die Straße wirft, wer sich zur Ader lässt und danach Geschlechtsverkehr hat." Anschließend werden die Dinge im Talmud einzeln begründet: "Wer seine Nägel schneidet und sie auf die Straße wirft: Es könnte eine schwangere Frau über sie treten und eine Fehlgeburt haben." Weiter an dieser Stelle im Talmud: Die Rabbinen lehrten: "Drei Dinge wurden über Fingernägel gesagt: Wer sie verbrennt, ist ein Frommer, wer sie vergräbt, ein Gerechter, wer sie wegwirft, ein Übeltäter." Die Verbrennung ist dem Vergraben vorzuziehen, weil beim Vergraben zu befürchten ist, dass die Fingernägel wieder zum Vorschein kommen und Schaden anrichten könnten.

Ableitung von Talmud zum jüdischen Recht

Wie hat die zitierte Stelle aus dem Talmud ihren Niederschlag in der Halachah - dem verbindlichen jüdischen Recht - und den entsprechenden Kodizes gefunden? Interessanterweise ist einzig die Weisung bezüglich Aderlass und anschließendem Geschlechtsverkehr in Maimonides' halachischem Werk zu finden (Hilchot De'ot 4,19), der vom Autor wohl medizinische Bedeutung zugeordnet wurde. Alle anderen Richtlinien sind weder bei Maimonides noch im Schulchan Aruch - dem Kodex aus dem 16. Jahrhundert, der heute für alle orthodoxen Juden verbindlich ist - vorzufinden. Daraus ist zu folgern, dass solchen Passagen aus dem Talmud kein verbindlicher, weisungsgebender Charakter zugeordnet wurde; vielmehr wurden sie als Reflexionen persönlicher Meinung oder als Wissensstand der damaligen Zeit verstanden.

Regeln zum Schneiden der Fingernägel

Nach einer mehrere hundert Jahre dauernden Periode, in der für das Schneiden der Fingernägel keine speziellen Regeln zu beachten waren, wird im 14. Jahrhundert vom spanischen Rabbi David Abudraham folgende Regel gegeben: "Wenn man die Nägel schneidet, soll man sie nicht in ihrer Reihenfolge schneiden. Man fange links beim Ringfinger an und rechts beim Zeigefinger. Das Zeichen dafür: 4-2-5-3-1 für die Linke, 2-4-1-3-5 für die Rechte." Diese Regel hat über die Glossen des Rabbi Moscheh Isserles (Krakau, 1525 – 1572) Eingang in den Schulchan Aruch gefunden. Gleichzeitig wird in den Kommentaren berichtet, viele Autoritäten hätten sich nicht an die Regel gehalten, unter anderem auch der große Kabbalist R. Isaak Luria (Safed, 1534 – 1572).

Die Beziehung zwischen Magie und der Kabbalah

Wie kommt es, dass eine Praxis, die über viele Jahrhunderte wegen ihres magischen Hintergrundes nicht eingehalten wurde, plötzlich wieder aktuell wird? Wir müssen ein wenig über die Beziehung zwischen Magie und Kabbalah sprechen, bevor ich ihnen eine mögliche Antwort zu dieser Frage präsentieren kann. R. Moscheh Cordovero, ein wichtiger Kabbalist im Safed des 16. Jahrhunderts, schreibt (Pardes Rimonim, 10,1): "Es besteht kein Zweifel, dass die Farben einen Zugang zu den Wirkungen der Sefirot", dem kabbalistischen Bild der göttlichen Emanation, das auch als Lebensbaum bekannt ist und das zu neuplatonischen Ideen in Beziehung steht, "bieten und dazu, ihren Einfluss hinunter (zur Erde) zu ziehen. Wenn jemand also den Einfluss des Erbarmens von der Sefirah Chessed (unbegrenzte Liebe) hinunter ziehen möchte, soll er sich (vor seinem inneren Auge) den Namen der Sefirah vorstellen mit der Farbe, die zu dem passt, was er benötigt und die der Farbe der Sefirah entspricht. Wenn er also vollkommene Gnade (benötigt, stelle er sich) das hellste Weiß (vor). (...) Wer etwas bewirken möchte und den Einfluss von (der Sefirah) Gericht braucht, kleide sich in rote Gewänder und stelle sich die Form des göttlichen Namens in Rot vor. Dasselbe gilt für alle Wirkungen und Einflüsse. (...) Dies gilt auch für Amulette. Wenn jemand ein Amulett für Unbegrenzte Liebe vorbereitet, stelle er sich den (göttlichen) Namen in glänzendem Weiß vor, da so die Wirkung des Namens gesteigert wird."

Starke Ähnlichkeiten mit magischen Praktiken

In dieser Passage sehen wir, wie das System der Sefirot für magische Aktivität instrumentalisiert wird. Statt der Geister, die über Kleider und Farben angerufen werden, spricht der magische Kabbalist hier die Sefirot an. Die Technik zielt hier darauf, den Einfluss der himmlischen Kräfte, der Sefirot, entsprechend den Wünschen des Magiers wirken zu lassen. Cordovero war sich der Übereinstimmung seiner Konzepte mit magischen Vorstellungen bewusst. Gleich anschließend schreibt er: "Diese Dinge sind jenen, die Amulette schreiben, bekannt und klar, und wir haben keinen Anteil an ihrem Werk. Aber wir sahen jemanden, der Amulette (...), die auf das Gericht hinweisen in Rot schrieb, solche für Unbegrenzte Liebe in Weiß und solche für Erbarmen in Grün. Alles erfolgte in Übereinstimmung damit, was ihn (himmlische) Meister über die Herstellung von Amuletten lehrten. All dies lehrt, dass die Farben einen Zugang zu himmlischen Wirkungen bieten." Der Kabbalist war sich also der Ähnlichkeit seiner Kabbalah mit magischen Praktiken bewusst. Trotz seiner Zurückhaltung gegenüber dieser Praxis stand er mit jemandem in Kontakt, der diese Technik verwendete, und betrachtete diese auch von himmlische Herkunft. Vielleicht die einflussreichste Persönlichkeit des jüdischen Mystizismus, die schon durch ihren Namen als Magier wahrgenommen wurde, war R. Israel ben Elieser, der Ba'al Schem Tov, der Meister des (himmlischen) Namens, der Gründer des Chassidismus. Er wurde auch als Heiler verstanden, der himmlische Namen und Amulette als Mittel für Heilungen gebrauchte.

Magische Konzepte trotz antimagischer Tendenz

Hier möchte ich eine Frage formulieren: Wie ist es möglich, dass eine Religion, deren grundlegende kanonische Bücher - die Bibel und die talmudische Literatur - in ihrer Tendenz eher antimagisch sind, dermaßen viele magische Konzepte absorbieren konnte? Die Frage wird noch pointierter, wenn wir bedenken, dass die zitierten Persönlichkeiten, wie R. Moscheh Cordovero oder der Ba'al Schem Tov, zur jüdischen Elite gehörten und nicht etwa aus Unwissen das Verbot magischer Praktiken ignorierten. Eine Antwort könnte in den Prozessen gefunden werden, die der Absorption magischer Inhalte im 15. Jahrhundert vorangingen. Seit dem 9. Jahrhundert wurde das jüdische Denken um zwei Strukturen erweitert, nämlich die philosophische und die kabbalistische. Diese Strukturen veränderten - jede auf ihre Art - die Bedeutung religiösen Handelns im Judentum, manchmal auch das Verständnis der Bedeutung Israels in der Welt. Spätestens im 15. Jahrhundert waren diese Strukturen im Judentum integriert und bildeten einen Bestandteil seiner Theologie. Dies erleichterte das Eindringen magischer Praktiken ins Judentum. Wenn die Kabbalah die soterische Bedeutung des Judentums betonte, warum sollte dann die praktische Anwendung der Kabbalah ausgeschlossen werden? Wenn neoplatonische Theorien bereits Bestandteil des Judentums waren, warum sollte dann die praktische Anwendung dieser Theorien abgelehnt werden?

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Paradigmen können kulturell unterschiedlich sein

>> Das Spannungsfeld zwischen Volksreligion und theologischer Lehre

>> Der Umgang mit dem Magischen im Judentum

>> Streben der Menschen, mehr über die Zukunft zu erfahren

>> Die Existenz von Geistern wurde lange nicht geleugnet

>> Interpretation der biblischen Verurteilung der Magie

>> Magische Handlungen sind sinnlos

>> Talmut anerkennt magische Wirkungen

>> Gegensätzliche Anschauungen zur Magie im Mittelalter

>> Keine Unterscheidung zwischen Religion, Magie und Wissenschaft

>> Komplizierte Reglung der Akzeptanz magischer Handlungen

>> Heilende Praktiken waren erlaubt

>> Naturwissenschaftliche Gesetze bestimmen die Grenzen

>> Der Umgang mit abgeschnittenen Fingernägeln als praktisches Beispiel

>> Ableitung von Talmud zum jüdischen Recht

>> Regeln zum Schneiden der Fingernägel

>> Die Beziehung zwischen Magie und der Kabbalah

>> Starke Ähnlichkeiten mit magischen Praktiken

>> Magische Konzepte trotz antimagischer Tendenz

 
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