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Vielfalt und Einheit im Judentum

Von Martin Stöhr (Biografie)

 

Selbst derjenige, der nur die Schlagzeilen der Tagesmedien verfolgt, wird die enorme Bandbreite zwischen dem säkularen Selbstverständnis des Staates Israel und einzelnen religiös motivierten Gruppen bemerken. Doch auch das religiöse Judentum ist in sich äußerst vielgestaltig und reicht von der Orthodoxie über das konservative Judentum bis hin zu liberalen und reformierten Gemeinden. Der interne Pluralismus des Judentums geht aus der Vielfalt verschiedener Traditionen der Aschkenasen, Sefarden oder Falascha oder auch aus historischen Auseinandersetzungen wie zwischen Pharisäern, Sadduzaern und Essenern hervor.

Im Judentum gibt es Dogmen, aber keine Dogmatik - christlich gesprochen. Man benutzt seit 1927 den Ausdruck "normatives Judentum". Damit soll der "mainstream" gekennzeichnet werden. Dieser "mainstream" war und ist einerseits zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen unterschiedlich. Derselbe Begriff enthält auf der einen Seite die Feststellung, dass Leben und Denken des Judentums unaufgebbare und charakteristische Merkmale seiner Identität hat. In diesem Zusammenhang kann man auch sagen, dass "Häresie" ein legitimer Spross in der Familie des jüdischen Volkes ist, obgleich dessen Legitimität von manchen Familienmitgliedern bestritten wird. Die einzig bekannt gewordene "Exkommunikation", nämlich die des B. Spinoza, wurde von seiner Ortsgemeinde ausgesprochen. Jüdisches Denken ist eben nicht Denken über das Judentum, sondern im Judentum. Elie Wiesel spricht etwa von der Tatsache, dass man Jude sein könne mit Gott oder gegen Gott, aber nie ohne Gott.

Vielfalt jüdischer Stämme

Am Anfang der uns zugänglichen und greifbaren Geschichte des jüdischen Volkes steht nicht die Einheit, sondern die Vielfalt sowohl der Stämme wie auch ihrer unterschiedlichen Herkunft, ja sogar Ausprägungen der Gottesverehrung. Die 3000-Jahrfeier Jerusalems kennzeichnet also eine vielfältige Vorgeschichte, die durch Davids Eroberung dieser Stadt erst zu einer religiösen, kulturellen und staatlichen Einheil wird - allerdings nur für kurze Zeit. Der Zerfall in ein Nord- und Südreich, der Einschnitt des Jahres 586 v. Chr. mit der Katastrophe derT empelzerstörung und der Deportation nach Babylon zerbrechen vor allem das Zusammenwirken der wichtigsten Institutionen des Landes, der Könige, Priester und Propheten: Nach dem Jahr 586 wird aus der monozentrischen Größe Israel eine polyzentrische.

"Schöpferische Unruhe" als Teil der Integrität Israels

In der Zeit davor war der Priesterschaft am Tempel die Bewahrung der religiösen Identität aufgegeben. Die Könige teilten dieses Interesse mit Hinblick auf die Stabilität der politischen Korporation. Die opponierenden Propheten wiederum stellten die Institutionen (Königtum und Tempel, Gottesdienst und Tora) keineswegs in Frage; wohl aber legten sie die Worte der Bundesverpflichtung heilsam und kritisch selbst gegenüber den anderen beiden Institutionen und ihren Vertretern angesichts vielfältiger Verderbnis se aus. Zur Integrität Israels gehört die "schöpferische Unruhe" durch die Propheten einerseits und der pragmatische Realismus von Königen und Priestern andererseits.

Jüdische Zentren

Nach 586 bildete sich ein Israel mit zwei Brennpunkten, das seit dem kontinuierlich im Lande Israel und in der Diaspora lebte. Ansätze dazu gab es auch schon vor der Tempelzerstörung. 722 v. Chr. fiel Samaria, die Ephraimiten wurden von den Assyrern deportiert. Als durch den Erlass des Kyros ab 538 eine Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft möglich war, blieben in Babylon die dort entrichteten Zentren des Judentums weiter bestehen. Hier legt sich früh eine Konkurrenz zwischen babylonischem und palästinensischem Judentum an. Ein weiteres Zentrum entsteht im Zusammenhang mit dieser Deportation in Ägypten in Form einer jüdischen Siedlung in Elephantine (in der Nähe des heutigen Assuan). Die Dokumente aus den Jahren 420 bis 380 berichten dabei von einer sehr lebendigen Siedlung, die sogar über einen eigenen Tempel verfügte. Offensichtlich hat man sich hier mit der Diasporaexistenz überhaupt abgefunden. Jeremias 43 und 44 lassen ein weiteres Zentrum in Unterägypten erkennen. Von diesen Juden wird später der Glaube (oder Aberglaube) überliefert, dass mit der Vertreibung in eine fremde Region die Vertreibung aus dem Herrschaftsbereich des einen biblischen Gottes verbunden sei. Diese Gruppe verliert sich dann in der Geschichte.

Die Samaritaner

Eine der ersten Gruppen, die historisch greifbar wird, taucht schon im Zusammenhang mit der Deportation 722 v. Chr. auf. Erst später, im wesentlichen in der Zeit von Alexander dem Großen, gewinnen sie ihre eigene, sozioreligiöse Gestalt. Ihre Lösung von Jerusalem bedeutet zum einen die Ablehnung des Tempels in Jerusalem und den Bau eines eigenen Tempels auf dem Garizim, zum anderen die Anerkennung nur des Pentateuch als der Tora Gottes. Trotz gemeinsamer Torafrömmigkeit findet hier eine rigide Abgrenzung statt. Der Verzicht der Samaritaner auf die historischen und prophetischen Schriften als heilige Schriften führt dazu, dass sie auch den ursprünglichen Monotheismus der 10 Stämme zu vertreten beanspruchen. Sie kennen keinen Polyzentrismus, keine Inspiration durch Propheten. Die Erinnerung an die Mosezeit ist ihnen wichtig, aber keine messianische Hoffnung auf die Zukunft. Ihr Verzicht auf Prophetie und Geschichte im umfassenden Sinn führt zu einer sehr "ritualistischen" Religion. Etwa um das Jahr 300 ist das Schisma vollendet. Heute leben noch wenige samaritanische Gemeinden in Galiläa und auf dem Karmel. Das Neue Testament (Mt 22,35-40) verdeutlicht in der Geschichte vom barmherzigen Samariter die Kluft zwischen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft und den Samaritern sowie die auch im Judentum praktizierte Mahnung mit dem Hinweis auf die Gerechtigkeit der "anderen".

Die frühen Chassidim

In Maleachi 3,11-21 wird von zwei jüdischen Parteien berichtet: Die eine fürchtet Gott und dient ihm, die andere tut es nicht. Diese Erwähnung lässt für die frühe Makkabäerzeit den Schluss zu, dass hieraus die Gruppen entstanden sind, die unter den Namen Anavin (Demütige), Zaddikim (Gerechte) oder Chassidim (Fromme) bekannt wurden, nicht fest organisiert und vor allem unter den Armen zu finden waren. Angesichts fremdreligiöser Bedrohung des Tempels in Jerusalem und dort zu beobachtender kultischer Unreinheit und der Kollaboration mit den Syrern scheint es eine anfängliche Beteiligung der Chassidim am Makkabäeraufstand gegeben zu haben. Diese Verbindung löst sich jedoch, als schließlich die hasmonäische Machtpolitik kritisiert werden musste und eine bloß eschatologische Erneuerungshoffnung vertreten werden konnte. In der Bewegung der Chassidim liegt eine Quelle der Qumrangemeinde wie der pharisäischen Bewegung.

Qumran-Essener

Über diese Gruppe gibt es seit den Funden (ab 1947) eine einzigartige Dokumentation. Dem gemäß handelt es sich um eine jüdische Gruppe, die soziologisch und religiös besser nicht als Sekte beschrieben werden sollte. Es ist die "Gemeinde des Neuen Bundes", die über die letzten zwei Jahrhunderte vor der Zeitenwende eine Fülle von Dokumenten und Informationen liefert. Die meisten dieser Texte sind inzwischen zugänglich geworden. Romanhafte Phantasien über "vatikanische" Ängste, die ihre Veröffentlichung fürchteten und verhindern wollten, oder "Beweise" für eine Abhängigkeit Jesu von dieser Gruppe sind inzwischen glücklicherweise aus der seriösen Diskussion verschwunden. Damit ist nicht gesagt, dass es in dieser Gemeinde nicht auf grund der gemeinsamen biblischen Überlieferungen wichtige Parallelen gäbe. Vor allem die Manuskripte (aus ca. 10 Höhlen, 15 km südlich von Jericho) haben einzigartige Bibliotheksbestände von biblischen Texten, Bibelkommentaren und Gemeindeordnungen überliefert. Etwa 300 Jahre lang existierte diese Gruppe. Sie wurde wahrscheinlich im Jahre 70 mit der Zerstörung Jerusalems ausgelöscht. Von keiner Gruppe ist soviel Material überliefert wie von dieser innovativen jüdischen Gemeinschaft.

Ist die Qumrangemeinde gleichzusetzen mit den "Essenern"?

Die Diskussion, ob es sich bei der Qumrangemeinde um dieselbe Gruppe wie die bisher "Essener" genannte handelt, ist offen. Differenzen im Kalender könnten es nahe legen, hier zu unterscheiden. Die Gemeinde des Neuen Bundes wäre als "millenaristisch-messianisch" zu charakterisieren: Die Ankunft des messianischen Reiches steht unmittelbar bevor. Es gibt noch eine befristete Zeit der Buße. Man trennt sich von der unreinen jüdischen Mehrheitsgesellschaft, geht in die Wüste, um für die Erlösung vorbereitet zu sein. Mit dem Erwählungsbewußtsein und der vergehenden Zeit verbinden sich Regelungen für "Gottes Auserwählte". Eine duale Einteilung der Menschen in "Söhne des Lichtes" und "Söhne der Finsternis" (so im Sektenkanon 1,4) ist eine prägende Grundhaltung.

Die Pharisäer

Das Wort bedeutet peruschim, die Abgesonderten. In Phil 3,5 werden sie zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Vor dem Jahre 70 n. Chr. sind von ihnen keine eigenen Texte überliefert. Sicher handelt es sich bei der Namensgebung um eine Fremdbezeichnung, die ihre Ausprägung durch die Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Qumran und dem entstehenden Christentum erfährt. Obwohl die Apostelgeschichte eine antipharisäische Tendenz hat, wird deutlich auf die positive Pharisäergestalt des Gamaliel (Apg 5) hingewiesen. Diese positive Kennzeichnung im Neuen Testament ist genauso wichtig wie die im christlichen Allgemeinbewusstsein viel besser bekannte scharfe Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern. Mt 23, 1 wird aber davon gesprochen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten heute auf dem Stuhl des Mose sitzen. "Alles was sie euch sagen, das tut!" Jesu Kritik bezieht sich prophetisch nur auf die Diskrepanz zwischen Wort und Tat der Pharisäer und Schriftgelehrten. Es ist daran zu erinnern, dass die große Übereinstimmung zwischen Jesus und den Pharisäern auch in dem Bezug auf das Doppelgebot der Liebe und das Sch'ma Israel besteht (Mk 12, 28-34).

Sieben Arten von Pharisäern

Josephus (Altertümer 17, 42) spricht zunächst davon, dass es höchstens 6000 Pharisäer gibt. Ihr Einfluss ist jedoch wesentlich größer als die geringe Zahl. Josephus wird später zusehends kritischer über sie berichten - je stärker er eine romtreue Haltung einnimmt. Die Kritik an den Pharisäern ist im übrigen kein Spezifikum des Neuen Testamentes. Die rabbinische Literatur unterscheidet 7 verschiedene Arten der Pharisäer (von Heuchlern bis zum Vorbild). Was in der Hasmonäer- und Römerzeit eine Außenposition einnahm, das leitete in den Schriften der Rabbiner die Erneuerung des nachbiblischen Judentums ein. Das rabbinische Judentum, dessen Dokumente vor allem in Talmud und Midrasch vorliegen, hat in den beiden Sammelwerken des Jerusalemer und des Babylonischen Talmuds über 1000 Stimmen (oft mit Namensnennung) gesammelt.

Verbindlichkeit der Lehre ist durch keine Zentralautorität gegeben

Keine zentrale Autorität (wie etwa in bestimmten Kirchenentwicklungen) legt die Verbindlichkeit der Lehre fest. Eine Verbindlichkeit entsteht im Handeln! Die Autorität ist dann persönlicher und sachlicher Art. Nennt man die Heilige Schrift "schriftliche" Offenbarung, so ist die rabbinische Literatur als "mündliche" Offenbarung zu bezeichnen. Beide sind für die Identität und das Selbstverständnis des Judentums von entscheidendem Gewicht - in ihrer Vielfalt wie in ihrer Qualität als Quellen. In der Schriftauslegung der Pharisäer werden nicht nur mehrere Deutungen, z.B. des gleichen Bibeltextes, überliefert. Es gehört zur ihrer grundlegenden Hermeneutik, dass auch verschiedene Deutungen legitim sind. Die pharisäische Skepsis gegenüber einer drängen den Naherwartung bildet sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Qumrangemeinde und mit der christlichen Gemeinde heraus. In dieser Skepsis ist auch jene Toleranz begründet,[ von der Gamaliel (Apg 5, 38 ff,) spricht. Sie kann die Entscheidungsfrage nach der Wahrheit wie nach der Gefährlichkeit einer neuen, einer messianischen Interpretation der biblischen; Hoffnung Gott und der messianischen Praxis überlassen.

Die Zeloten (= Eiferer)

Die Zeloten sind radikale Freiheitskämpfer. Sie haben ihre Blütezeit in den Jahren 66-73, im Aufstand gegen Rom, Ihr Ziel ist, neben der Beseitigung der römischen Unterdrückung und religiösen Fremdbestimmung, eine Art Gottesstaat, in der Gott allein der Herrschen ist. Josephus wirft ihnen die Verantwortung für den Untergang des Volkes vor, Er nennt sie auch Räuber. Dieser Sprachgebrauch könnte sich auch im neutestamentlichen Bericht über die Kreuzigung Jesu zwischen zwei "Räubern" finden.

Die Sadduzäer

Ihr Name geht wahrscheinlich auf den Hohepriester Zadok in der Davidszeit zurück (2 Sam 15,24 ff.). Gemeint ist der Jerusalemer Priester- und Laienadel. Ihre Frühgeschichte ist schwer zu erforschen. Klar ist, dass sie später kritisch angesehen werden. Historisch werden sie im 2. Jahrhundert v. Chr. fassbar, am Ende der Hasmonäer/Makkabäerherrschaft und vor allem unter der römischen Herrschaft (ab 64 v. Chr.). In der römischen Zeit stellen sie meist den Hohepriester, der dem Synhedrion vorsteht. Was J. Maier "liberales Großbürgertum" nennt, fungiert als politischer Versuch, religiöse und politische Macht im Tempel und in Jerusalem durch eine Bindung an Rom zu sichern, damit zugleich aber auch eine kollaborative Überlebensstrategie des jüdischen Volkes zu versuchen. Auch ein gewisses Erbe der früheren jüdisch-hellenistischen Synthese kennzeichnet sie. Manchmal wird heute die Vermutung ausgesprochen, dass sie Vorfahren der Karäer seien. Theologisch betonen sie die Pentateuch-Tora, sie denken antiprophetisch. In ihrer Leugnung der Auferstehungshoffnung beabsichtigen sie eine Kritik an der Macht und zusätzlich einen Hinweis darauf, dass ohnehin alles ganz neu und anders werden wird.

Hellenismus

Zum Verständnis des Judentums gehört unbedingt ein Hinweis auf die doppelte Wirkung des Hellenismus auf das jüdische Leben und Denken. Dieser Einfluss ist auch und gerade in der Abwehr des Hellenismus zu finden. Beide Probleme können an der Gestalt des großen Philo (40 v. bis 20 n. Chr.) deutlich werden. Unter den 7 Millionen Einwohnern des damaligen Ägyptens sind etwa 1 Million Juden. Alexandria, die Metropole Ägyptens, beherbergt davon 200.000. Man spricht in der jüdischen Diaspora griechisch. Die hellenistische Kultur ist wie für die übrige Umgebung auch für sie die prägende Kultur. Wallfahrten nach Jerusalem und die Tempelsteuer für Jerusalem gehören zu den Selbstverständlichkeiten. Es wird für sie nötig, die Bibel (Septuaginta) ins Griechische zu übersetzen. Durch diese griechische Übertragung wurde sie schon damals zum Weltbuch. Philo las die Bibel in griechischer Übersetzung. Wichtige Gedanken bestehen u.a. darin, dass Mose und Plato - also die biblische und hellenistische Tradition - harmonisiert werden. Plato lernt von Mose. Dieser Gedanke taucht später in der christlichen Tradition als Gleichordnung von Plato und Mose in der "praeparatio messianica" wieder au£ Es gibt aber früh antijüdische Ausschreitungen in Ägypten. Philo selbst nahm an einer Protestdelegation zu Kaiser Caligula teil. Ist in der jüdischen Diaspora beides zu finden, Adaption hellenistischer Kultur und Bewahrung des Judentums gegen deren letzte Ansprüche, so ist die Situation in Erez Israel anders. Die jüdische Gemeinde im Lande kämpft z.B. gegen die Zumutung, Gymnasien oder Olympische Spiele einzurichten. Man will nicht, dass Jerusalem in eine griechische Polis mit entsprechendem Polytheismus umgewandelt wird.

Nachbiblische Zeit - Die Karäer

Hebräisch nennen sie sich B'ne Mikra = Kinder der Schrift = Bibelleser. Als Quelle göttlicher Offenbarung und Orientierung gilt ihnen nur die Bibel. Talmud und rabbinische Literatur werden radikal abgelehnt. Ihre Entstehung liegt in Vorderasien im 8. Jahrhundert. Dort versucht z.B. Anan Ben David in Persien viele "Sekten" zusammenzufassen. Er charakterisiert die Aufgabe so: "Forschet tüchtig in der Tora und verlasst euch nicht auf meine eigene Meinung." Die Schrift wird zur einzigen Richtschnur. Die Verbindlichkeit äußert sich in strengem und asketischem Lebensstil, der bald zu eigenen Gemeindebildungen führt. Das griechische Wort logos wird als das entscheidende Wort aus Philos Gotteslehre in die Exegese eingeführt. Es gibt eine Reihe von arabisch schreibenden Gelehrten dieser karäischen Tradition. Große Schriftsteller und Gelehrte finden sich in Ägypten. Der Gelehrte "Fürst" Saadja Gaon (gest. 942) wird zu einem Gegenspieler und Gesprächspartner der Karäer zugleich. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) werden an vielen Orten der Diaspora auch die Karäer vertrieben. Es kommt zu einem intensiven Kontakt mit rabbinischen Gelehrten im türkischen Herrschaftsbereich. Nördlich der Krim und nicht zuletzt in Litauen siedeln sich karäische Gemeinden an. Sie zeichnen sich durch eine rigorose Ehegesetzgebung aus. Ehelosigkeit wird gerühmt und das Verbot der Schwagerehe gilt, Vorschriften also, die eine Vermehrung einschränken. 1940 zählt man in Russland noch etwa 20.000 Karäer. Heute gibt es auf der Krim noch eine Gemeinde mit etwa 300 Leuten und kleine, versprengte Gemeindereste in Litauen. Die im Irak und Ägypten lebenden Karäer sind nach Israel geflüchtet, wo sie als eigene Gemeinden überleben.

Die Falaschen (= äthiopische Einwanderer)

Der Beginn ihrer Geschichte liegt in frühen Exilierungen; manche führen die Anfänge bis König Salomon zurück. Ihre Hebräischkenntnisse gehen in Äthiopien verloren; ihre Literatur ist in Äthiopisch abgefasst. Von den christlichen Nachbarn sind sie stark geprägt, ihre Glaubens- und Lebensformen oft mit christlichen Überlieferungen (besser, mit gemeinsamem biblischem Erbe) gemischt. Aber sie haben sich eine jüdische Eigenartbewahrt. Im Mittelalter hatten sie jahrhundertelang ein eigenes Reich, heute sind sie nach Israel zurückgekehrt, wo ihre Eingliederung ziemlich schwierig ist. Das liegt nicht nur an der dunklen Hautfarbe, sondern auch an einem eigenständig entwickelten jüdischen Selbstverständnis, das von dem "mainstream" in Israel abweicht.

Sephardim

Spanien wie Portugal hießen im mittelalterlichen Hebräisch Sepharad. Es ist bis 1492 eine lebendige jüdische Gemeinschaft, die sowohl in einem blühenden wissenschaftlichen und kulturellen Austausch mit der christlichen wie mit der arabischen Bevölkerung lebt. Der Name ging auf die in den arabischen Ländern lebenden jüdischen Gemeinden über, hat sich in Europa aber auch mit den sephardischen Flüchtlingsgemeinden um die portugiesischen Synagogen z.B. in Amsterdam oder in Hamburg verbunden.

Aschkenasim

Der Name geht auf ein in der Völkertafel 1 Mose 10,3 erwähntes Volk zurück. Einer der drei Söhne Gomers, ein Urenkel von Noah, heißt so. Seit dem europäischen Mittelalter wird diese Bezeichnung zur Benennung des überwiegend deutschsprachigen Judentums in Mittel- und Osteuropa. Die Aschkenasim machten bis zur Schoah etwa 90 Prozent des jüdischen Volkes aus. Sephardim und Aschkenasim haben in Israel heute je einen Oberrabbiner. Beide Gruppen haben ihre eigenen Auslegungs- und Gottesdiensttraditionen.

Mystische Strömungen

Die Mystik im Judentum trägt keine apokalyptischen Züge, aber sie zieht sich auch nicht aus der Welt zurück. Tikkun Olam (=Verbesserung der Welt) gehört zu ihren Grundgedanken. Das Tun der Menschen bereitet die Erlösung der Welt vor. Der Messias ist dann "gleichsam die Unterschrift unter ein Dokument, an dem wir alle mitschreiben" (R. Geis). Die aschkenasische Mystik ist ebenso wie die christliche Mystik sehr stark von einem Gedanken der Imitatio Dei bestimmt. Wie von Gott (bei Jesaja) kann es von der Mystik heißen: "Ich verstumme seit je, schweige und halte an mich". Diese mystischen Strömungen (z.B. im "Sefer Chassidim") sind in einer Zeit mit der Bewahrung der Menschenwürde befasst, in der diese in den jüdischen Gemeinden durch die christlichen Kreuzzüge, durch die Vorwürfe der Brunnenvergiftung und des Ritualmordes aufs Höchste gefährdet wird.

Vorstellung von verstoßenen Seelen

Die Kabbala kommt nach der Vertreibung des sephardischen Judentums zu einer neuen Blüte (Kabbala = Überlieferung). Etwa seit dem 13. Jahrhundert findet sich die Vorstellung, dass die menschlichen Seelen im Exil leben; nackte, verstoßene Seelen, denen man nicht einmal die Hölle gönnt. Dieser Gedanke spiegelt Gefährdung und Heimatlosigkeit. Die Frommen in Safed bilden stark ausstrahlende Schulen. Joseph dela Reyna vertritt den Gedanken, dass etwa durch fromme Bräuche und Askese die Erlösung zu erzwingen sei. Isaak Lurja ( 1534-1572) hat den in der Neuzeit durch Hans Jonas aufgenommenen Gedanken des Zim-Zum geprägt, einen Gedanken, der für das Gottesverständnis nach Auschwitz neu wichtig geworden ist. Lurja versteht unter Gottes erstem Schritt, sich zu offenbaren, auch den Schritt, sich selbst zugleich zurückzunehmen. Dies wird zur Bedingung der menschlichen Freiheit. Eine ontologisch gedachte göttliche Allmacht darf nicht zur Ausrede für menschliche Tatenlosigkeit werden. Das Prinzip einer ungebrochenen Allmacht Gottes könnte ja zur Notwendigkeit führen, den Menschen als ohnmächtig anzusehen.

Der Chassidismus

Dieser Name meint in der Neuzeit eine Erneuerungs- und Erweckungsbewegung in den jüdischen Gemeinden Südrusslands, Weißrusslands und der Ukraine. Heute leben noch winzige Reste der Chassidim in Israel und in New York. Zwei Namen stehen für die Vielzahl der Weisen und Frommen, für die Vielzahl ihrer Höfe und Zentren: Rabbi Baal Schem Tov und sein Enkel Rabbi Nachman von Bratzlav. In der chassidischen Bewegung verkörpert sich der Protest sowohl gegen die Orthodoxie und ihre Verliebtheit in die reinen Lehren wie auch gegen die jüdische Aufklärung, die Haskala. Ihre Zentren sind Treff punkte der Gemeinschaftsbildung und Lebensberatung, der Rechtsfindung und der persönlichen Frömmigkeit, die sich in einer unwahrscheinlich lebendigen, den Menschen ganzheitlich d.h. mit allen seinen Sinnen - umfassenden Form ausprägt. Martin Buber nennt den Chassidismus "Ethos gewordene Kabbala".

Die Haskala

Parallel zur mittel- und westeuropäischen Aufklärung in den jüdischen Gemeinden, parallel zu christlichen und jüdischen Erneuerungsbewegungen des Chassidismus und des Pietismus entsteht eine Aufklärung mit religiösen Wurzeln. Sie hat ihre Zentren in Litauen und in Nordwestrussland. Sie steht dem Chassidismus wie einer als erstarrt zu sehenden Tradition mit äußerster Skepsis gegenüber. Vernunftwahrheiten und Offenbarungswahrheiten sind an sich keine Gegensätze, bedürfen aber beide einer Neuinterpretation.

Neuzeit

Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing begründen die Position einer Aufklärung und Emanzipation, die sich religiös versteht, religiös kritisch ist, aber keineswegs - wie später einzelne Entwicklungsstränge der Aufklärung - antireligiös wird. Dieses Konzept richtete sich bei Christen wie bei Juden gegen eine starre Orthodoxie, die die Praxis vernachlässigt oder aber in Ritualen verfestigt. Protestantisch-bibeltreu der eine, jüdisch-toratreu der andere, verzichten beide Autoren nicht auf eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Tradition, nur um sie in die Zukunft weitergeben zu können. Heinrich Heine nennt beide "Wonne" und "Hoffnung". Hier blitzt in Mitteleuropa eine mögliche Geschichte auf, die für viele Juden, gerade Osteuropas, Hoffnung auf Gleichberechtigung wachsen lässt. Schiller wird oft "Rebb Schiller" genannt. Seine Widmung des Theaterstücks "Die Räuber": "In Tyrannos!" scheint - wie die kantische Philosophie - Aufklärung und Ethos fördern zu wollen. Wir alle wissen, dass sich im deutschsprachigen Bereich diese Linie nicht durchgesetzt hat. In Frankreich verdankte sich ihr Erfolg (auch für die linke Rheinseite!) der Französischen Revolution, in England und in den Niederlanden einen breitem christlichen Humanismus.

Neoorthodoxie

Samson Raphael Hirsch lobt zum 100, Geburtstag Schiller als "die Dämmerung jener Morgenröte, wo die Menschen einst alle aufstehen werden und: die Binde vollends von ihren Augen fallen wird". Das paulinische Bild der "Binde", das den vorgeblich "klarsichtigen" Christen immer das Zeichen für die jüdische Blindheit ist, wird hier zurecht, weil prophetisch, als Symbol einer nichterleuchteten Menschheit verwandt. Hirsch ( 1808-1888) versteht seinen Entwurf (niedergelegt in den "19 Briefen über das Judentum") nicht als Position gegen Aufklärung und Emanzipation, sondern als eine neue Vergewisserung der Tradition für die Gegenwart. Sein Enkel, Isaak Breuer (1883 in Budapest geboren, 1946 in Jerusalem gestorben) gründete die Agudath Israel (in Frankfurt am Main). Hieraus erwuchs im Laufe der Zeit der Weltverband für Orthodoxes Judentum. In Erinnerung an die Arbeit von Jehuda Halevi (12. Jahrhundert) schrieb er einen neuen "Kusari". Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung ist Joseph Carlebach,1942 in Riga ermordet. Er strebt eine weltoffene, in der westlichen Welt verankerte Demokratie an. In Israel ist Abraham Isaak Kook (geb.1865 in Litauen, gest. 1935 in Jerusalem) als wichtiger Rabbiner zu nennen. Er ist ein Vertreter der strengen Orthodoxie, deren Bedeutung er in die sich rasch wandelnde Situation zu übersetzen versucht. Er wird der erste aschkenasische Oberrabbiner in Palästina. Sein Motto war: "Das Alte erneuern und das Neue heiligen." Als eine große halachische Autorität gilt der 1903 in Polen geborene Joseph Soloveitschik. Seine Gründung einer Yeshiva in New York zeigt nicht nur sein großes Wissen, sondern auch sein pädagogisches und "volksmissionarisches" Talent.

Das liberale Judentum

Dieses sammelt sich heute in der "World Union for Progressiv Judaism". Einer der bedeutendsten Präsidenten war Leo Baeck, der letzte Rabbiner von Berlin, der mit dem Rest seiner Gemeinde nach Theresienstadt ging. Das liberale Judentum wächst aus den Reformgemeinden in Deutschland heraus. Prägende Lehrstätten sind heute das Leo Baeck College in London, an dem die Rabbiner Magonet und Friedländer lehren, mitbegründet von dem in Wien 1897 geborenen Ignaz Maybaum (gest.1976 in London). Ein weiteres Zentrum ist in Cincinnati zu finden. Die Wurzeln des liberalen Judentums liegen im 19. Jahrhundert: in der liberalen Hochschule für Wissenschaft vom Judentum in Berlin und in der entsprechenden orthodoxen Ausbildungsstätte von Breslau. Eine neue Jüdische Hochschule dieser Richtung in Heidelberg verdankt sich der Initiative von Pnina Navé-Levinson und Peter Levinson.

Konservatives Judentum

Das konservative Judentum hat seine eigene Entwicklung. Aus der Orthodoxie erwachsend, öffnet es sich jetzt stärker zur Gegenwart hin und wird am eindrucksvollsten durch Abraham Josua Heschel (1907 in Warschau geb., 1972 in New York gest.) verkörpert. Die prophetische wie die chassidische Tradition wachsen in ihm, dem "amerikanischen Buber", zu einer eindrucksvollen Weltverantwortung zusammen.

Reconstructionists

Ihr großer Vertreter ist Mordechi Kaplan (geb. 1881 in Litauen, gest. 1983 in New York). Es handelt sich bei ihnen um eine Abspaltung einer konservativen Richtung mit deutlicher Bejahung einer Diasporasituation. Kaplans Buch "Judaism as Zivilisation" ist für die Diaspora geschrieben. Durch die Bildung jüdischer Zentren soll eine jüdische Existenz in der Diaspora ermöglicht werden. Er betont nicht die Erwählung Israels, sondern sein "Nahebringen zum Dienst Gottes in der Welt". Die jüdischen Zentren enthalten Synagogen, Lehrhaus, Sportplätze, Festräume, kurz, sie sind ein Sammelpunkt der jüdischen Gemeinde in der Diaspora. Von Kaplan stammt das Wort "Die Autoritäten der Vergangenheit haben ein Mitspracherecht, aber kein Vetorecht". Seine Theologie ist evolutionär, sie versucht ernst zu nehmen, dass die biblische Tradition ein lebendiger Fluss aus der Vergangenheit in die Gegenwart ist, an der jede Generation schöpferisch mitzuarbeiten hat.

Fundamentalismus

Ein viel zu knapper Blick gilt hier dem Fundamentalismus. Ihn gibt es in allen Religionen, politischen Konzepten und wirtschaftlichen Theorien. Insofern ist der jüdische Fundamentalismus eine Parallele zu anderen Fundamentalismen. Diese lassen sich kennzeichnen a) durch Exklusivität und Reinheit, die die eigene Gemeinschaft beansprucht; b) durch Gewaltbereitschaft, ethische und religiöse Ziele durchzusetzen; c) durch ein Wörtlichnehmen bestimmter (keineswegs aller!) schriftlicher Traditionen. Im Judentum sind hier auf der einen Seite die nationalistisch-religiösen Siedlergruppen in Gusch Emunim (Block der Getreuen) zu nennen. Sie benutzen die Bibel wie einen Steinbruch für ihre Argumente, mit denen sich ein Großisrael rechtfertigen lassen soll. Eine andere fundamentalistische Gruppe, die den Staat Israel ablehnt, ist z.T. in Mea Shearim in Jerusalem zu Hause. Sie billigen nur dem Messias das Recht zu, einen Staat Israel und den Tempel wieder zu errichten. Allen fundamentalistischen Gruppen ist gemeinsam, dass sie ein Feindbild von der gegnerischen Front zur Stabilisierung der eigenen Position brauchen.

Sieben Thesen zum Judentum als Way of Life – 1. Das Vergangene als Wegweiser für die Zukunft

Vergegenwärtigung setzt das Alte nicht außer Kraft, sondern setzt es in der Gegenwart für eine neue Zukunft in Kraft. Die biblischen Beispiele sind in der Bergpredigt am anschaulichsten überliefert. Dort erinnert Jesus an das, was zu den Alten gesagt worden sei. Es bleibt natürlich gültig und bedeutet zugespitzt und radikalisiert für das Heute z.B. die Ablehnung des Schwurs, der Gewaltanwendung usw. Hier handelt es sich also nicht um Antithesen, sondern um zugespitzte Thesen, die ihre Gültigkeit gerade aus der Gültigkeit der Tora ableiten.

2. Wirklichkeit als Bewährungsprobe des Glaubens

"Gott spricht uns nicht an, damit wir uns mit Gott befassen, sondern mit seiner Welt und seiner Geschichte." (Martin Buber) Die Wirklichkeit ist das Feld der Verwirklichung und der Bewährung des Glaubens. Es gibt keine religiösen Fragen, es gibt nur weltliche Fragen, die alle Menschen bewegen: Wie gehe ich um mit Lebensanfang und Lebensende, mit Erziehung und Lebensbewältigung, mit Leid und Schuld, mit Armut und Reichtum, mit Unrecht und Gewalt, mit Familie und Gesellschaft, mit Eigentum und Ohnmacht.

3. Gott ist unfassbar

Gott ist als ein unfassbarer Gott zu begreifen und zu fassen. Er ist als Allmächtiger ein leidender Gott, als ferner Gott ein naher Gott (Jes 57,15). Was lebensnotwendig ist, ist von Gott zu wissen und zu verstehen. Darauf berufen sich die Rabbinen, wenn sie das Wort Dtn 29,28 zitieren: "Die Geheimnisse sind des Herrn, unseres Gottes, das Offenbare aber ist unser und unserer Kinder."

4. Institutionen haben eine dienende Funktion

Institutionen und Macht haben dienende und keine herrschende Funktion. Die Wahrheit ist keine Tochter der Autorität, sondern die Autorität ist eine Tochter der Wahrheit. Der Jude Jesus formuliert in der jüdischen Tradition: "Der Sabbat ist für die Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat." Diesen Gedanken hat in eine nichtreligiöse Sprache Albert Einstein 1932 auf einer Abrüstungskonferenz in Genf aufgenommen, als er daran erinnerte, dass sowohl Staat, Wirtschaft und Wissenschaft für den Menschen da seien, nicht aber die Menschen für diese Institutionen.

5. Vorherrschende Selbstkritik im Judentum

Das Prophetische ist immanente Selbstkritik im Judentum. Es wirkt in jede Richtung der Selbstgefährdung und der Außengefährdung. Hier hat die toratreue Tradition ihr Recht gegen die liberale Tradition wie die liberale Tradition ihr Recht hat gegenüber der orthodoxen Tradition. Auf christlicher Seite ist zu lernen, dass aus der prophetischen Selbstkritik Israels kein Argument geschlagen werden darf, das von außen gegen Israel gewandt wird. In einer Geschichte Israels aus dem Jahre 1941, getränkt vom Nazigeist, werden die Propheten erwähnt, um die Nazikritik an Israel zu belegen: "Schon Hosea und Amos kritisieren die Juden!" Die kritische Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern, der Streit zwischen Petrus und Paulus, zweier Christen, die aus der jüdischen Gemeinde stammen und die zwei unterschiedliche jüdische Positionen in die christliche Gemeinde hineintragen - eine toratreuere und torafreiere Auslegung im Blick auf die zur christlichen Gemeinde hinzustoßenden Nichtjuden - macht deutlich, dass es sich hier immer um Gruppenpolemik handelt. Nehme ich z.B. die Polemik Jesu gegen die Pharisäer als die Polemik eines Christen gegen die Juden, habe ich Jesus wie das ganze Neue Testament missverstanden. Hier polemisiert ein Jude gegen andere Juden. Prophetische Israelkritik wird, wenn wir als Christen die gesamte Bibel ernstnehmen, Kirchenkritik.

6. Gott vollendet die offene Geschichte

Die im messianischen Hoffen und Handeln offengehaltene Geschichte hat eine Zukunft, die Gott vollenden wird. Eine messianische Haltung bewahrt mit ihrer "Skepsis" davor, eine existierende Wirklichkeit mit dem Reich Gottes zu verwechseln. Manes Sperber erinnert sich, dass er von frühester Kindheit an gelernt habe, die hebräische Bibel zu lesen. Er beginnt mit den Propheten Jesaja. Dort lernt er, dass die Erwartung des Messias nicht ein untätiges Hinnehmen von Unrecht und Gewalt in der Welt bedeuten könne. Warten ist aktiv. Die messianische Hoffnung wird in Krisen gestärkt. Nicht christologische Lehrsätze, sondern Christusnachfolge, nicht eine behauptete, sondern die gelebte Gerechtigkeit entscheiden über die messianische Frage. Und diese Entscheidung hat Gott sich vorbehalten (Mt 25). Bis dahin wachsen Unkraut und Weizen gemeinsam. "Der Jude hält die Christusfrage offen." (Dietrich Bonhoeffer)

7. Jüdische Lehren manifestieren sich in konkretem Handeln

Die Verbindlichkeit des jüdischen Lehrens, Lebens und Denkens zeigt sich im Tun, nicht in einer dogmatisch geschlossenen Theologie. Die Vielfalt der Verwirklichungen hat Vorrang vor dem einheitlichen System. Hier sind einige biblische Beobachtungen festzuhalten. Die Tradition des lebendigen Judentums läuft über die Generationenverträge. Wenn dich dein Sohn fragt, "was die sieben Steine im Jordan bedeuten", "was am Sederabend anders ist als an anderen Abenden", so sind die Älteren auskunftspflichtig. Die religiöse Erziehung ist in erster Linie Sache der Familie, nicht delegierbar an Schulen, die eine wichtige, aber hier nur helfende Rolle spielen können. Die Geschichte der Offenbarung wird in lebendigen Geschichten weitergegeben. Die in der christlichen Tradition analoge Methode des konziliaren Vorgehens ist über Jahrhunderte verschüttet gewesen, ebenso wie die mittelalterlich-mönchische und akademische Tradition des "Sic et Non" Sagens. Hiernach konnte man eine Position erst widerlegen, wenn der zu Widerlegende einer Interpretation der anderen Position zugestimmt hatte. Abraham Josua Heschel beschreibt Dogmen als "Bernsteine, in die Bienen, die einmal lebendig waren, eingeschlossen sind". Er fährt fort: "Ob Dogmen angemessen sind, hängt davon ab, ob sie verbindliche Formen sein wollen oder lediglich Hinweise Im ersten Fall täuschen und versagen sie, im zweiten sind sie Hinweis und Erleuchtung."

 

Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

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>> Die Samaritaner

>> Die frühen Chassidim

>> Qumran-Essener

>> Ist die Qumrangemeinde gleichzusetzen mit den "Essenern"?

>> Die Pharisäer

>> Sieben Arten von Pharisäern

>> Verbindlichkeit der Lehre ist durch keine Zentralautorität gegeben

>> Die Zeloten (= Eiferer)

>> Die Sadduzäer

>> Hellenismus

>> Nachbiblische Zeit - Die Karäer

>> Die Falaschen (= äthiopische Einwanderer)

>> Sephardim

>> Aschkenasim

>> Mystische Strömungen

>> Vorstellung von verstoßenen Seelen

>> Der Chassidismus

>> Die Haskala

>> Neuzeit

>> Neoorthodoxie

>> Das liberale Judentum

>> Konservatives Judentum

>> Reconstructionists

>> Fundamentalismus

>> Sieben Thesen zum Judentum als Way of Life – 1. Das Vergangene als Wegweiser für die Zukunft

>> 2. Wirklichkeit als Bewährungsprobe des Glaubens

>> 3. Gott ist unfassbar

>> 4. Institutionen haben eine dienende Funktion

>> 5. Vorherrschende Selbstkritik im Judentum

>> 6. Gott vollendet die offene Geschichte

>> 7. Jüdische Lehren manifestieren sich in konkretem Handeln

 
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