Darf ein guter Muslim schwul sein?
Darf eine gute Muslimin lesbisch sein? Nach traditioneller Auffassung im Islam müsste die Antwort auf diese Frage „Nein“ lauten. Der Berliner Islamwissenschafter Andreas Ismail Mohr ist anderer Meinung.
Islam und Homosexualität würden einander keineswegs ausschließen, behauptet der 48-Jährige. Die Vielzahl an erotischen Gedichten, Handbüchern und Texten - aber auch die sehr expliziten Stellen im Koran zeigen, dass Gott und Lust im Islam kein Widerspruch sind. Der Islam verbietet es sogar, den Sexualtrieb zu unterdrücken, und schafft ein umfangreiches Regelwerk, das die Ausübung des Liebesspiels organisiert. Die allgemeinen Vorstellungen von orientalischer Sexualmoral pendeln heute zwischen den verführerischen Bauchtänzerinnen und Haremsdamen aus "Tausendundeine Nacht" und dem Bild der Burka-Trägerin, die hinter ihrem Mann hergeht.
Im Interview mit religion.ORF.at spricht Andreas Ismail Mohr über zweideutige Koranstellen, homoerotische Literatur in der arabischen Klassik und über Widerstand gegen seine Interpretation des Koran – von dem er sich allerdings mehr wünschen würde.
Gläubig und gleichzeitig homosexuell zu sein ist nach traditioneller Ansicht im Islam nicht vereinbar. Sie behaupten das Gegenteil. Wie begründen Sie das?
A. I. Mohr: "Homosexualität ist eine Sache, die es nun einmal gibt. Die Natur kann ja nicht im Widerspruch mit dem stehen, was Gott will. Ich denke schon, dass Gott homosexuelle Menschen absichtlich geschaffen hat – und dann wäre er ja böswillig, wenn er sagt: So, und jetzt ab mit dir in die Hölle. Für mich ist Islam und Homosexualität kein Widerspruch."
Sie legen den Koran – anders als die meisten Islamgelehrten – so aus, dass Homosexualität keine Sünde ist. Was sagt denn der Koran zu dieser Thematik?
A. I. Mohr: "Hauptsächlich geht es um die Auslegung der Geschichte von Lot und seinem Volk, die im Koran in mehreren unterschiedlichen Varianten erzählt wird. Darin wirft Lot, ein Prophet, den Männern seines Volkes vor, sie würden ihre Frauen vernachlässigen und sich Männern begehrlich nähern. Diese Passage ist zwar sexuell aufgeladen, aber sie spricht nicht explizit Homosexualität an. Der Korantext ist sehr zweideutig."
Ist denn auch die Deutung, Homosexualität sei eine Sünde, legitim?
A. I. Mohr: "Nach traditioneller Auffassung sind die Deutungen der Gelehrten in den ersten Jahrhunderten verbindlich. Und die gingen davon aus, dass Geschlechtsverkehr stattgefunden hat. Das wird im Koran aber nicht explizit gesagt. Was nicht absolut bekräftigt wird, müsste eigentlich durch eine zweite Quelle belegt werden, durch Hadithe, die Aussprüche Mohammeds. Zur Lot-Geschichte gibt es aber keine Hadithe, die nähere Erklärungen liefern würden."
Würden Sie den Islam als eine homophobe Religion bezeichnen?
A. I. Mohr: "Wenn man das auf homosexuelle Handlungen bezieht, wird die Antwort nie positiv ausfallen. Andererseits ist die klassische Dichtung in Arabien vom zehnten bis ins 19. Jahrhundert sehr homoerotisch angehaucht. Es kommt nicht selten vor, dass ein Dichter einen Jüngling besingt. Das hat man nicht als Widerspruch empfunden, solange es nur schwärmerisch war. Aber sexuelle Akte, Analverkehr und so weiter, das galt als Sünde."
Heißt das, homoerotische Gefühle sind im Islam in Ordnung, aber Sex mit gleichgeschlechtlichen Partnern nicht?
A. I. Mohr: Was hinter geschlossenen Türen passiert, kann niemand sehen und niemand kann an der Realität vorbeileben, gerade wenn zwei Menschen zusammenleben. Aber Sexualität ist in der arabischen Gesellschaft halt immer mit Ehe und Kindern verbunden. Alleine die Vorstellung, dass jemand nicht heiratet, ist für viele unmöglich.
Stoßen Sie mit Ihrer Deutung des Koran oft auf Widerstand?
A. I. Mohr: Nicht direkt, manchmal würde ich mir sogar mehr Widerstand wünschen. Viele sagen mir, dass sie meine Interpretation interessant finden. Und Muslime, die sehr orthodox sind, blocken bei dem Thema gleich ab. Die sagen, das ist verboten und Punkt, aus. Ich möchte auch nichts umstoßen, nur den Blick dafür öffnen, dass Homosexualität vielfältiger ist als viele annehmen.
(Interview: Eva Lugbauer, religion.ORF.at)
Zur Person
Andreas Ismail Mohr:
Islamwissenschaftler und Arabist in Berlin, zurzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Koranforschungsprojekt „Corpus Coranicum“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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Gläubig und schwul – Tabuthema Homosexualität im Islam
Hakan C. ist das Kind einer türkischen Einwandererfamilie, praktizierender Muslim und homosexuell. Sein „Coming out“ vor zehn Jahren war vor allem für seine Familie ein Schock, erzählt er. Während diese mittlerweile akzeptiert hat, dass er schwul ist, erlebt Hakan im Alltag nach wie vor, wie schwierig es ist, als gläubiger Muslim offen seine Homosexualität zu leben. Wie er und seine Freunde dieses Spannungsfeld erleben, erzählt er im „Orientierung“-Beitrag; und der muslimische Seelsorger Tarafa Baghajati erläutert, wie islamische Tradition und Koran generell zur Homosexualität stehen.
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