Der Schöpfer und sein Werk zwischen Anklage und Rechtfertigung
Von Ferdinand Dexinger (Biografie)
Warum? lautet immer wieder die anklagende Frage des Menschen vor
Gott angesichts des Leids. Das damit bezeichnete Problem bestimmt das
gesamte biblische Denken. In seiner Not wendet sich der Einzelne mit Fragen
an seinen Schöpfer und dieser gerät in die Rolle des Angeklagten, der der
Rechtfertigung bedarf. Überlegungen dazu aus dem jüdischen Verständnis
von Schicksal und Geschichte.
In gewisser Weise beschäftigt sich das ganze sogenannte AT mit unserer
Thematik, geht es doch immer wieder darum, wie Individuen oder das ganze
Volk das teilweise harte Lebensschicksal bewältigen. Die Exoduserzählung
ist dabei jener Schlüsseltext, der die prinzipiell optimistische Sicht der
biblischen Religion festschreibt, die darin besteht, dass die rettende Kraft
des Gottes Israels schlussendlich das Heil schafft.
Hiob in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
In dieser Schrift werden fundamentale Zweifel an der Gültigkeit des eben
aus dem AT erhobenen Befundes geäußert: "Ausgelöscht sei der Tag, an
dem ich geboren bin, . ..." (Jb 3,3). Ist dieses Wort im Mund Hiobs
nicht Ausdruck letzter Hoffnungslosigkeit, was sein individuelles Schicksal
betrifft?
Christliche Auferstehungshoffung schon im Alten Testament?
Der Kenner des Buches wird ihm andere Worte Hiobs entgegenhalten:
"Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich
über dem Staub" (Jb 19,25). Ist das nicht die frühjüdische und
christliche Hoffnung auf Erlösung in der Auferstehung? Es mag sein, dass
spätere Generationen, die dieses Buch gelesen und überliefert haben, es so
verstanden. Als aber diese Dialoge eines verzweifelnden und verzweifelten
Hiob im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurden, kannte das nachexilische
Judentum eine solche Hoffnung noch nicht. Welche Hoffnung konnte Hiob also
haben?
Kein Happy end? Hiob fragt: Gott, warum bekämpfst Du mich?
Der Leser des Buches wird die bekannte Rahmengeschichte ins Treffen
führen (Jb 1-2; 42,7-17). Nach dieser Legende lässt Gott zwar die
Versuchung des Hiob zu, belohnt ihn aber, nachdem er sich bewährt hat, mit
einem Vielfachen der vorerst verlorenen irdischen Güter. Dieses "Happy
end" des Buches ist aber nur eine vom Endredaktor gut gemeinte
Umrahmung eines Dialogs, der an die Wurzeln des biblischen Gottesglaubens
rührt: "Er, der im Sturm mich niedertritt, der ohne Grund meine Wunden
mehrt, er lässt mich nicht zu Atem kommen ... Einerlei; so sag' ich es:
Schuldlos wie schuldig bringt er um ... Ich sage zu Gott: ... lass mich
wissen, warum du mich befehdest" (Jb 9,17-22; 10,2).
Hiobs geheime Schuld als Ursache für sein Leiden
Auf diesen massiven Angriff Hiobs gegen den Gott der Bibel reagiert
Zophar, einer der Gesprächspartner, mit einer Art
"Maulkorberlass": "Soll dieser Wortschwall ohne Antwort
bleiben, und soll der Maulheld recht behalten?" (Jb 11,2). Es fällt
ihm nicht viel mehr ein, als der Hinweis auf eine von ihm angenommene,
geheime Schuld des leidenden Hiob.
Hiob will sich angesichts seiner Lage vor Gott rechtfertigen
Hiob weiß sich jedoch als schuldlos. Jedenfalls vermag er zwischen der
Größe seines Leides und seinem etwaigen menschlichen Versagen keine
vernünftige Relation zu sehen. Man versteht so seine fast anmaßend
klingenden Worte: "Mit Gott zu rechten ist mein Wunsch. Er mag mich
töten, ich harre auf ihn; doch meine Wege verteidige ich vor ihm!" (Jb
13,3.15). Hiob will also Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten,
um sich rechtfertigen zu können.
Tod kein Anlass für Hoffnungslosigkeit
Hiob ist Realist. Weder er noch seine Freunde weisen als Ausweg auf das
"innere Glück" hin, das auch der Arme und Leidende haben kann.
Gesundheit, Besitz und Wohlergehen werden im ganzen Buch selbstverständlich
als wesentliche Elemente eines glücklichen Daseins verstanden. Wobei jedoch
erst die Dauerhaftigkeit dieses Zustandes das Glück bedingt. So kann Zophar
auch angesichts der in Saus und Braus lebenden Missetäter sagen:
"Weißt du nicht.... dass kurz nur währt der Frevler Jubel, einen
Augenblick nur des Ruchlosen Freude?" (Jb 20,5). Damit lässt sich Hiob
aber nicht mundtot machen, seine Lebenserfahrung lehrt ihn das Gegenteil:
"Warum bleiben Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft? (Jb
21,7.13). Es ist auffällig, dass der Tod an sich für Hiob nicht Anlass zur
Hoffnungslosigkeit ist. Der Tod am Ende eines vollen Lebens ist für ihn
auch ohne Jenseitshoffnung kein unerträglicher Gedanke.
Wie kann man Gott finden?
Zunächst stellt sich für Hiob aber das Problem, wie er seinen Gott
überhaupt finden kann, um den Rechtsstreit mit ihm zu beginnen:
"Wüsste ich doch, wie ich ihn finden könnte, gelangen könnte zu
seiner Stätte" (Jb 23,3). Hiob ist hier durchaus in der Situation des
modernen Menschen, der seine Hoffnung nicht mehr aus der Gewissheit eines
überlieferten Gottesbildes zu schöpfen vermag. Die Frage des Hiob hat, das
sollte man nicht vergessen, in der weiteren Geschichte der biblischen
Religion eine Antwort hervorgebracht, die dem Fragenden selbst noch fremd
war, nämlich die Jenseitshoffnung, die Eschatologie. Hiob kennt noch keine
ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits.
Gott ist viel größer als der Mensch
Es ist nicht leicht zu sagen, wo der Kern der Antwort liegt, die im Buch
Hiob gegeben wird. Aber suggeriert nicht schon die Elihu-Rede den zentralen
Gedanken: "Du bist nicht im Recht, sage ich dir, denn Gott ist größer
als der Mensch" (Jb 33,12). Die Größe der Schöpfung, der gegenüber
sich der Mensch klein, aber nicht unwichtig fühlen kann und muss, lässt
auch Hoffnung wachsen. So drückt die Gottesrede diesen Gedanken recht
konkret aus: "Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn,
wenn du Bescheid weißt" (Jb 38,4). Ganz unerwartet gibt sich Hiob
geschlagen: "Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? (Jb
40,4) So hab ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar
und unbegreiflich für mich sind" (Jb 42,3). In der eigenen
Lebenserfahrung hat Hiob keinen Hinweis auf eine sinnvolle Weltordnung
gefunden, die ihm Anlass zur Hoffnung böte. Es wird ihm auch in der
Herrlichkeit des Kosmos keine konkrete Hoffnungserfüllung deutlich. Was ihm
geschenkt wird, ist eine bescheidene Haltung, die offen ist für Hoffnung
und Sinn, ohne beides mit Händen greifen zu können. Daher ist seine
Reaktion Schweigen. Ein Schweigen, das nicht in Verzweiflung seine Ursache
hat, sondern eher in einer hoffnungsvollen Melancholie angesichts der
eigenen Lebenslage und angesichts der Wunder der Schöpfung.
Das Buch Kohelet: Gesetzestreue werden wie Verbrecher behandelt
Dem Buch liegt eine sehr ähnliche Problematik zugrunde, wie sie im Buch
Hiob zum Ausdruck kommt. So heißt es im Buch Kohelet: " Es gibt
nämlich gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie
Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht,
als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt. " (Koh 8,14). Für Kohelet
gibt es auch ganz ausdrücklich keine jenseitige Vergeltung, wie sich aus
Koh 3,19 ergibt: "Denn das Geschick der Menschenkinder und das Geschick
der Tiere, - sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so
sterben auch jene. Den gleichen Odem haben sie alle, und es gibt für den
Menschen keinen Vorteil vor dem Tier. .. Alles ist aus Staub geworden und
alles kehrt zum Staub zurück." Diese Position ist weder für die
biblische Religion noch für das nachbiblische Judentum normativ geblieben.
Vielmehr gilt: "Viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden
aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewiger
Schande." (Dan12,2)
Antworten auf den Sinn des Leidens
In dieser Periode der biblischen Religion lassen sich etwa folgende
Antworten auf den Sinn des Leides finden: (1) Leid als Vergeltung und
Vorbeugung für Sünden, (2) als Vorwegnahme der Strafe im Jenseits, (3) als
Prüfung und Läuterung der Gerechten, (4) als Glaubenszeugnis und Ausdruck
reiner Gebotserfüllung und (5) stellvertretendes Leiden.
Schicksal des einzelnen steht im Mittelpunkt
In den Schriften des rabbinischen Judentums steht das Schicksal des
einzelnen im Mittelpunkt, der in seiner Not Fragen stellt, die über seine
eigene Bedrängnis hinausweisen und sich an den Schöpfer und sein Werk
richten. Allerdings weiß die rabbinische Tradition des 4. Jhs. n. Chr. um
die immer wiederkehrenden Leiden in der Geschichte und nimmt diesbezüglich
auch eine Periodisierung vor: "In drei Teile sind die Leiden eingeteilt
worden: Ein Teil für die (vorabrahamitischen) Generationen und die
Erzväter, ein Teil für die Zeit der Religionsverfolgung und ein Teil für
(die Zeit des) Königs Messias; das ist es, was geschrieben steht: Er ist
durchbohrt wegen unserer Verbrechen"` (Jes 53,5) (MShem 19,1).
Das Gefühl, in der Geborgenheit Gottes zu leben, wird durch die
Realität erschüttert
Das Bewusstsein, im Schutze der göttlichen Vorsehung zu leben, vermag
dem gläubigen Juden jedoch ein starkes Gefühl der Sicherheit und
Geborgenheit zu geben. Wie aber die klassischen rabbinischen Quellen zeigen,
wurde und wird dieses Bewusstsein durch die tatsächlichen Verhältnisse in
der Welt erschüttert. Die rabbinisch-jüdische Beschäftigung mit
diesbezüglichen Fragen erfolgte nicht in Form einer
theoretisch-philosophischen Theodizee, sondern in einer praxisbezogenen
Auseinandersetzung mit konkreten Situationen. Die dabei gebrauchten
Argumente sind am ehesten als argumenta ad hominem zu charakterisieren.
Rabbi Akibas und Rabbi Eliezers Erklärung für das Leiden in der Welt
Eine wichtige Überlieferung ist in diesem Zusammenhang die Schilderung
des Besuches von Rabbi Akiba am Sterbelager seines Lehrers Rabbi Eliezer und
ihre Begründung für das Leiden in der Welt: "Als R. Eliezer krank
ward besuchten ihn seine Schüler. Da sprach er zu ihnen: Ein gewaltiger
Zorn herrscht in der Welt. Da begannen sie alle zu weinen, während R. Akiba
lächelte. Sie fragten ihn: Weshalb lächelst du? Er entgegnete ihnen:
Weshalb weint ihr? Sie erwiderten ihm: Ist es denn möglich, dass, wenn die
Tora in Schmerzen weilt, wir nicht weinen sollten? Er entgegnete ihnen:
Deshalb lächle ich; solange ich gesehen, dass beim Meister der Wein nicht
sauer der Flachs nicht zerschlagen, das Öl nicht übelriechend und der
Honig nicht verdorben wird, dachte ich: vielleicht hat der Meister, behüte
und bewahre, seinen Lohn bereits erhalten; nun ich aber den Meister in
Schmerzen sehe, freue ich mich. Da sprach dieser zu ihm: Akiba, habe ich
vielleicht etwas von der ganzen Tora unterlassen? Dieser erwiderte: Meister
du selber hast uns gelehrt: "Es gibt keinen Frommen auf Erden, der nur
Gutes täte und nicht sündigte" (Koh 7,20).
Kein Tod ohne Sünde, kein Leid ohne Schuld
Mit der Schilderung dieser Episode wird die Ansicht vertreten, dass
kleine, kaum merkbare und bemerkte Vergehen der Berechtigungsgrund für
Gottes Strafe sind. So ist auch die Begebenheit zu verstehen, die in der
Mischna geschildert wird und die in der Zeit Hadrians spielt. R. Jischmael
und R. Schimeon suchen nach den kleinsten und unbedeutendsten Verfehlungen
in ihrem Leben, um auf diese Weise das harte Los des Martyriums zu
rechtfertigen. Das geschieht nach dem Prinzip des Rav Ami, wonach es
"keinen Tod ohne Sünde und kein Leid ohne Schuld" gibt.
Züchtigung als Grund für Leiden
Eine andere Sichtweise bietet der zweite Teil des Textes: Hierauf hob R.
Akiba an und sprach: "Lieb sind die Züchtigungen. Da sprach er (sc. R.
Eliezer) zu ihnen: Stützt mich, ich will die Worte meines Schülers Akiba
hören, welcher sagte: lieb sind die Züchtigungen. Hierauf fragte er ihn:
Akiba, woher weißt du dies? Dieser erwiderte: Ich deduziere es aus einem
Schriftverse: "Und der Herr redete zu Manasse und zu seinem Volke, aber
sie achteten nicht darauf Da ließ der Herr die Heerführer des Königs von
Assur über sie kommen; sie fingen Manasse mit Haken, fesselten ihn mit
Ketten und führten ihn nach Babel. ... Als er nun in Bedrängnis war,
suchte er den Herrn, seinen Gott, zu begütigen und demütigte sich vor dem
Gott seiner Väter. Als er nun zu ihm betete, ließ er sich erbitten; er
erhörte sein Flehen und brachte ihn zurück nach Jerusalem in sein
Königtum. Da erkannte Manasse, dass der Herr der wahre Gott sei" (2Chr
33,10). Hieraus lernst du, wie lieb die Züchtigungen sind.
Leiden als pädagogisches Ziel
Hier ist das Leiden nicht Strafe, sondern es hat vielmehr ein
pädagogisches Ziel, nämlich zur Einsicht in ein sündhaftes Fehlverhalten
und zur Umkehr zu führen. Welcher Art nun ein Leiden ist, kann der Mensch
durch geeignete Reflexion feststellen. Wie man dabei vorzugehen hat, wird im
Talmud beschrieben. Wenn ein Mensch von Leiden heimgesucht wird, soll er
"seine Handlungen prüfen ... Hat er geprüft und nichts gefunden, so
schreibe er es der Vernachlässigung der Tora zu ... Hat er auch dazu keinen
Grund gefunden, so sind es sicherlich Leiden der Liebe". Gemeint ist
die Liebe Gottes zum Menschen. Die Annahme solcher Leiden durch den Menschen
wird reichlich belohnt, wie es an derselben Stelle des Talmuds heißt:
Kinder, langes Leben und erfolgreiche Erfüllung von Gottes Begehr (nach Jes
53,10). So gesehen sind Leiden ein Zeichen der Bevorzugung durch Gott.
Leid als Erlösung für die Welt
Zusammenfassend charakterisiert R. Jehoschua ben Levi die Bedeutung des
Leidens: "Jeder, der sich über das Leid freut, das auf ihn kommt,
bringt Erlösung für die Welt." Es ist überraschend, dass solch
stellvertretendes Leiden nach bQid 31b sogar ins Jenseits wirken kann: Wenn
jemand Lehren seines verstorbenen Vaters vorträgt und dabei sagt:
"Mein Vater, mein Meister, für dessen Lager sei ich eine Sühne",
so hilft das nach Auslegung Raschis dem Verstorbenen, die Läuterung im
Gehinnom schneller zu überstehen.
Der Gedanke des stellvertretenden Leidens stellt zweifellos eine
strukturelle Gemeinsamkeit mit christlichem Denken dar. Allerdings gibt es
im Judentum keine Parallele zur diesbezüglichen Funktion Jesu. Man kann
also nicht allgemein sagen, dass die Idee vom stellvertretenden Sühneleiden
in den rabbinischen Texten überhaupt nicht zu finden sei. Durch die
Verbindung mit Jesus hat das Sühneleiden im Christentum jedoch eine im
Judentum so nicht begegnende Dimension.
Rabbi Nechemja: Leiden erregen Wohlgefallen
Die positive Sicht des Leidens kommt in einer Aussage von Rabbi Nechemja
(um 160 n.) gebündelt zum Ausdruck: "Innig geliebt sind die Leiden!
Wie nämlich die Opfer Wohlgefallen erregen, so erregen Leiden Wohlgefallen
... Darüber hinaus erregen die Leiden mehr Wohlgefallen als die Opfer.
Weshalb? Weil die Opfer mit Geld abgeleistet werden, die Leiden aber mit dem
Körper" (MekhY zu 20,23). Mit diesen Überlegungen führt die
rabbinische Theologie ganz eindeutig über die Bibel hinaus. Dadurch
entfällt für sie gleichzeitig das Wesentliche am Theodizee-Problem, besser
gesagt, es wird auf diese Weise gelöst. Das Leiden wird als eine spezielle
Form des Opfers angesehen, wie es vor der Zerstörung des Tempels
dargebracht wurde.
Zweifel an der Existenz eines Lenkers der Welt
Dem stehen freilich andere Aussagen gegenüber, die angesichts des Leides
in der Welt und dem Fehlen einer ausgleichenden Gerechtigkeit an der
Existenz eines Lenkers der Welt überhaupt zweifeln. So wird etwa Abraham
vorgeworfen, er habe an der Existenz eines Lenkers der Welt gezweifelt (BerR
39,1 ). Besonders prägnant kommt diese Position in der Formel zum Ausdruck,
die dem Geschlecht der Sintflut in den Mund gelegt wird: "Gott richtet
nicht; Es gibt keinen Richter der Welt; Gott hat die Welt verlassen"
(ARN 32). In diese Richtung weist auch ein anderer Text (bMen 29b), der
deutlich macht, dass es keinen augenscheinlichen Zusammenhang zwischen den
verhängten Leiden und dem göttlichem Willen gibt.
Ausgleichende Gerechtigkeit ins Jenseits verlagert
Die Problematik der Annahme einer ausgleichenden Gerechtigkeit in dieser
Welt wurde von den rabbinischen Gelehrten nachhaltig empfunden, so dass die
Verlagerung einer ausgleichenden Gerechtigkeit ins Jenseits ein
entscheidender Versuch war, der Gottesleugnung zu begegnen
und vor allem auch das Theodizeeproblem zu lösen. "Folgende Dinge
sind es, deren Früchte der Mensch bereits in diesem Leben genießt, deren
Kapital ihm jedoch für das künftige Leben verbleibt: Ehrerbietung gegen
Eltern, Wohltätigkeit, Friedensstiften unter Nebenmenschen, aber das
Studium des Gesetzes übertrifft alle" (mPea l .l ).
Leiden sind die Prüfungen der Gerechten
Es lässt sich ganz allgemein sagen, dass vor allem die in der
rabbinischen Literatur erfolgte Entfaltung der biblischen Tradition bei den
Religionsphilosophen des Mittelalters weitergewirkt hat. Das sei nur durch
ganz wenige Beispiele belegt: Bei Saadja Gaon (882-942 n.Chr.) spielt etwa
der Gedanke eine wichtige Rolle, dass die Leiden der Gerechten Prüfungen
sind, die in der zukünftigen Welt vergolten werden können. Die Leiden der
Gerechten seien deshalb oft größer als die der Frevler, weil ihnen dadurch
ein herrlicherer Lohn zuteil werden kann.
Das Glaubensbekenntniss des Maimonides
Ich glaube mit voller Überzeugung, dass der Schöpfer, gepriesen sei
sein Name, wohl vergilt all denen, die seine Gebote erfüllen, und übel tut
denen, die seine Gebote brechen. Ich glaube mit voller Überzeugung, dass
einst zu seiner Zeit, wenn es dem Schöpfer, gepriesen sei sein Name und
erhoben sein Gedenken immer und ewig, wohl gefällt, die Toten auferstehen
werden.
Aspekte der jüdischen Rezeption des Holocaust
Das Problem der Theodizee ist seit Auschwitz für das religiöse Judentum
und nicht nur für dieses drängender geworden als jemals zuvor. Die
verschiedenen innerjüdischen Antworten auf die durch die Schoa ausgelösten
religionsphilosophischen Fragen entsprechen zugleich den Grundformen
heutiger jüdischer Identität. Es seien hier einige Beispiele vorgelegt,
die diese Richtungen veranschaulichen.
Es geht um die Untat als solche
Das traditionelle (=orthodoxe) rabbinische Judentum ist etwa durch
Eliezer Berkovits (geb. 1900) repräsentiert, der in seinem Werk "Faith
after the Holocaust" eine Antwort versucht, die im traditionellen
Argumentationsbereich liegt. Für ihn sind die Ausmaße dieses Geschehens,
nicht jedoch der Kern, in seiner Problematik einmalig. Der Kern des Problems
sei im wesentlichen kein anderer, ob nun ein Jude oder sechs Millionen
ermordet wurden, weil es um die Untat als solche geht. So ist es für ihn
möglich, auch die Katastrophe, wenn schon nicht zu erklären, so doch
theologisch als Verborgenheit des Antlitzes Gottes (vgl. Jes 54,8) zu
verstehen, d.h., dass Gott sein Antlitz verbirgt und eine Generation für
deren Sünden bestraft. Berkovits betont gleichzeitig, dass es für
gläubige Juden jedoch unangemessen wäre, Auschwitz so zu betrachten, als
wäre es die einzige Art der Beziehung, die Gott zu Israel hat. Wenn in
Auschwitz Israel des verborgenen Antlitzes Gottes gewahr wurde, so ist nach
Berkovits die Geburt des Staates Israel wenigstens ein Lächeln auf diesem
Antlitz.
Fackenheim lehnt Schuld der Opfer ab
Für Emil Fackenheim (geb. 1916 in Halle) hat Gott in Auschwitz ebenso
gesprochen wie am Sinai. Er lehnt die Argumentation von Berkovits ab, der
irgendwie nach einer Schuld der Opfer sucht. Es geht ihm um die
Aufrechterhaltung des Dialogs mit dem göttlichen Du in einer Lage, in der
alle anderen Formen des Gesprächs versagen. Hier ist ein vom
religionspsychologischen Standpunkt aus enorm wichtiges Element jüdischer
Religiosität zu nennen, das dem Christentum weitgehend unbekannt ist,
nämlich der Kampf, die Auseinandersetzung mit dem schweigenden und rufenden
Gott. Seit Jakob mit dem Engel gekämpft hat, legt Israel auch in diesem
Kampf Zeugnis für seinen Glauben ab. In der religiösen Rebellion gegen
Gott wendet sich der Jude nicht von seinem Gott ab, sondern sich ihm
vielmehr zu. Das ist natürlich keine Bewältigung des Theodizeeproblems mit
den Mitteln diskursiven Denkens, aber ein Weg, der dem möglich ist, für
den Gott ein personales Gegenüber darstellt.
Rubenstein: Angesicht der Schoa ist Gott tot
Zur äußersten negativen Konsequenz angesichts dieser Problematik
gelangt Richard L. Rubenstein (geb. 1924). Angesichts der Schoa ist für ihn
Gott tot. Er verwendet den Begriff jedoch im Sinne einer christlichen
Tod-Gottes Theologie. Seine Lehre ist daher nicht einfach ein Atheismus,
sondern eher die Konstruktion einer säkularisierten jüdischen Religion.
Für Rubenstein ist in dieser Verlassenheit des Menschen die religiöse
Gemeinde nun erst recht wichtig. Das Eingebettetsein in Sitte und Brauch des
jüdischen Volkes vermag dem Leben Richtung und Sinn zu geben. Dazu kommt
für ihn die Gefahr, dass wir in einer Welt ohne Gott der Versuchung
anarchischer Allmächtigkeit des Menschen ausgeliefert sind. In diesem Sinn
ist für ihn der Glaube an einen theistischen Gott nicht nötig, um Jude zu
sein. Es stellt sich für ihn sogar die Frage, wie man in einem Zeitalter
ohne Gott überhaupt noch von Religion sprechen kann: "I have suggested that
Judaism is the way we share the decisive times and crises of life through
the traditions of our inherited community". Man kann diese
Ausführungen wohl nicht besser beschließen als mit einem Zitat von Schalom
Ben-Chorin, mit dem er schlaglichtartig die gegenwärtige Situation des
Gottesglaubens charakterisiert: "Im Rauche der Todesfabriken ist nicht
nur der Mensch - für viele ist auch Gott dort verbrannt."
Artikel bearbeitet von ORF ON
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