Kommentar

Der "alte Ratzinger"

Papst Benedikt XVI. predigte in Warschau erstmals Strenge. Ein Kommentar von Peer Meinert und Eva Krafczyk / dpa.

Anfangs versuchte der Papst noch, gute Laune zu verbreiten. Die schweren Regenschauer, die am Freitag auf den Warschauer Pilsudski-Platz niedergingen, seien doch eigentlich ein "Segen von oben" meinte er und forderte die Gläubigen in polnischer Sprache auf: "Halten wir durch." Doch dann verging auch Benedikt das Lachen. Mit besorgter Miene saß er unter einem Zeltdach. Mehr als 300 000 Gläubige harrten durchnässt und bibbernd auf dem riesigen Platz aus. Eine Stunde der ungetrübten Freude war die Messe nicht.

Nicht nur der Regen drückte die Stimmung

Irgendwie passte auch der Redetext, den der Deutsche mitgebracht hatte, gut zur Stimmung - sonderlich erwärmen konnte er die Herzen nicht. Was er den Menschen im Regen bot, war harte Kost, waren Warnungen vor Glaubensabweichungen, vor den Versuchungen des Geistes der Moderne, war die Ermahnung zur unbedingten Glaubenstreue - "auch wenn es manchmal schwer verständlich ist". Noch nie zuvor seit seiner Wahl vor über einem Jahr hatte der Deutsche so streng, so unerbittlich, so kompromisslos gesprochen. Kein Wunder, dass die Hochrufe der Menge mau ausfielen - am Freitag drückte nicht nur der Regen die Stimmung.

Der Papst mahnt zur Bibeltreue

"In den vergangenen Jahrhunderten wie auch heute gibt es Menschen und Gruppen, die die Jahrhunderte alte Tradition verdunkeln, die die Worte Christi zu verfälschen suchen..." Benedikt XVI., der Papst, der bislang so gut wie jedes strenge Wort vermieden hatte, nahm die Gläubigen so hart ins Gebet wie noch nie seit seiner Wahl. Erstmals seit Amtsantritt im April 2005 gab sich der "alte Ratzinger" wieder zu erkennen, der einstige "oberste Glaubenshüter" des Vatikans, der sich selbst gerne "Mitarbeiter der Wahrheit" nannte. Ausgerechnet den Auftritt in Warschau nutze er, um zur unbedingten Bibeltreue zu mahnen. "Jeder Christ ist aufgerufen, dem Wort Christi treu zu bleiben... auch wen dies, menschlich gesprochen, nur schwer zu verstehen ist." "Dabei hätten die Menschen viel lieber gehört, dass ihr geliebter Johannes Paul II. bald selig gesprochen wird", meinte ein durchnässter Pole am Rande der Messe.

"Guter Vater und strenger Lehrer"

Gegen "Relativismus und Subjektivismus", gegen einseitige, beliebige und selektive Interpretationen des Evangeliums - das ist seit Jahrzehnten das Leib- und Magenthema des Professors Ratzinger. "Auch das ist manchmal notwendig", meinte ein deutscher Theologe in Polen. Von "überraschenden und starken Worten" sprach ein Kommentator im polnischen Rundfunk. Ein "guter Vater und strenger Lehrer" sei nach Polen gekommen, kommentierte eine Zeitung bereits den ersten Besuchstag Ratzingers, der am Donnerstag nach Polen gekommen war.

Polen hoffen auf eine "sentimentale Reise"

Doch die meisten polnischen Gläubigen wollen vor allem, dass der deutsche Papst an ihre Gefühle rührt. Er solle viel Polnisch sprechen, und oft an seinen Vorgänger Johannes Paul II. erinnern, wünschen sich einer Umfrage zufolge die weitaus meisten. Für viele Polen ist deshalb die "sentimentale Reise", der Besuch im Geburtshaus Karol Wojtylas in der südpolnischen Kleinstadt Wadowice am Samstag der emotionale Höhepunkt der Pilgerfahrt - wichtiger als der Besuch des deutschen Papstes in Auschwitz, dem ehemaligen Vernichtungslager und Symbol des nationalsozialistischen Terrors, am Sonntag. Weitaus größer als nach der strengen Predigt war daher auch der Beifall, als Benedikt nach der Messe in Warschau durch die jubelnde Menge ging. Endlich hatte es kurz aufgehört zu regnen - und hunderte versuchten, den Papst zu berühren, während muskulöse Sicherheitsbeamte alle Mühe hatten, für Ordnung zu sorgen.

 

 

 

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