Fachartikel

Der Schöpfer und sein Werk zwischen Anklage und Rechtfertigung

Von Ferdinand Dexinger (Biografie)

 

Warum? lautet immer wieder die anklagende Frage des Menschen vor Gott angesichts des Leids. Das damit bezeichnete Problem bestimmt das gesamte biblische Denken. In seiner Not wendet sich der Einzelne mit Fragen an seinen Schöpfer und dieser gerät in die Rolle des Angeklagten, der der Rechtfertigung bedarf. Überlegungen dazu aus dem jüdischen Verständnis von Schicksal und Geschichte. 

In gewisser Weise beschäftigt sich das ganze sogenannte AT mit unserer Thematik, geht es doch immer wieder darum, wie Individuen oder das ganze Volk das teilweise harte Lebensschicksal bewältigen. Die Exoduserzählung ist dabei jener Schlüsseltext, der die prinzipiell optimistische Sicht der biblischen Religion festschreibt, die darin besteht, dass die rettende Kraft des Gottes Israels schlussendlich das Heil schafft.

Hiob in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit

In dieser Schrift werden fundamentale Zweifel an der Gültigkeit des eben aus dem AT erhobenen Befundes geäußert: "Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, . ..." (Jb 3,3). Ist dieses Wort im Mund Hiobs nicht Ausdruck letzter Hoffnungslosigkeit, was sein individuelles Schicksal betrifft?

Christliche Auferstehungshoffung schon im Alten Testament?

Der Kenner des Buches wird ihm andere Worte Hiobs entgegenhalten: "Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub" (Jb 19,25). Ist das nicht die frühjüdische und christliche Hoffnung auf Erlösung in der Auferstehung? Es mag sein, dass spätere Generationen, die dieses Buch gelesen und überliefert haben, es so verstanden. Als aber diese Dialoge eines verzweifelnden und verzweifelten Hiob im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurden, kannte das nachexilische Judentum eine solche Hoffnung noch nicht. Welche Hoffnung konnte Hiob also haben?

Kein Happy end? Hiob fragt: Gott, warum bekämpfst Du mich?

Der Leser des Buches wird die bekannte Rahmengeschichte ins Treffen führen (Jb 1-2; 42,7-17). Nach dieser Legende lässt Gott zwar die Versuchung des Hiob zu, belohnt ihn aber, nachdem er sich bewährt hat, mit einem Vielfachen der vorerst verlorenen irdischen Güter. Dieses "Happy end" des Buches ist aber nur eine vom Endredaktor gut gemeinte Umrahmung eines Dialogs, der an die Wurzeln des biblischen Gottesglaubens rührt: "Er, der im Sturm mich niedertritt, der ohne Grund meine Wunden mehrt, er lässt mich nicht zu Atem kommen ... Einerlei; so sag' ich es: Schuldlos wie schuldig bringt er um ... Ich sage zu Gott: ... lass mich wissen, warum du mich befehdest" (Jb 9,17-22; 10,2).

Hiobs geheime Schuld als Ursache für sein Leiden

Auf diesen massiven Angriff Hiobs gegen den Gott der Bibel reagiert Zophar, einer der Gesprächspartner, mit einer Art "Maulkorberlass": "Soll dieser Wortschwall ohne Antwort bleiben, und soll der Maulheld recht behalten?" (Jb 11,2). Es fällt ihm nicht viel mehr ein, als der Hinweis auf eine von ihm angenommene, geheime Schuld des leidenden Hiob.

Hiob will sich angesichts seiner Lage vor Gott rechtfertigen

Hiob weiß sich jedoch als schuldlos. Jedenfalls vermag er zwischen der Größe seines Leides und seinem etwaigen menschlichen Versagen keine vernünftige Relation zu sehen. Man versteht so seine fast anmaßend klingenden Worte: "Mit Gott zu rechten ist mein Wunsch. Er mag mich töten, ich harre auf ihn; doch meine Wege verteidige ich vor ihm!" (Jb 13,3.15). Hiob will also Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, um sich rechtfertigen zu können.

Tod kein Anlass für Hoffnungslosigkeit

Hiob ist Realist. Weder er noch seine Freunde weisen als Ausweg auf das "innere Glück" hin, das auch der Arme und Leidende haben kann. Gesundheit, Besitz und Wohlergehen werden im ganzen Buch selbstverständlich als wesentliche Elemente eines glücklichen Daseins verstanden. Wobei jedoch erst die Dauerhaftigkeit dieses Zustandes das Glück bedingt. So kann Zophar auch angesichts der in Saus und Braus lebenden Missetäter sagen: "Weißt du nicht.... dass kurz nur währt der Frevler Jubel, einen Augenblick nur des Ruchlosen Freude?" (Jb 20,5). Damit lässt sich Hiob aber nicht mundtot machen, seine Lebenserfahrung lehrt ihn das Gegenteil: "Warum bleiben Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft? (Jb 21,7.13). Es ist auffällig, dass der Tod an sich für Hiob nicht Anlass zur Hoffnungslosigkeit ist. Der Tod am Ende eines vollen Lebens ist für ihn auch ohne Jenseitshoffnung kein unerträglicher Gedanke.

Wie kann man Gott finden?

Zunächst stellt sich für Hiob aber das Problem, wie er seinen Gott überhaupt finden kann, um den Rechtsstreit mit ihm zu beginnen: "Wüsste ich doch, wie ich ihn finden könnte, gelangen könnte zu seiner Stätte" (Jb 23,3). Hiob ist hier durchaus in der Situation des modernen Menschen, der seine Hoffnung nicht mehr aus der Gewissheit eines überlieferten Gottesbildes zu schöpfen vermag. Die Frage des Hiob hat, das sollte man nicht vergessen, in der weiteren Geschichte der biblischen Religion eine Antwort hervorgebracht, die dem Fragenden selbst noch fremd war, nämlich die Jenseitshoffnung, die Eschatologie. Hiob kennt noch keine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits.

Gott ist viel größer als der Mensch

Es ist nicht leicht zu sagen, wo der Kern der Antwort liegt, die im Buch Hiob gegeben wird. Aber suggeriert nicht schon die Elihu-Rede den zentralen Gedanken: "Du bist nicht im Recht, sage ich dir, denn Gott ist größer als der Mensch" (Jb 33,12). Die Größe der Schöpfung, der gegenüber sich der Mensch klein, aber nicht unwichtig fühlen kann und muss, lässt auch Hoffnung wachsen. So drückt die Gottesrede diesen Gedanken recht konkret aus: "Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt" (Jb 38,4). Ganz unerwartet gibt sich Hiob geschlagen: "Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? (Jb 40,4) So hab ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar und unbegreiflich für mich sind" (Jb 42,3). In der eigenen Lebenserfahrung hat Hiob keinen Hinweis auf eine sinnvolle Weltordnung gefunden, die ihm Anlass zur Hoffnung böte. Es wird ihm auch in der Herrlichkeit des Kosmos keine konkrete Hoffnungserfüllung deutlich. Was ihm geschenkt wird, ist eine bescheidene Haltung, die offen ist für Hoffnung und Sinn, ohne beides mit Händen greifen zu können. Daher ist seine Reaktion Schweigen. Ein Schweigen, das nicht in Verzweiflung seine Ursache hat, sondern eher in einer hoffnungsvollen Melancholie angesichts der eigenen Lebenslage und angesichts der Wunder der Schöpfung.

Das Buch Kohelet: Gesetzestreue werden wie Verbrecher behandelt

Dem Buch liegt eine sehr ähnliche Problematik zugrunde, wie sie im Buch Hiob zum Ausdruck kommt. So heißt es im Buch Kohelet: " Es gibt nämlich gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt. " (Koh 8,14). Für Kohelet gibt es auch ganz ausdrücklich keine jenseitige Vergeltung, wie sich aus Koh 3,19 ergibt: "Denn das Geschick der Menschenkinder und das Geschick der Tiere, - sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so sterben auch jene. Den gleichen Odem haben sie alle, und es gibt für den Menschen keinen Vorteil vor dem Tier. .. Alles ist aus Staub geworden und alles kehrt zum Staub zurück." Diese Position ist weder für die biblische Religion noch für das nachbiblische Judentum normativ geblieben. Vielmehr gilt: "Viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewiger Schande." (Dan12,2)

Antworten auf den Sinn des Leidens

In dieser Periode der biblischen Religion lassen sich etwa folgende Antworten auf den Sinn des Leides finden: (1) Leid als Vergeltung und Vorbeugung für Sünden, (2) als Vorwegnahme der Strafe im Jenseits, (3) als Prüfung und Läuterung der Gerechten, (4) als Glaubenszeugnis und Ausdruck reiner Gebotserfüllung und (5) stellvertretendes Leiden.

Schicksal des einzelnen steht im Mittelpunkt

In den Schriften des rabbinischen Judentums steht das Schicksal des einzelnen im Mittelpunkt, der in seiner Not Fragen stellt, die über seine eigene Bedrängnis hinausweisen und sich an den Schöpfer und sein Werk richten. Allerdings weiß die rabbinische Tradition des 4. Jhs. n. Chr. um die immer wiederkehrenden Leiden in der Geschichte und nimmt diesbezüglich auch eine Periodisierung vor: "In drei Teile sind die Leiden eingeteilt worden: Ein Teil für die (vorabrahamitischen) Generationen und die Erzväter, ein Teil für die Zeit der Religionsverfolgung und ein Teil für (die Zeit des) Königs Messias; das ist es, was geschrieben steht: Er ist durchbohrt wegen unserer Verbrechen"` (Jes 53,5) (MShem 19,1).

Das Gefühl, in der Geborgenheit Gottes zu leben, wird durch die Realität erschüttert

Das Bewusstsein, im Schutze der göttlichen Vorsehung zu leben, vermag dem gläubigen Juden jedoch ein starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Wie aber die klassischen rabbinischen Quellen zeigen, wurde und wird dieses Bewusstsein durch die tatsächlichen Verhältnisse in der Welt erschüttert. Die rabbinisch-jüdische Beschäftigung mit diesbezüglichen Fragen erfolgte nicht in Form einer theoretisch-philosophischen Theodizee, sondern in einer praxisbezogenen Auseinandersetzung mit konkreten Situationen. Die dabei gebrauchten Argumente sind am ehesten als argumenta ad hominem zu charakterisieren.

Rabbi Akibas und Rabbi Eliezers Erklärung für das Leiden in der Welt

Eine wichtige Überlieferung ist in diesem Zusammenhang die Schilderung des Besuches von Rabbi Akiba am Sterbelager seines Lehrers Rabbi Eliezer und ihre Begründung für das Leiden in der Welt: "Als R. Eliezer krank ward besuchten ihn seine Schüler. Da sprach er zu ihnen: Ein gewaltiger Zorn herrscht in der Welt. Da begannen sie alle zu weinen, während R. Akiba lächelte. Sie fragten ihn: Weshalb lächelst du? Er entgegnete ihnen: Weshalb weint ihr? Sie erwiderten ihm: Ist es denn möglich, dass, wenn die Tora in Schmerzen weilt, wir nicht weinen sollten? Er entgegnete ihnen: Deshalb lächle ich; solange ich gesehen, dass beim Meister der Wein nicht sauer der Flachs nicht zerschlagen, das Öl nicht übelriechend und der Honig nicht verdorben wird, dachte ich: vielleicht hat der Meister, behüte und bewahre, seinen Lohn bereits erhalten; nun ich aber den Meister in Schmerzen sehe, freue ich mich. Da sprach dieser zu ihm: Akiba, habe ich vielleicht etwas von der ganzen Tora unterlassen? Dieser erwiderte: Meister du selber hast uns gelehrt: "Es gibt keinen Frommen auf Erden, der nur Gutes täte und nicht sündigte" (Koh 7,20).

Kein Tod ohne Sünde, kein Leid ohne Schuld

Mit der Schilderung dieser Episode wird die Ansicht vertreten, dass kleine, kaum merkbare und bemerkte Vergehen der Berechtigungsgrund für Gottes Strafe sind. So ist auch die Begebenheit zu verstehen, die in der Mischna geschildert wird und die in der Zeit Hadrians spielt. R. Jischmael und R. Schimeon suchen nach den kleinsten und unbedeutendsten Verfehlungen in ihrem Leben, um auf diese Weise das harte Los des Martyriums zu rechtfertigen. Das geschieht nach dem Prinzip des Rav Ami, wonach es "keinen Tod ohne Sünde und kein Leid ohne Schuld" gibt.

Züchtigung als Grund für Leiden

Eine andere Sichtweise bietet der zweite Teil des Textes: Hierauf hob R. Akiba an und sprach: "Lieb sind die Züchtigungen. Da sprach er (sc. R. Eliezer) zu ihnen: Stützt mich, ich will die Worte meines Schülers Akiba hören, welcher sagte: lieb sind die Züchtigungen. Hierauf fragte er ihn: Akiba, woher weißt du dies? Dieser erwiderte: Ich deduziere es aus einem Schriftverse: "Und der Herr redete zu Manasse und zu seinem Volke, aber sie achteten nicht darauf Da ließ der Herr die Heerführer des Königs von Assur über sie kommen; sie fingen Manasse mit Haken, fesselten ihn mit Ketten und führten ihn nach Babel. ... Als er nun in Bedrängnis war, suchte er den Herrn, seinen Gott, zu begütigen und demütigte sich vor dem Gott seiner Väter. Als er nun zu ihm betete, ließ er sich erbitten; er erhörte sein Flehen und brachte ihn zurück nach Jerusalem in sein Königtum. Da erkannte Manasse, dass der Herr der wahre Gott sei" (2Chr 33,10). Hieraus lernst du, wie lieb die Züchtigungen sind.

Leiden als pädagogisches Ziel

Hier ist das Leiden nicht Strafe, sondern es hat vielmehr ein pädagogisches Ziel, nämlich zur Einsicht in ein sündhaftes Fehlverhalten und zur Umkehr zu führen. Welcher Art nun ein Leiden ist, kann der Mensch durch geeignete Reflexion feststellen. Wie man dabei vorzugehen hat, wird im Talmud beschrieben. Wenn ein Mensch von Leiden heimgesucht wird, soll er "seine Handlungen prüfen ... Hat er geprüft und nichts gefunden, so schreibe er es der Vernachlässigung der Tora zu ... Hat er auch dazu keinen Grund gefunden, so sind es sicherlich Leiden der Liebe". Gemeint ist die Liebe Gottes zum Menschen. Die Annahme solcher Leiden durch den Menschen wird reichlich belohnt, wie es an derselben Stelle des Talmuds heißt: Kinder, langes Leben und erfolgreiche Erfüllung von Gottes Begehr (nach Jes 53,10). So gesehen sind Leiden ein Zeichen der Bevorzugung durch Gott.

Leid als Erlösung für die Welt

Zusammenfassend charakterisiert R. Jehoschua ben Levi die Bedeutung des Leidens: "Jeder, der sich über das Leid freut, das auf ihn kommt, bringt Erlösung für die Welt." Es ist überraschend, dass solch stellvertretendes Leiden nach bQid 31b sogar ins Jenseits wirken kann: Wenn jemand Lehren seines verstorbenen Vaters vorträgt und dabei sagt: "Mein Vater, mein Meister, für dessen Lager sei ich eine Sühne", so hilft das nach Auslegung Raschis dem Verstorbenen, die Läuterung im Gehinnom schneller zu überstehen.

Der Gedanke des stellvertretenden Leidens stellt zweifellos eine strukturelle Gemeinsamkeit mit christlichem Denken dar. Allerdings gibt es im Judentum keine Parallele zur diesbezüglichen Funktion Jesu. Man kann also nicht allgemein sagen, dass die Idee vom stellvertretenden Sühneleiden in den rabbinischen Texten überhaupt nicht zu finden sei. Durch die Verbindung mit Jesus hat das Sühneleiden im Christentum jedoch eine im Judentum so nicht begegnende Dimension.

Rabbi Nechemja: Leiden erregen Wohlgefallen

Die positive Sicht des Leidens kommt in einer Aussage von Rabbi Nechemja (um 160 n.) gebündelt zum Ausdruck: "Innig geliebt sind die Leiden! Wie nämlich die Opfer Wohlgefallen erregen, so erregen Leiden Wohlgefallen ... Darüber hinaus erregen die Leiden mehr Wohlgefallen als die Opfer. Weshalb? Weil die Opfer mit Geld abgeleistet werden, die Leiden aber mit dem Körper" (MekhY zu 20,23). Mit diesen Überlegungen führt die rabbinische Theologie ganz eindeutig über die Bibel hinaus. Dadurch entfällt für sie gleichzeitig das Wesentliche am Theodizee-Problem, besser gesagt, es wird auf diese Weise gelöst. Das Leiden wird als eine spezielle Form des Opfers angesehen, wie es vor der Zerstörung des Tempels dargebracht wurde.

Zweifel an der Existenz eines Lenkers der Welt

Dem stehen freilich andere Aussagen gegenüber, die angesichts des Leides in der Welt und dem Fehlen einer ausgleichenden Gerechtigkeit an der Existenz eines Lenkers der Welt überhaupt zweifeln. So wird etwa Abraham vorgeworfen, er habe an der Existenz eines Lenkers der Welt gezweifelt (BerR 39,1 ). Besonders prägnant kommt diese Position in der Formel zum Ausdruck, die dem Geschlecht der Sintflut in den Mund gelegt wird: "Gott richtet nicht; Es gibt keinen Richter der Welt; Gott hat die Welt verlassen" (ARN 32). In diese Richtung weist auch ein anderer Text (bMen 29b), der deutlich macht, dass es keinen augenscheinlichen Zusammenhang zwischen den verhängten Leiden und dem göttlichem Willen gibt.

Ausgleichende Gerechtigkeit ins Jenseits verlagert

Die Problematik der Annahme einer ausgleichenden Gerechtigkeit in dieser Welt wurde von den rabbinischen Gelehrten nachhaltig empfunden, so dass die Verlagerung einer ausgleichenden Gerechtigkeit ins Jenseits ein entscheidender Versuch war, der Gottesleugnung zu begegnen

und vor allem auch das Theodizeeproblem zu lösen. "Folgende Dinge sind es, deren Früchte der Mensch bereits in diesem Leben genießt, deren Kapital ihm jedoch für das künftige Leben verbleibt: Ehrerbietung gegen Eltern, Wohltätigkeit, Friedensstiften unter Nebenmenschen, aber das Studium des Gesetzes übertrifft alle" (mPea l .l ).

Leiden sind die Prüfungen der Gerechten

Es lässt sich ganz allgemein sagen, dass vor allem die in der rabbinischen Literatur erfolgte Entfaltung der biblischen Tradition bei den Religionsphilosophen des Mittelalters weitergewirkt hat. Das sei nur durch ganz wenige Beispiele belegt: Bei Saadja Gaon (882-942 n.Chr.) spielt etwa der Gedanke eine wichtige Rolle, dass die Leiden der Gerechten Prüfungen sind, die in der zukünftigen Welt vergolten werden können. Die Leiden der Gerechten seien deshalb oft größer als die der Frevler, weil ihnen dadurch ein herrlicherer Lohn zuteil werden kann.

Das Glaubensbekenntniss des Maimonides

Ich glaube mit voller Überzeugung, dass der Schöpfer, gepriesen sei sein Name, wohl vergilt all denen, die seine Gebote erfüllen, und übel tut denen, die seine Gebote brechen. Ich glaube mit voller Überzeugung, dass einst zu seiner Zeit, wenn es dem Schöpfer, gepriesen sei sein Name und erhoben sein Gedenken immer und ewig, wohl gefällt, die Toten auferstehen werden.

Aspekte der jüdischen Rezeption des Holocaust

Das Problem der Theodizee ist seit Auschwitz für das religiöse Judentum und nicht nur für dieses drängender geworden als jemals zuvor. Die verschiedenen innerjüdischen Antworten auf die durch die Schoa ausgelösten religionsphilosophischen Fragen entsprechen zugleich den Grundformen heutiger jüdischer Identität. Es seien hier einige Beispiele vorgelegt, die diese Richtungen veranschaulichen.

Es geht um die Untat als solche

Das traditionelle (=orthodoxe) rabbinische Judentum ist etwa durch Eliezer Berkovits (geb. 1900) repräsentiert, der in seinem Werk "Faith after the Holocaust" eine Antwort versucht, die im traditionellen Argumentationsbereich liegt. Für ihn sind die Ausmaße dieses Geschehens, nicht jedoch der Kern, in seiner Problematik einmalig. Der Kern des Problems sei im wesentlichen kein anderer, ob nun ein Jude oder sechs Millionen ermordet wurden, weil es um die Untat als solche geht. So ist es für ihn möglich, auch die Katastrophe, wenn schon nicht zu erklären, so doch theologisch als Verborgenheit des Antlitzes Gottes (vgl. Jes 54,8) zu verstehen, d.h., dass Gott sein Antlitz verbirgt und eine Generation für deren Sünden bestraft. Berkovits betont gleichzeitig, dass es für gläubige Juden jedoch unangemessen wäre, Auschwitz so zu betrachten, als wäre es die einzige Art der Beziehung, die Gott zu Israel hat. Wenn in Auschwitz Israel des verborgenen Antlitzes Gottes gewahr wurde, so ist nach Berkovits die Geburt des Staates Israel wenigstens ein Lächeln auf diesem Antlitz.

Fackenheim lehnt Schuld der Opfer ab

Für Emil Fackenheim (geb. 1916 in Halle) hat Gott in Auschwitz ebenso gesprochen wie am Sinai. Er lehnt die Argumentation von Berkovits ab, der irgendwie nach einer Schuld der Opfer sucht. Es geht ihm um die Aufrechterhaltung des Dialogs mit dem göttlichen Du in einer Lage, in der alle anderen Formen des Gesprächs versagen. Hier ist ein vom religionspsychologischen Standpunkt aus enorm wichtiges Element jüdischer Religiosität zu nennen, das dem Christentum weitgehend unbekannt ist, nämlich der Kampf, die Auseinandersetzung mit dem schweigenden und rufenden Gott. Seit Jakob mit dem Engel gekämpft hat, legt Israel auch in diesem Kampf Zeugnis für seinen Glauben ab. In der religiösen Rebellion gegen Gott wendet sich der Jude nicht von seinem Gott ab, sondern sich ihm vielmehr zu. Das ist natürlich keine Bewältigung des Theodizeeproblems mit den Mitteln diskursiven Denkens, aber ein Weg, der dem möglich ist, für den Gott ein personales Gegenüber darstellt.

Rubenstein: Angesicht der Schoa ist Gott tot

Zur äußersten negativen Konsequenz angesichts dieser Problematik gelangt Richard L. Rubenstein (geb. 1924). Angesichts der Schoa ist für ihn Gott tot. Er verwendet den Begriff jedoch im Sinne einer christlichen Tod-Gottes Theologie. Seine Lehre ist daher nicht einfach ein Atheismus, sondern eher die Konstruktion einer säkularisierten jüdischen Religion. Für Rubenstein ist in dieser Verlassenheit des Menschen die religiöse Gemeinde nun erst recht wichtig. Das Eingebettetsein in Sitte und Brauch des jüdischen Volkes vermag dem Leben Richtung und Sinn zu geben. Dazu kommt für ihn die Gefahr, dass wir in einer Welt ohne Gott der Versuchung anarchischer Allmächtigkeit des Menschen ausgeliefert sind. In diesem Sinn ist für ihn der Glaube an einen theistischen Gott nicht nötig, um Jude zu sein. Es stellt sich für ihn sogar die Frage, wie man in einem Zeitalter ohne Gott überhaupt noch von Religion sprechen kann: "I have suggested that Judaism is the way we share the decisive times and crises of life through the traditions of our inherited community". Man kann diese Ausführungen wohl nicht besser beschließen als mit einem Zitat von Schalom Ben-Chorin, mit dem er schlaglichtartig die gegenwärtige Situation des Gottesglaubens charakterisiert: "Im Rauche der Todesfabriken ist nicht nur der Mensch - für viele ist auch Gott dort verbrannt."

 

Artikel bearbeitet von ORF ON

 

>> Hiob in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit

>> Christliche Auferstehungshoffung schon im Alten Testament?

>> Kein Happy end? Hiob fragt: Gott, warum bekämpfst Du mich?

>> Hiobs geheime Schuld als Ursache für sein Leiden

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