Papst Johannes XIII. und der Aufbruch


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20. Aug 99von Marcus Marschalek aktualisiert

Es ist dunkel geworden, als der dienstälteste Kardinal nach altem Ritual den neuen Papst erkündet. Den 77 Jahre alten Angelo Guiseppe Roncalli. Er nennt sich Johannes XXIII.
Jubel auf dem Platz. Staunen in der Welt. Wer ist der Neue?

Papst Johannes XIII.

Franz König
Kardinal, Wien
Wie ich seinen Namen gehört hatte, als neuer Erzbischof von Wien habe ich mir gedacht, ja Pius XII. die große hierarchische Gestalt und dieser eher gemütlich wirkende Papst. Kann denn das gutgehen, das kann nur eine vorübergehende Erscheinung sein.

Der neue Papst wird unterschätzt. Bald wird er alle überraschen.

Johannes war Diplomat. Es ist die Zeit des schrecklichsten Verbrechen des Jahrhunderts.
Massenmord nach Plan. Für verfolgte Juden auf dem Balkan wird Roncalli Lebensretter.
20.000 hat er vor dem Tod bewahrt.

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Arthur Herzberg
Jewish Agency
Es war überall das Gleiche. Man sagte uns: Wir können nicht helfen - mit einer Ausnahme. In Istanbul traf ich einen fetten kleinen Erzbischof, namens Roncalli - er war päpstlicher Nuntius in der Türkei. Als ich ihm erzählte, was mit den Juden geschah, stand er auf, begann zu weinen, legte seine Arme um mich und sagte: Rabbi, was kann ich tun, um zu helfen...

’44 Nuntius im befreiten Frankreich. 9 Jahre später Kardinal. Und doch: Roncalli zählte nicht zur ersten Garde. Das Amt des Patriarchen von Venedig - viele meinen Endstation für den bergamasker Bauernsohn.

Das Kardinalskollegium ist sich nicht so sicher. Vier Tage brauchen sie. Erst im elften Wahlgang Einigung - auf den kleinsten gemeinsamen Nenner?

Loris Capovilla
Sekretär des Papstes
Ich saß zusammen mit den anderen Sekretären. Auf einmal fragte jemand: ist Monsignore Capovilla hier? In diesem Augenblick war mir klar, daß mein Kardinal Roncalli gewählt worden war. Ich bin durch die Sixtinische Kapelle in die kleine Sakristei - da stand er schon, und war dabei das weiße Papstgewand anzulegen.

Weißer Rauch stieg auf. Hinter den Kulissen Hektik. Die neuen Kleider sind zu eng. Auch die Schneider hatten nicht mit ihm gerechnet. So kann der Papst beim ersten Segen kaum die Arme heben. Die Menge jubelt trotzdem. Alle lieben mich, sagt er, nur die Schneider nicht.

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Franz König
Nachmittags waren die ersten Audienzen und wir haben gefragt: Na, und wie war denn die erste Audienz mit dem neuen Papst, und die Gendarmen haben gesagt, Kopf schüttelnd: Merkwürdig. Ja, warum? Der erzählt Witze.

Gino Concetti
Moraltheologe
Das war der absolute Imagewechsel vom aristokratischen, hieratischen Pius zu einem Papst, der es liebte, sich als Bauer zu bezeichnen. Er wollte für alle der gute Hirte sein, die Römer nannten ihn liebevoll Pacciocone, was soviel heißt wie dicker Spaßvogel.

Bruno Heim
Sekretär von Roncalli
Die wollen jetzt einen Übergangspapst, der nicht solange regiert und uns schön gehorcht und nichts neues macht, darin haben sie sich getäuscht.

"Habemus opapam!" heißt es spöttisch. - dem Opa entgeht nichts... Die Welt hat sich rasant gewandelt. Muß die Kirche auf all das reagieren?

Edward Schillebeeckx
Konzilsberater
Er soll einmal gesagt haben: Ich weiß schon, daß der Papst in manchen Aussagen unfehlbar sein kann, wenn er ex cathedra, d. h. von Lehrstuhl des hl. Petrus aus spricht. Aber ich habe nicht vor, mich da drauf zu setzen.

Johannes setzt auf seine Bischöfe.

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Loris Capovilla
Eines Tages sagte er mir, wie brauchen ein Konzil, einfach so, ganz nebenbei. Fast einen Monat später, vor Weihnachten sagt er dann - so wie sich die Dinge entwickeln, denke ich, muß ich es versuchen. Ich muß das Netz ins Meer werfen. Ich muß das Konzil riskieren.

August ’61. Mauerbau. Kremlchef Chruschtschow versperrt in Berlin den letzten Ausweg in die Freiheit. Sein Vasall lügt dreist. Die Welt am Abgrund. Besorgnis auch im Vatikan.
Staatssekretär Tardini informiert den Papst. Was kann der Hl. Vater tun - etwa mit den Kommunisten reden?

Loris Capovilla
Sie haben Filmaufnahmen gemacht während er mit Tardini spricht und man sieht ganz deutlich: Sein Finger kreist über einer Landkarte - über Berlin. Und dabei sagte er: "Es wird doch wohl nicht möglich sein, daß wegen einer Stadt noch einmal ein Krieg ausbricht."

Krieg wegen einer Stadt? Nikita Chruschtschow will ihn auch nicht - aber droht damit.
Das Unglaubliche geschieht. Beschwörend richtet Papst Johannes von Castel Gandolfo aus über Radio Vatikan einen Friedensappell an die Welt. Gemeint ist Moskau.

Johannes XXIII.
"Die Menschheit braucht weder siegreiche Kriege, noch geschundene Völker, sie braucht einen tiefen, sicheren und ewig währenden Frieden."

Es ist das erste Mal, daß ein Papst sich öffentlich an die Herren im Kreml wendet. Chruschtschow reagiert: In der Prawda läßt er den Appell des Papstes loben. 6 Wochen später die Sensation: Ein Glückwunschtelegramm aus Moskau zum 80. Geburtstag von Johannes. Der Papst nimmt es gelassen.

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Loris Capovilla
Eminenz, sagte Johannes, eine freundliche Geste ist doch besser als eine Ohrfeige. Dann schwieg er und nach einer Weile fuhr er fort: Eminenz, es könnte auch Betrug sein, eine Illusion, der Versuch mich auszunutzen, es könnte aber auch ein Faden sein, den mir die Vorsehung schickt, in diesem Fall habe ich nicht das Recht den Faden zu zerreißen.

Im Rom liegen 70 Entwürfe zum Konzil vor - verfaßt von den Organisatoren aus der Kurie. Sie haben alle eins gemeinsam: sie sind nicht konkret. Wird die Weltkirche die Hinhaltetaktik aus der Kurie akzeptieren?

Der Auftakt zum Konzil verdeckt für einen Augenblick die Spannungen. 11. Oktober ’62. 2500 Teilnehmer aus 133 Nationen sind nach Rom gekommen. "Nach dreijähriger mühevoller Vorbereitung", schreibt Johannes in sein Tagebuch, "sind wir am Fuße des Hl. Berges angekommen. Der Herr möge uns beistehen, um alles zu einem guten Ende zu führen." Der Höhepunkt seines Pontifikats - und doch wirkt der Papst blaß und erschöpft.
Nur einige wenige wissen, was ihm die Ärzte vorher mitgeteilt haben.

Giulio Andreotti
Ex-Ministerpräsident Italiens
In diesen Tagen kam ein Bulletin heraus, in dem man eine sehr schöne Formel erfunden hatte: Man sprach von einem Magenleiden, das kann ja alles mögliche sein - von Verdauungsstörungen bis hin zum Krebs. Sein Arzt hat mir anvertraut, was sich dahinter verbarg: Bei ihm ging es um Krebs - im Endstadium.

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James Malone
Bischof von Youngstown
Beim Einzug des Papstes in St. Peter, - er hatte ungefähr zwanzig Prozent des Mittelgangs hinter sich - ließ er anhalten, sein Tragesessel wurde abgesetzt und er ging den Rest zu Fuß. Rückblickend denke ich - Vom ersten Augenblick an gab er uns damit eine Botschaft: Das wird diesmal eine ganz andere Angelegenheit.

Zum Auftakt: klare Worte von Johannes. Das Leitmotiv: Aggiornamento! Und dann eine deutliche Absage an die Zauderer.

Johannes XXIII.
Sie behaupten daß dieses Zeitalter weitaus schlechter als frühere Zeitalter ist, und sie verhalten sich, als hätten sie überhaupt nicht aus der Geschichte gelernt - und dabei ist die Geschichte die große Lehrerin des Lebens. Wir fühlen uns verpflichtet, diesen Propheten des Unglücks zu widersprechen, die auf ewig Unheil vorhersagen, als stünde das Ende der Welt unmittelbar bevor.

Schon am nächsten Tag bricht ein Konflikt zwischen Kurie und Weltkirche offen aus.

Hans Küng
Konzilsberater
Die Römische Kurie hatte einfach überziogen. Der Zorn der Bischöfe und der Theologen war so groß über die Manipulationen, nicht nur in der Vorbereitungskommission, sondern auch in der Konzilskommission selber, daß man sagte, das wird nicht akzeptiert.

Das Konzil bekommt Eigendynamik.

Oktober 1962: Kubakrise. Die Welt am Rande der atomaren Katastrophe. Johannes richtet einen flehentlichen Appell zum Frieden an die Supermächte. Das Wunder geschieht. Die Russen geben nach.

"Pacem in terris - Friede auf Erden" - der Titel der letzten Enzyklika des Papstes. Die Welt applaudiert dem Papst. Das Time-Magazin macht ihn zum Mann des Jahres. In die Freude mischt sich Schmerz.

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Giulio Andreotti
Er sah aus wie Alabaster, wie durchsichtig. Die Ärzte hatten ihm abgeraten zu kommen, aber er war immer so lieb und hat es sich nicht nehmen lassen - trotz seines Zustandes.

Lichterketten für den Papst des Volkes. Keiner wurde so geliebt, keiner so verehrt. Papa Giovanni - ein Mensch auf dem Thron der Päpste.

Pfingsten ’63 - Johannes liegt im Sterben. Tausende von Menschen auf dem Petersplatz beten für den Papst. Stündlich über Lautsprecher die medizinischen Bulletins. Am Freitag, dem 31. Mai, geben die Ärzte den Kampf auf. Der Krebs ist nicht mehr zu besiegen.

Sein alter Gefährte wacht an seinem Bett.

Loris Capovilla
Der Papst sagte: "Wenn ich hier so liege, hängt das Kruzifix über mir, dann sehe ich es ja nicht." Und er ließ es gegenüber aufhängen.

Sein letzter Blick gilt diesem Kruzifix. Am Pfingstmontag - kurz vor acht Uhr abends stirbt Johannes. Nach altem Brauch - aus Trauer um den toten Pontifex - die Tore des Vatikan werden geschlossen. Letzte Gedanken eines Papstes:

Loris Capovilla
...er war sehr ruhig, als würde er sehen, daß auf der anderen Seite der Schwelle schon seine Vorgänger warteten, um ihn zu empfangen.

Informationen zur Sendung erhalten Sie hier!

 

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