Vielfalt und Einheit im Judentum
Selbst derjenige, der nur die Schlagzeilen der Tagesmedien
verfolgt, wird die enorme Bandbreite zwischen dem säkularen
Selbstverständnis des Staates Israel und einzelnen religiös
motivierten Gruppen bemerken. Doch auch das religiöse Judentum ist
in sich äußerst vielgestaltig und reicht von der Orthodoxie über
das konservative Judentum bis hin zu liberalen und reformierten
Gemeinden. Der interne Pluralismus des Judentums geht aus der
Vielfalt verschiedener Traditionen der Aschkenasen, Sefarden oder
Falascha oder auch aus historischen Auseinandersetzungen wie
zwischen Pharisäern, Sadduzaern und Essenern hervor.
Im Judentum gibt es Dogmen, aber keine Dogmatik - christlich
gesprochen. Man benutzt seit 1927 den Ausdruck "normatives
Judentum". Damit soll der "mainstream" gekennzeichnet
werden. Dieser "mainstream" war und ist einerseits zu
verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen unterschiedlich.
Derselbe Begriff enthält auf der einen Seite die Feststellung, dass
Leben und Denken des Judentums unaufgebbare und charakteristische
Merkmale seiner Identität hat. In diesem Zusammenhang kann man auch
sagen, dass "Häresie" ein legitimer Spross in der Familie
des jüdischen Volkes ist, obgleich dessen Legitimität von manchen
Familienmitgliedern bestritten wird. Die einzig bekannt gewordene
"Exkommunikation", nämlich die des B. Spinoza, wurde von
seiner Ortsgemeinde ausgesprochen. Jüdisches Denken ist eben nicht
Denken über das Judentum, sondern im Judentum. Elie Wiesel spricht
etwa von der Tatsache, dass man Jude sein könne mit Gott oder gegen
Gott, aber nie ohne Gott.
Vielfalt jüdischer Stämme
Am Anfang der uns zugänglichen und greifbaren Geschichte des
jüdischen Volkes steht nicht die Einheit, sondern die Vielfalt
sowohl der Stämme wie auch ihrer unterschiedlichen Herkunft, ja
sogar Ausprägungen der Gottesverehrung. Die 3000-Jahrfeier
Jerusalems kennzeichnet also eine vielfältige Vorgeschichte, die
durch Davids Eroberung dieser Stadt erst zu einer religiösen,
kulturellen und staatlichen Einheil wird - allerdings nur für kurze
Zeit. Der Zerfall in ein Nord- und Südreich, der Einschnitt des
Jahres 586 v. Chr. mit der Katastrophe derT empelzerstörung und der
Deportation nach Babylon zerbrechen vor allem das Zusammenwirken der
wichtigsten Institutionen des Landes, der Könige, Priester und
Propheten: Nach dem Jahr 586 wird aus der monozentrischen Größe
Israel eine polyzentrische.
"Schöpferische Unruhe" als Teil der
Integrität Israels
In der Zeit davor war der Priesterschaft am Tempel die Bewahrung
der religiösen Identität aufgegeben. Die Könige teilten dieses
Interesse mit Hinblick auf die Stabilität der politischen
Korporation. Die opponierenden Propheten wiederum stellten die
Institutionen (Königtum und Tempel, Gottesdienst und Tora)
keineswegs in Frage; wohl aber legten sie die Worte der
Bundesverpflichtung heilsam und kritisch selbst gegenüber den
anderen beiden Institutionen und ihren Vertretern angesichts
vielfältiger Verderbnis se aus. Zur Integrität Israels gehört die
"schöpferische Unruhe" durch die Propheten einerseits und
der pragmatische Realismus von Königen und Priestern andererseits.
Jüdische Zentren
Nach 586 bildete sich ein Israel mit zwei Brennpunkten, das seit
dem kontinuierlich im Lande Israel und in der Diaspora lebte.
Ansätze dazu gab es auch schon vor der Tempelzerstörung. 722 v.
Chr. fiel Samaria, die Ephraimiten wurden von den Assyrern
deportiert. Als durch den Erlass des Kyros ab 538 eine Rückkehr aus
der babylonischen Gefangenschaft möglich war, blieben in Babylon
die dort entrichteten Zentren des Judentums weiter bestehen. Hier
legt sich früh eine Konkurrenz zwischen babylonischem und
palästinensischem Judentum an. Ein weiteres Zentrum entsteht im
Zusammenhang mit dieser Deportation in Ägypten in Form einer
jüdischen Siedlung in Elephantine (in der Nähe des heutigen
Assuan). Die Dokumente aus den Jahren 420 bis 380 berichten dabei
von einer sehr lebendigen Siedlung, die sogar über einen eigenen
Tempel verfügte. Offensichtlich hat man sich hier mit der
Diasporaexistenz überhaupt abgefunden. Jeremias 43 und 44 lassen
ein weiteres Zentrum in Unterägypten erkennen. Von diesen Juden
wird später der Glaube (oder Aberglaube) überliefert, dass mit der
Vertreibung in eine fremde Region die Vertreibung aus dem
Herrschaftsbereich des einen biblischen Gottes verbunden sei. Diese
Gruppe verliert sich dann in der Geschichte.
Die Samaritaner
Eine der ersten Gruppen, die historisch greifbar wird, taucht
schon im Zusammenhang mit der Deportation 722 v. Chr. auf. Erst
später, im wesentlichen in der Zeit von Alexander dem Großen,
gewinnen sie ihre eigene, sozioreligiöse Gestalt. Ihre Lösung von
Jerusalem bedeutet zum einen die Ablehnung des Tempels in Jerusalem
und den Bau eines eigenen Tempels auf dem Garizim, zum anderen die
Anerkennung nur des Pentateuch als der Tora Gottes. Trotz
gemeinsamer Torafrömmigkeit findet hier eine rigide Abgrenzung
statt. Der Verzicht der Samaritaner auf die historischen und
prophetischen Schriften als heilige Schriften führt dazu, dass sie
auch den ursprünglichen Monotheismus der 10 Stämme zu vertreten
beanspruchen. Sie kennen keinen Polyzentrismus, keine Inspiration
durch Propheten. Die Erinnerung an die Mosezeit ist ihnen wichtig,
aber keine messianische Hoffnung auf die Zukunft. Ihr Verzicht auf
Prophetie und Geschichte im umfassenden Sinn führt zu einer sehr
"ritualistischen" Religion. Etwa um das Jahr 300 ist das
Schisma vollendet. Heute leben noch wenige samaritanische Gemeinden
in Galiläa und auf dem Karmel. Das Neue Testament (Mt 22,35-40)
verdeutlicht in der Geschichte vom barmherzigen Samariter die Kluft
zwischen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft und den Samaritern
sowie die auch im Judentum praktizierte Mahnung mit dem Hinweis auf
die Gerechtigkeit der "anderen".
Die frühen Chassidim
In Maleachi 3,11-21 wird von zwei jüdischen Parteien berichtet:
Die eine fürchtet Gott und dient ihm, die andere tut es nicht.
Diese Erwähnung lässt für die frühe Makkabäerzeit den Schluss
zu, dass hieraus die Gruppen entstanden sind, die unter den Namen
Anavin (Demütige), Zaddikim (Gerechte) oder Chassidim (Fromme)
bekannt wurden, nicht fest organisiert und vor allem unter den Armen
zu finden waren. Angesichts fremdreligiöser Bedrohung des Tempels
in Jerusalem und dort zu beobachtender kultischer Unreinheit und der
Kollaboration mit den Syrern scheint es eine anfängliche
Beteiligung der Chassidim am Makkabäeraufstand gegeben zu haben.
Diese Verbindung löst sich jedoch, als schließlich die
hasmonäische Machtpolitik kritisiert werden musste und eine bloß
eschatologische Erneuerungshoffnung vertreten werden konnte. In der
Bewegung der Chassidim liegt eine Quelle der Qumrangemeinde wie der
pharisäischen Bewegung.
Qumran-Essener
Über diese Gruppe gibt es seit den Funden (ab 1947) eine
einzigartige Dokumentation. Dem gemäß handelt es sich um eine
jüdische Gruppe, die soziologisch und religiös besser nicht als
Sekte beschrieben werden sollte. Es ist die "Gemeinde des Neuen
Bundes", die über die letzten zwei Jahrhunderte vor der
Zeitenwende eine Fülle von Dokumenten und Informationen liefert.
Die meisten dieser Texte sind inzwischen zugänglich geworden.
Romanhafte Phantasien über "vatikanische" Ängste, die
ihre Veröffentlichung fürchteten und verhindern wollten, oder
"Beweise" für eine Abhängigkeit Jesu von dieser Gruppe
sind inzwischen glücklicherweise aus der seriösen Diskussion
verschwunden. Damit ist nicht gesagt, dass es in dieser Gemeinde
nicht auf grund der gemeinsamen biblischen Überlieferungen wichtige
Parallelen gäbe. Vor allem die Manuskripte (aus ca. 10 Höhlen, 15
km südlich von Jericho) haben einzigartige Bibliotheksbestände von
biblischen Texten, Bibelkommentaren und Gemeindeordnungen
überliefert. Etwa 300 Jahre lang existierte diese Gruppe. Sie wurde
wahrscheinlich im Jahre 70 mit der Zerstörung Jerusalems
ausgelöscht. Von keiner Gruppe ist soviel Material überliefert wie
von dieser innovativen jüdischen Gemeinschaft.
Ist die Qumrangemeinde gleichzusetzen mit den
"Essenern"?
Die Diskussion, ob es sich bei der Qumrangemeinde um dieselbe
Gruppe wie die bisher "Essener" genannte handelt, ist
offen. Differenzen im Kalender könnten es nahe legen, hier zu
unterscheiden. Die Gemeinde des Neuen Bundes wäre als "millenaristisch-messianisch"
zu charakterisieren: Die Ankunft des messianischen Reiches steht
unmittelbar bevor. Es gibt noch eine befristete Zeit der Buße. Man
trennt sich von der unreinen jüdischen Mehrheitsgesellschaft, geht
in die Wüste, um für die Erlösung vorbereitet zu sein. Mit dem
Erwählungsbewußtsein und der vergehenden Zeit verbinden sich
Regelungen für "Gottes Auserwählte". Eine duale
Einteilung der Menschen in "Söhne des Lichtes" und
"Söhne der Finsternis" (so im Sektenkanon 1,4) ist eine
prägende Grundhaltung.
Die Pharisäer
Das Wort bedeutet peruschim, die Abgesonderten. In Phil 3,5 werden
sie zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Vor dem Jahre 70 n. Chr.
sind von ihnen keine eigenen Texte überliefert. Sicher handelt es
sich bei der Namensgebung um eine Fremdbezeichnung, die ihre
Ausprägung durch die Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Qumran
und dem entstehenden Christentum erfährt. Obwohl die
Apostelgeschichte eine antipharisäische Tendenz hat, wird deutlich
auf die positive Pharisäergestalt des Gamaliel (Apg 5) hingewiesen.
Diese positive Kennzeichnung im Neuen Testament ist genauso wichtig
wie die im christlichen Allgemeinbewusstsein viel besser bekannte
scharfe Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern. Mt 23, 1 wird
aber davon gesprochen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten
heute auf dem Stuhl des Mose sitzen. "Alles was sie euch sagen,
das tut!" Jesu Kritik bezieht sich prophetisch nur auf die
Diskrepanz zwischen Wort und Tat der Pharisäer und
Schriftgelehrten. Es ist daran zu erinnern, dass die große
Übereinstimmung zwischen Jesus und den Pharisäern auch in dem
Bezug auf das Doppelgebot der Liebe und das Sch'ma Israel besteht (Mk
12, 28-34).
Sieben Arten von Pharisäern
Josephus (Altertümer 17, 42) spricht zunächst davon, dass es
höchstens 6000 Pharisäer gibt. Ihr Einfluss ist jedoch wesentlich
größer als die geringe Zahl. Josephus wird später zusehends
kritischer über sie berichten - je stärker er eine romtreue
Haltung einnimmt. Die Kritik an den Pharisäern ist im übrigen kein
Spezifikum des Neuen Testamentes. Die rabbinische Literatur
unterscheidet 7 verschiedene Arten der Pharisäer (von Heuchlern bis
zum Vorbild). Was in der Hasmonäer- und Römerzeit eine
Außenposition einnahm, das leitete in den Schriften der Rabbiner
die Erneuerung des nachbiblischen Judentums ein. Das rabbinische
Judentum, dessen Dokumente vor allem in Talmud und Midrasch
vorliegen, hat in den beiden Sammelwerken des Jerusalemer und des
Babylonischen Talmuds über 1000 Stimmen (oft mit Namensnennung)
gesammelt.
Verbindlichkeit der Lehre ist durch keine
Zentralautorität gegeben
Keine zentrale Autorität (wie etwa in bestimmten
Kirchenentwicklungen) legt die Verbindlichkeit der Lehre fest. Eine
Verbindlichkeit entsteht im Handeln! Die Autorität ist dann
persönlicher und sachlicher Art. Nennt man die Heilige Schrift
"schriftliche" Offenbarung, so ist die rabbinische
Literatur als "mündliche" Offenbarung zu bezeichnen.
Beide sind für die Identität und das Selbstverständnis des
Judentums von entscheidendem Gewicht - in ihrer Vielfalt wie in
ihrer Qualität als Quellen. In der Schriftauslegung der Pharisäer
werden nicht nur mehrere Deutungen, z.B. des gleichen Bibeltextes,
überliefert. Es gehört zur ihrer grundlegenden Hermeneutik, dass
auch verschiedene Deutungen legitim sind. Die pharisäische Skepsis
gegenüber einer drängen den Naherwartung bildet sich vor allem in
der Auseinandersetzung mit der Qumrangemeinde und mit der
christlichen Gemeinde heraus. In dieser Skepsis ist auch jene
Toleranz begründet,[ von der Gamaliel (Apg 5, 38 ff,) spricht. Sie
kann die Entscheidungsfrage nach der Wahrheit wie nach der
Gefährlichkeit einer neuen, einer messianischen Interpretation der
biblischen; Hoffnung Gott und der messianischen Praxis überlassen.
Die Zeloten (= Eiferer)
Die Zeloten sind radikale Freiheitskämpfer. Sie haben ihre
Blütezeit in den Jahren 66-73, im Aufstand gegen Rom, Ihr Ziel ist,
neben der Beseitigung der römischen Unterdrückung und religiösen
Fremdbestimmung, eine Art Gottesstaat, in der Gott allein der
Herrschen ist. Josephus wirft ihnen die Verantwortung für den
Untergang des Volkes vor, Er nennt sie auch Räuber. Dieser
Sprachgebrauch könnte sich auch im neutestamentlichen Bericht über
die Kreuzigung Jesu zwischen zwei "Räubern" finden.
Die Sadduzäer
Ihr Name geht wahrscheinlich auf den Hohepriester Zadok in der
Davidszeit zurück (2 Sam 15,24 ff.). Gemeint ist der Jerusalemer
Priester- und Laienadel. Ihre Frühgeschichte ist schwer zu
erforschen. Klar ist, dass sie später kritisch angesehen werden.
Historisch werden sie im 2. Jahrhundert v. Chr. fassbar, am Ende der
Hasmonäer/Makkabäerherrschaft und vor allem unter der römischen
Herrschaft (ab 64 v. Chr.). In der römischen Zeit stellen sie meist
den Hohepriester, der dem Synhedrion vorsteht. Was J. Maier
"liberales Großbürgertum" nennt, fungiert als
politischer Versuch, religiöse und politische Macht im Tempel und
in Jerusalem durch eine Bindung an Rom zu sichern, damit zugleich
aber auch eine kollaborative Überlebensstrategie des jüdischen
Volkes zu versuchen. Auch ein gewisses Erbe der früheren
jüdisch-hellenistischen Synthese kennzeichnet sie. Manchmal wird
heute die Vermutung ausgesprochen, dass sie Vorfahren der Karäer
seien. Theologisch betonen sie die Pentateuch-Tora, sie denken
antiprophetisch. In ihrer Leugnung der Auferstehungshoffnung
beabsichtigen sie eine Kritik an der Macht und zusätzlich einen
Hinweis darauf, dass ohnehin alles ganz neu und anders werden wird.
Hellenismus
Zum Verständnis des Judentums gehört unbedingt ein Hinweis auf
die doppelte Wirkung des Hellenismus auf das jüdische Leben und
Denken. Dieser Einfluss ist auch und gerade in der Abwehr des
Hellenismus zu finden. Beide Probleme können an der Gestalt des
großen Philo (40 v. bis 20 n. Chr.) deutlich werden. Unter den 7
Millionen Einwohnern des damaligen Ägyptens sind etwa 1 Million
Juden. Alexandria, die Metropole Ägyptens, beherbergt davon
200.000. Man spricht in der jüdischen Diaspora griechisch. Die
hellenistische Kultur ist wie für die übrige Umgebung auch für
sie die prägende Kultur. Wallfahrten nach Jerusalem und die
Tempelsteuer für Jerusalem gehören zu den
Selbstverständlichkeiten. Es wird für sie nötig, die Bibel
(Septuaginta) ins Griechische zu übersetzen. Durch diese
griechische Übertragung wurde sie schon damals zum Weltbuch. Philo
las die Bibel in griechischer Übersetzung. Wichtige Gedanken
bestehen u.a. darin, dass Mose und Plato - also die biblische und
hellenistische Tradition - harmonisiert werden. Plato lernt von Mose.
Dieser Gedanke taucht später in der christlichen Tradition als
Gleichordnung von Plato und Mose in der "praeparatio messianica"
wieder au£ Es gibt aber früh antijüdische Ausschreitungen in
Ägypten. Philo selbst nahm an einer Protestdelegation zu Kaiser
Caligula teil. Ist in der jüdischen Diaspora beides zu finden,
Adaption hellenistischer Kultur und Bewahrung des Judentums gegen
deren letzte Ansprüche, so ist die Situation in Erez Israel anders.
Die jüdische Gemeinde im Lande kämpft z.B. gegen die Zumutung,
Gymnasien oder Olympische Spiele einzurichten. Man will nicht, dass
Jerusalem in eine griechische Polis mit entsprechendem Polytheismus
umgewandelt wird.
Nachbiblische Zeit - Die Karäer
Hebräisch nennen sie sich B'ne Mikra = Kinder der Schrift =
Bibelleser. Als Quelle göttlicher Offenbarung und Orientierung gilt
ihnen nur die Bibel. Talmud und rabbinische Literatur werden radikal
abgelehnt. Ihre Entstehung liegt in Vorderasien im 8. Jahrhundert.
Dort versucht z.B. Anan Ben David in Persien viele
"Sekten" zusammenzufassen. Er charakterisiert die Aufgabe
so: "Forschet tüchtig in der Tora und verlasst euch nicht auf
meine eigene Meinung." Die Schrift wird zur einzigen
Richtschnur. Die Verbindlichkeit äußert sich in strengem und
asketischem Lebensstil, der bald zu eigenen Gemeindebildungen
führt. Das griechische Wort logos wird als das entscheidende Wort
aus Philos Gotteslehre in die Exegese eingeführt. Es gibt eine
Reihe von arabisch schreibenden Gelehrten dieser karäischen
Tradition. Große Schriftsteller und Gelehrte finden sich in
Ägypten. Der Gelehrte "Fürst" Saadja Gaon (gest. 942)
wird zu einem Gegenspieler und Gesprächspartner der Karäer
zugleich. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) werden
an vielen Orten der Diaspora auch die Karäer vertrieben. Es kommt
zu einem intensiven Kontakt mit rabbinischen Gelehrten im
türkischen Herrschaftsbereich. Nördlich der Krim und nicht zuletzt
in Litauen siedeln sich karäische Gemeinden an. Sie zeichnen sich
durch eine rigorose Ehegesetzgebung aus. Ehelosigkeit wird gerühmt
und das Verbot der Schwagerehe gilt, Vorschriften also, die eine
Vermehrung einschränken. 1940 zählt man in Russland noch etwa
20.000 Karäer. Heute gibt es auf der Krim noch eine Gemeinde mit
etwa 300 Leuten und kleine, versprengte Gemeindereste in Litauen.
Die im Irak und Ägypten lebenden Karäer sind nach Israel
geflüchtet, wo sie als eigene Gemeinden überleben.
Die Falaschen (= äthiopische Einwanderer)
Der Beginn ihrer Geschichte liegt in frühen Exilierungen; manche
führen die Anfänge bis König Salomon zurück. Ihre
Hebräischkenntnisse gehen in Äthiopien verloren; ihre Literatur
ist in Äthiopisch abgefasst. Von den christlichen Nachbarn sind sie
stark geprägt, ihre Glaubens- und Lebensformen oft mit christlichen
Überlieferungen (besser, mit gemeinsamem biblischem Erbe) gemischt.
Aber sie haben sich eine jüdische Eigenartbewahrt. Im Mittelalter
hatten sie jahrhundertelang ein eigenes Reich, heute sind sie nach
Israel zurückgekehrt, wo ihre Eingliederung ziemlich schwierig ist.
Das liegt nicht nur an der dunklen Hautfarbe, sondern auch an einem
eigenständig entwickelten jüdischen Selbstverständnis, das von
dem "mainstream" in Israel abweicht.
Sephardim
Spanien wie Portugal hießen im mittelalterlichen Hebräisch
Sepharad. Es ist bis 1492 eine lebendige jüdische Gemeinschaft, die
sowohl in einem blühenden wissenschaftlichen und kulturellen
Austausch mit der christlichen wie mit der arabischen Bevölkerung
lebt. Der Name ging auf die in den arabischen Ländern lebenden
jüdischen Gemeinden über, hat sich in Europa aber auch mit den
sephardischen Flüchtlingsgemeinden um die portugiesischen Synagogen
z.B. in Amsterdam oder in Hamburg verbunden.
Aschkenasim
Der Name geht auf ein in der Völkertafel 1 Mose 10,3 erwähntes
Volk zurück. Einer der drei Söhne Gomers, ein Urenkel von Noah,
heißt so. Seit dem europäischen Mittelalter wird diese Bezeichnung
zur Benennung des überwiegend deutschsprachigen Judentums in
Mittel- und Osteuropa. Die Aschkenasim machten bis zur Schoah etwa
90 Prozent des jüdischen Volkes aus. Sephardim und Aschkenasim
haben in Israel heute je einen Oberrabbiner. Beide Gruppen haben
ihre eigenen Auslegungs- und Gottesdiensttraditionen.
Mystische Strömungen
Die Mystik im Judentum trägt keine apokalyptischen Züge, aber
sie zieht sich auch nicht aus der Welt zurück. Tikkun Olam
(=Verbesserung der Welt) gehört zu ihren Grundgedanken. Das Tun der
Menschen bereitet die Erlösung der Welt vor. Der Messias ist dann
"gleichsam die Unterschrift unter ein Dokument, an dem wir alle
mitschreiben" (R. Geis). Die aschkenasische Mystik ist ebenso
wie die christliche Mystik sehr stark von einem Gedanken der
Imitatio Dei bestimmt. Wie von Gott (bei Jesaja) kann es von der
Mystik heißen: "Ich verstumme seit je, schweige und halte an
mich". Diese mystischen Strömungen (z.B. im "Sefer
Chassidim") sind in einer Zeit mit der Bewahrung der
Menschenwürde befasst, in der diese in den jüdischen Gemeinden
durch die christlichen Kreuzzüge, durch die Vorwürfe der
Brunnenvergiftung und des Ritualmordes aufs Höchste gefährdet
wird.
Vorstellung von verstoßenen Seelen
Die Kabbala kommt nach der Vertreibung des sephardischen
Judentums zu einer neuen Blüte (Kabbala = Überlieferung). Etwa
seit dem 13. Jahrhundert findet sich die Vorstellung, dass die
menschlichen Seelen im Exil leben; nackte, verstoßene Seelen, denen
man nicht einmal die Hölle gönnt. Dieser Gedanke spiegelt
Gefährdung und Heimatlosigkeit. Die Frommen in Safed bilden stark
ausstrahlende Schulen. Joseph dela Reyna vertritt den Gedanken, dass
etwa durch fromme Bräuche und Askese die Erlösung zu erzwingen
sei. Isaak Lurja ( 1534-1572) hat den in der Neuzeit durch Hans
Jonas aufgenommenen Gedanken des Zim-Zum geprägt, einen Gedanken,
der für das Gottesverständnis nach Auschwitz neu wichtig geworden
ist. Lurja versteht unter Gottes erstem Schritt, sich zu offenbaren,
auch den Schritt, sich selbst zugleich zurückzunehmen. Dies wird
zur Bedingung der menschlichen Freiheit. Eine ontologisch gedachte
göttliche Allmacht darf nicht zur Ausrede für menschliche
Tatenlosigkeit werden. Das Prinzip einer ungebrochenen Allmacht
Gottes könnte ja zur Notwendigkeit führen, den Menschen als
ohnmächtig anzusehen.
Der Chassidismus
Dieser Name meint in der Neuzeit eine Erneuerungs- und
Erweckungsbewegung in den jüdischen Gemeinden Südrusslands,
Weißrusslands und der Ukraine. Heute leben noch winzige Reste der
Chassidim in Israel und in New York. Zwei Namen stehen für die
Vielzahl der Weisen und Frommen, für die Vielzahl ihrer Höfe und
Zentren: Rabbi Baal Schem Tov und sein Enkel Rabbi Nachman von
Bratzlav. In der chassidischen Bewegung verkörpert sich der Protest
sowohl gegen die Orthodoxie und ihre Verliebtheit in die reinen
Lehren wie auch gegen die jüdische Aufklärung, die Haskala. Ihre
Zentren sind Treff punkte der Gemeinschaftsbildung und
Lebensberatung, der Rechtsfindung und der persönlichen
Frömmigkeit, die sich in einer unwahrscheinlich lebendigen, den
Menschen ganzheitlich d.h. mit allen seinen Sinnen - umfassenden
Form ausprägt. Martin Buber nennt den Chassidismus "Ethos
gewordene Kabbala".
Die Haskala
Parallel zur mittel- und westeuropäischen Aufklärung in den
jüdischen Gemeinden, parallel zu christlichen und jüdischen
Erneuerungsbewegungen des Chassidismus und des Pietismus entsteht
eine Aufklärung mit religiösen Wurzeln. Sie hat ihre Zentren in
Litauen und in Nordwestrussland. Sie steht dem Chassidismus wie
einer als erstarrt zu sehenden Tradition mit äußerster Skepsis
gegenüber. Vernunftwahrheiten und Offenbarungswahrheiten sind an
sich keine Gegensätze, bedürfen aber beide einer
Neuinterpretation.
Neuzeit
Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing begründen die
Position einer Aufklärung und Emanzipation, die sich religiös
versteht, religiös kritisch ist, aber keineswegs - wie später
einzelne Entwicklungsstränge der Aufklärung - antireligiös wird.
Dieses Konzept richtete sich bei Christen wie bei Juden gegen eine
starre Orthodoxie, die die Praxis vernachlässigt oder aber in
Ritualen verfestigt. Protestantisch-bibeltreu der eine,
jüdisch-toratreu der andere, verzichten beide Autoren nicht auf
eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Tradition, nur um sie in
die Zukunft weitergeben zu können. Heinrich Heine nennt beide
"Wonne" und "Hoffnung". Hier blitzt in
Mitteleuropa eine mögliche Geschichte auf, die für viele Juden,
gerade Osteuropas, Hoffnung auf Gleichberechtigung wachsen lässt.
Schiller wird oft "Rebb Schiller" genannt. Seine Widmung
des Theaterstücks "Die Räuber": "In Tyrannos!"
scheint - wie die kantische Philosophie - Aufklärung und Ethos
fördern zu wollen. Wir alle wissen, dass sich im deutschsprachigen
Bereich diese Linie nicht durchgesetzt hat. In Frankreich verdankte
sich ihr Erfolg (auch für die linke Rheinseite!) der Französischen
Revolution, in England und in den Niederlanden einen breitem
christlichen Humanismus.
Neoorthodoxie
Samson Raphael Hirsch lobt zum 100, Geburtstag Schiller als
"die Dämmerung jener Morgenröte, wo die Menschen einst alle
aufstehen werden und: die Binde vollends von ihren Augen fallen
wird". Das paulinische Bild der "Binde", das den
vorgeblich "klarsichtigen" Christen immer das Zeichen für
die jüdische Blindheit ist, wird hier zurecht, weil prophetisch,
als Symbol einer nichterleuchteten Menschheit verwandt. Hirsch (
1808-1888) versteht seinen Entwurf (niedergelegt in den "19
Briefen über das Judentum") nicht als Position gegen
Aufklärung und Emanzipation, sondern als eine neue Vergewisserung
der Tradition für die Gegenwart. Sein Enkel, Isaak Breuer (1883 in
Budapest geboren, 1946 in Jerusalem gestorben) gründete die Agudath
Israel (in Frankfurt am Main). Hieraus erwuchs im Laufe der Zeit der
Weltverband für Orthodoxes Judentum. In Erinnerung an die Arbeit
von Jehuda Halevi (12. Jahrhundert) schrieb er einen neuen "Kusari".
Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung ist Joseph
Carlebach,1942 in Riga ermordet. Er strebt eine weltoffene, in der
westlichen Welt verankerte Demokratie an. In Israel ist Abraham
Isaak Kook (geb.1865 in Litauen, gest. 1935 in Jerusalem) als
wichtiger Rabbiner zu nennen. Er ist ein Vertreter der strengen
Orthodoxie, deren Bedeutung er in die sich rasch wandelnde Situation
zu übersetzen versucht. Er wird der erste aschkenasische
Oberrabbiner in Palästina. Sein Motto war: "Das Alte erneuern
und das Neue heiligen." Als eine große halachische Autorität
gilt der 1903 in Polen geborene Joseph Soloveitschik. Seine
Gründung einer Yeshiva in New York zeigt nicht nur sein großes
Wissen, sondern auch sein pädagogisches und
"volksmissionarisches" Talent.
Das liberale Judentum
Dieses sammelt sich heute in der "World Union for Progressiv
Judaism". Einer der bedeutendsten Präsidenten war Leo Baeck,
der letzte Rabbiner von Berlin, der mit dem Rest seiner Gemeinde
nach Theresienstadt ging. Das liberale Judentum wächst aus den
Reformgemeinden in Deutschland heraus. Prägende Lehrstätten sind
heute das Leo Baeck College in London, an dem die Rabbiner Magonet
und Friedländer lehren, mitbegründet von dem in Wien 1897
geborenen Ignaz Maybaum (gest.1976 in London). Ein weiteres Zentrum
ist in Cincinnati zu finden. Die Wurzeln des liberalen Judentums
liegen im 19. Jahrhundert: in der liberalen Hochschule für
Wissenschaft vom Judentum in Berlin und in der entsprechenden
orthodoxen Ausbildungsstätte von Breslau. Eine neue Jüdische
Hochschule dieser Richtung in Heidelberg verdankt sich der
Initiative von Pnina Navé-Levinson und Peter Levinson.
Konservatives Judentum
Das konservative Judentum hat seine eigene Entwicklung. Aus der
Orthodoxie erwachsend, öffnet es sich jetzt stärker zur Gegenwart
hin und wird am eindrucksvollsten durch Abraham Josua Heschel (1907
in Warschau geb., 1972 in New York gest.) verkörpert. Die
prophetische wie die chassidische Tradition wachsen in ihm, dem
"amerikanischen Buber", zu einer eindrucksvollen
Weltverantwortung zusammen.
Reconstructionists
Ihr großer Vertreter ist Mordechi Kaplan (geb. 1881 in Litauen,
gest. 1983 in New York). Es handelt sich bei ihnen um eine
Abspaltung einer konservativen Richtung mit deutlicher Bejahung
einer Diasporasituation. Kaplans Buch "Judaism as
Zivilisation" ist für die Diaspora geschrieben. Durch die
Bildung jüdischer Zentren soll eine jüdische Existenz in der
Diaspora ermöglicht werden. Er betont nicht die Erwählung Israels,
sondern sein "Nahebringen zum Dienst Gottes in der Welt".
Die jüdischen Zentren enthalten Synagogen, Lehrhaus, Sportplätze,
Festräume, kurz, sie sind ein Sammelpunkt der jüdischen Gemeinde
in der Diaspora. Von Kaplan stammt das Wort "Die Autoritäten
der Vergangenheit haben ein Mitspracherecht, aber kein
Vetorecht". Seine Theologie ist evolutionär, sie versucht
ernst zu nehmen, dass die biblische Tradition ein lebendiger Fluss
aus der Vergangenheit in die Gegenwart ist, an der jede Generation
schöpferisch mitzuarbeiten hat.
Fundamentalismus
Ein viel zu knapper Blick gilt hier dem Fundamentalismus. Ihn
gibt es in allen Religionen, politischen Konzepten und
wirtschaftlichen Theorien. Insofern ist der jüdische
Fundamentalismus eine Parallele zu anderen Fundamentalismen. Diese
lassen sich kennzeichnen a) durch Exklusivität und Reinheit, die
die eigene Gemeinschaft beansprucht; b) durch Gewaltbereitschaft,
ethische und religiöse Ziele durchzusetzen; c) durch ein
Wörtlichnehmen bestimmter (keineswegs aller!) schriftlicher
Traditionen. Im Judentum sind hier auf der einen Seite die
nationalistisch-religiösen Siedlergruppen in Gusch Emunim (Block
der Getreuen) zu nennen. Sie benutzen die Bibel wie einen Steinbruch
für ihre Argumente, mit denen sich ein Großisrael rechtfertigen
lassen soll. Eine andere fundamentalistische Gruppe, die den Staat
Israel ablehnt, ist z.T. in Mea Shearim in Jerusalem zu Hause. Sie
billigen nur dem Messias das Recht zu, einen Staat Israel und den
Tempel wieder zu errichten. Allen fundamentalistischen Gruppen ist
gemeinsam, dass sie ein Feindbild von der gegnerischen Front zur
Stabilisierung der eigenen Position brauchen.
Sieben Thesen zum Judentum als Way of Life –
1. Das Vergangene als Wegweiser für die Zukunft
Vergegenwärtigung setzt das Alte nicht außer Kraft, sondern
setzt es in der Gegenwart für eine neue Zukunft in Kraft. Die
biblischen Beispiele sind in der Bergpredigt am anschaulichsten
überliefert. Dort erinnert Jesus an das, was zu den Alten gesagt
worden sei. Es bleibt natürlich gültig und bedeutet zugespitzt und
radikalisiert für das Heute z.B. die Ablehnung des Schwurs, der
Gewaltanwendung usw. Hier handelt es sich also nicht um Antithesen,
sondern um zugespitzte Thesen, die ihre Gültigkeit gerade aus der
Gültigkeit der Tora ableiten.
2. Wirklichkeit als Bewährungsprobe des
Glaubens
"Gott spricht uns nicht an, damit wir uns mit Gott befassen,
sondern mit seiner Welt und seiner Geschichte." (Martin Buber)
Die Wirklichkeit ist das Feld der Verwirklichung und der Bewährung
des Glaubens. Es gibt keine religiösen Fragen, es gibt nur
weltliche Fragen, die alle Menschen bewegen: Wie gehe ich um mit
Lebensanfang und Lebensende, mit Erziehung und Lebensbewältigung,
mit Leid und Schuld, mit Armut und Reichtum, mit Unrecht und Gewalt,
mit Familie und Gesellschaft, mit Eigentum und Ohnmacht.
3. Gott ist unfassbar
Gott ist als ein unfassbarer Gott zu begreifen und zu fassen. Er
ist als Allmächtiger ein leidender Gott, als ferner Gott ein naher
Gott (Jes 57,15). Was lebensnotwendig ist, ist von Gott zu wissen
und zu verstehen. Darauf berufen sich die Rabbinen, wenn sie das
Wort Dtn 29,28 zitieren: "Die Geheimnisse sind des Herrn,
unseres Gottes, das Offenbare aber ist unser und unserer
Kinder."
4. Institutionen haben eine dienende Funktion
Institutionen und Macht haben dienende und keine herrschende
Funktion. Die Wahrheit ist keine Tochter der Autorität, sondern die
Autorität ist eine Tochter der Wahrheit. Der Jude Jesus formuliert
in der jüdischen Tradition: "Der Sabbat ist für die Menschen
da, nicht der Mensch für den Sabbat." Diesen Gedanken hat in
eine nichtreligiöse Sprache Albert Einstein 1932 auf einer
Abrüstungskonferenz in Genf aufgenommen, als er daran erinnerte,
dass sowohl Staat, Wirtschaft und Wissenschaft für den Menschen da
seien, nicht aber die Menschen für diese Institutionen.
5. Vorherrschende Selbstkritik im Judentum
Das Prophetische ist immanente Selbstkritik im Judentum. Es wirkt
in jede Richtung der Selbstgefährdung und der Außengefährdung.
Hier hat die toratreue Tradition ihr Recht gegen die liberale
Tradition wie die liberale Tradition ihr Recht hat gegenüber der
orthodoxen Tradition. Auf christlicher Seite ist zu lernen, dass aus
der prophetischen Selbstkritik Israels kein Argument geschlagen
werden darf, das von außen gegen Israel gewandt wird. In einer
Geschichte Israels aus dem Jahre 1941, getränkt vom Nazigeist,
werden die Propheten erwähnt, um die Nazikritik an Israel zu
belegen: "Schon Hosea und Amos kritisieren die Juden!" Die
kritische Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern, der
Streit zwischen Petrus und Paulus, zweier Christen, die aus der
jüdischen Gemeinde stammen und die zwei unterschiedliche jüdische
Positionen in die christliche Gemeinde hineintragen - eine
toratreuere und torafreiere Auslegung im Blick auf die zur
christlichen Gemeinde hinzustoßenden Nichtjuden - macht deutlich,
dass es sich hier immer um Gruppenpolemik handelt. Nehme ich z.B.
die Polemik Jesu gegen die Pharisäer als die Polemik eines Christen
gegen die Juden, habe ich Jesus wie das ganze Neue Testament
missverstanden. Hier polemisiert ein Jude gegen andere Juden.
Prophetische Israelkritik wird, wenn wir als Christen die gesamte
Bibel ernstnehmen, Kirchenkritik.
6. Gott vollendet die offene Geschichte
Die im messianischen Hoffen und Handeln offengehaltene Geschichte
hat eine Zukunft, die Gott vollenden wird. Eine messianische Haltung
bewahrt mit ihrer "Skepsis" davor, eine existierende
Wirklichkeit mit dem Reich Gottes zu verwechseln. Manes Sperber
erinnert sich, dass er von frühester Kindheit an gelernt habe, die
hebräische Bibel zu lesen. Er beginnt mit den Propheten Jesaja.
Dort lernt er, dass die Erwartung des Messias nicht ein untätiges
Hinnehmen von Unrecht und Gewalt in der Welt bedeuten könne. Warten
ist aktiv. Die messianische Hoffnung wird in Krisen gestärkt. Nicht
christologische Lehrsätze, sondern Christusnachfolge, nicht eine
behauptete, sondern die gelebte Gerechtigkeit entscheiden über die
messianische Frage. Und diese Entscheidung hat Gott sich vorbehalten
(Mt 25). Bis dahin wachsen Unkraut und Weizen gemeinsam. "Der
Jude hält die Christusfrage offen." (Dietrich Bonhoeffer)
7. Jüdische Lehren manifestieren sich in
konkretem Handeln
Die Verbindlichkeit des jüdischen Lehrens, Lebens und Denkens
zeigt sich im Tun, nicht in einer dogmatisch geschlossenen
Theologie. Die Vielfalt der Verwirklichungen hat Vorrang vor dem
einheitlichen System. Hier sind einige biblische Beobachtungen
festzuhalten. Die Tradition des lebendigen Judentums läuft über
die Generationenverträge. Wenn dich dein Sohn fragt, "was die
sieben Steine im Jordan bedeuten", "was am Sederabend
anders ist als an anderen Abenden", so sind die Älteren
auskunftspflichtig. Die religiöse Erziehung ist in erster Linie
Sache der Familie, nicht delegierbar an Schulen, die eine wichtige,
aber hier nur helfende Rolle spielen können. Die Geschichte der
Offenbarung wird in lebendigen Geschichten weitergegeben. Die in der
christlichen Tradition analoge Methode des konziliaren Vorgehens ist
über Jahrhunderte verschüttet gewesen, ebenso wie die
mittelalterlich-mönchische und akademische Tradition des "Sic
et Non" Sagens. Hiernach konnte man eine Position erst
widerlegen, wenn der zu Widerlegende einer Interpretation der
anderen Position zugestimmt hatte. Abraham Josua Heschel beschreibt
Dogmen als "Bernsteine, in die Bienen, die einmal lebendig
waren, eingeschlossen sind". Er fährt fort: "Ob Dogmen
angemessen sind, hängt davon ab, ob sie verbindliche Formen sein
wollen oder lediglich Hinweise Im ersten Fall täuschen und versagen
sie, im zweiten sind sie Hinweis und Erleuchtung."
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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