News 13. 04. 2012

Warum die Mormonen Tote taufen

Die postume „Taufe“, eine bis vor kurzem eher unbekannte Praxis der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (HLT), so der offizielle Name der als Mormonen bekannten Religionsgemeinschaft, hat zuletzt für Aufregung gesorgt. Was in der Glaubenswelt der Mormonen als Angebot an Verstorbene aller Bekenntnisse verstanden wird, sich für ihren Glauben zu entscheiden, ist Andersgläubigen ein Ärgernis.

Insbesondere die Nachkommen von Holocaust-Opfern, die dem Ritual unterzogen wurden, verbitten sich solche „Taufen“. Prominentestes Beispiel waren die Eltern Simon Wiesenthals, aber auch Anne Frank soll „getauft“ worden sein, wie die  Internetzeitung „Huffington Post“ berichtete. Doch auch vor Hindus machen die Mormonen nicht halt: Friedensikone Mahatma Gandhi soll auch dem Ritual unterzogen  worden sein. Und laut „Spiegel“ soll sich auch Barack Obamas Mutter unter den posthum „getauften“ Nicht-Mormonen befinden.

Abkommen mit Juden unterlaufen

Eigentlich hatten mormonische und jüdische Vertreter bereits 1995 ein Abkommen geschlossen, worin die Mormonen versprachen, keine Juden mehr postum zu taufen. Gegen dieses Abkommen gab es immer wieder Verstöße, die von der Glaubensgemeinschaft als betrübliche Einzelfälle bezeichnet wurden. 2010 erreichten Elie Wiesel und andere jüdische Prominente, dass die Mormonen zumindest Holocaust-Opfer unbehelligt lassen wollten. Wiesel zufolge hatten die Mormonen 650.000 durch das Nazi-Regime getötete Juden dem Ritual unterzogen.

„Taufe nur ein Angebot“

Zur Kritik an der Durchführung des Rituals an verstorbenen Andersgläubigen sagte D. Todd Christofferson, einer der „Zwölf Apostel“ der Kirche Jesu Christi HLT (Church of Jesus Christ of Latter-day Saints), im Gespräch mit religion.ORF.at, es handle sich bei der „Taufe“ nur um ein „Geschenk, ein Angebot“, das die Seelen annehmen oder zurückweisen könnten. Vollzogen werde die postume „Taufe“ meist an Vorfahren gläubiger Mormonen mit dem Ziel, Familien im Jenseits zusammenzuführen. Hierbei wird ein Stellvertreter, für gewöhnlich ein Nachkomme des Verstorbenen, einem Taufritual unterzogen.

Berufung auf Korintherbrief

Die Mormonen berufen sich auf ein Paulus-Zitat im Ersten Korintherbrief:  „Wie kämen sonst einige dazu, sich für die Toten taufen zu lassen? Wenn Tote gar nicht auferweckt werden, warum lässt man sich dann taufen für sie?“ Die Mormonen empfänden die Organisation des Himmels als Familie, so Christofferson. Das bringe auch den Lebenden Stabilität und Sinn.

Riesige genealogische Datenbank

Eine riesige genealogische Datenbank hilft den Angehörigen der Kirche Jesu Christi HLT, ihre Ahnen zu finden. „Die Taufe und andere Sakramente können stellvertretend für die, die uns vorangegangen sind, vollzogen werden. Dafür müssen wir wissen, wer sie waren, unsere Vorfahren identifizieren.“ Das sei der Ursprung der internationalen Genealogie der Mormonen, sagte Christofferson. In diesem genealogischen Archiv fand die ehemalige Mormonin Helen Radkey Anhaltspunkte für die Taufe u. a. der Wiesenthal-Eltern, Anne Franks und des jüdischen „Wall Street Journal“-Reporters Daniel Pearl, der 2002 in Pakistan ermordet worden war.

„Als töte man sie ein zweites Mal“

Der Zugang zu dem Archiv wurde Anfang März mit einer Firewall gesichert – um Nachforschungen über die teils unerwünschten „Taufen“ zu erschweren, sagen Kritiker wie Radkey. „Ich glaube nicht fünf Minuten lang, dass sie aufhören werden, jüdische Holocaust-Opfer zu ‚taufen‘“, sagte sie. Holocaust-Überlebende wie Abraham H. Foxman, Direktor der Anti-Defamation League, fürchten um die Totenruhe ihrer Angehörigen: „Es ist, als töte man sie ein zweites Mal.“

„Endowment“ und Siegelung

Rituale wie die Stellvertretertaufe markieren wichtige Eckpunkte des mormonischen Glaubensverständnisses. Das „Endowment“ (etwa „Begabung“) ist eine Zeremonie, während derer ein Kirchenmitglied bei seinem ersten Besuch im Tempel symbolisch dem Weg des Menschen vollzieht. Bei der Siegelung werden Ehepartner und Familien für ewige Zeit aneinander gebunden – auch für das Jenseits. Diese Rituale werden im Tempel vollzogen.

Bibel ergänzt durch Buch Mormon

Die Mormonen verstehen sich als christliche Glaubensgemeinschaft. Geistliches Oberhaupt ist der „Bischof“. Mormonen sehen die Bibel als heilige Schrift an, ergänzen sie jedoch durch das Buch Mormon, das der Religionsgründer und Prophet der Mormonen, Joseph Smith, von einem Engel bekommen haben soll. Weder die römisch-katholische noch die evangelischen Kirchen erkennen die Kirche Jesu Christi HLT als christliche Kirche an.

Rat der „Zwölf Apostel“

Ein  Bischof  arbeitet ehrenamtlich und ist nicht an den Zölibat gebunden. Frauen können das Amt des Bischofs nicht ausüben. International wird die Kirche Jesu Christi HLT durch die Erste Präsidentschaft, bestehend aus drei Männern, sowie den Rat der „Zwölf Apostel“ geleitet. Ihr Hauptsitz ist die von Mormonen gegründete Stadt Salt Lake City im US- Bundesstaat Utah.

Mission wichtig, aber „ohne Druck“

Eine wichtige Rolle nimmt die Mission ein. Laut österreichischen Mormonen gibt es eine „klare Empfehlung für die Mission, jedoch keinen Druck“. Rund 35 österreichisch-mormonische Missionare sind gegenwärtig in der ganzen Welt unterwegs. Wohin sie entsandt werden, können sich die Missionare nicht aussuchen,  es werde aber sehr wohl auf persönliche Qualifikationen, etwa Sprachkenntnisse, Rücksicht genommen, heißt es vonseiten der Mormonen.

 

(Johanna Grillmayer/religion.ORF.at)

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Kirche Jesu Christi HLT:

  • 4.294 Mitglieder in Österreich

  • Weltweit mit 14,1 Millionen Mitgliedern die größte mormonische Kirche

  • Die erste mormonische Gemeinde Österreichs entstand 1901 in Haag am Hausruck in Oberösterreich

  • Seit 1955 sind die Mormonen in Österreich offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt

  • Österreichweit gibt es 17 mormonische Kirchengemeinden

TV-Tipp:

Tote taufen? Warum Mormonen Ahnenforschung betreiben

Sonntag 15.4.2012,12.30 Uhr, ORF 2
Sonntag,
15.4.2012,17.45 Uhr, ORF III

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Link:

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Österreich