Die Lehre Buddhas als Pfad zur Erlösung für alle Menschen
Im Verstehen fremder Religionen kommt es durch Übersetzungen in
die eigene Sprach- und Vorstellungswelt zu Unstimmigkeiten und
Begriffsverfälschungen. Man muss in der Frage von Menschen-, Welt-
und Gottesbildern damit rechnen, dass die Begriffe, die wir
verwenden, nicht für da wie dort stimmig sind. Religionen sind in
sich zu vielgestaltig und historisch wandlungsfähig, als dass sie
auf wenige Bilder, Begriffe oder feststehende Sätze reduziert
werden könnten. Der folgende Beitrag skizziert verschiedene Paradigmen aus dem
Buddhismus und benennt Entsprechungen und
Gegensätze aus dem Christentum.
Es ist offenkundig, dass wir es im Kontext verschiedener
Religionen mit unterschiedlichen Sprachen zu tun haben.
Unterschiedliche Sprachen geben aber nicht bloß die Wirklichkeit
auf verschiedene Art und Weise wieder, sondern sie sind
Voraussetzung für die verschiedene Art und Weise, die Wirklichkeit
wahrzunehmen. Bereits die Wahrnehmung von Wirklichkeit ist
sprachlich geprägt und durch Unterschiede der Sprachen
gekennzeichnet. Daraus folgt, dass die Vermutung von der einen Welt,
die wir in einzelnen Religionen, in je eigenen Sprachen, nur
verschieden deuten, nicht haltbar ist, denn sie ist selbst schon
eine intellektuelle Konstruktion, die hinterfragt werden muss.
Sprache als Ausdruck unterschiedlicher
Wahrnehmung
Im Arabischen, im Sanskrit oder im Deutschen etwa nehmen wir -
durch diese Sprachen, gleichsam wie durch Brillen - unterschiedliche
Wirklichkeiten wahr. Das bedeutet nun vor allem, dass sich dieser
verschiedene sprachliche Ausdruck in den Religionen diatopisch -
also auf verschiedene Religionen nebeneinander festgelegt - ebenso
wie diachronisch - d.h. durch die verschiedenen Zeitläufe, in denen
sich Religionen bilden und entwickeln - in unterschiedlichen
Mustern, wie zum Beispiel spezifischen Zeitvorstellungen,
Geschichtskonstruktionen, Anthropologien und Theologien
niederschlägt. Allein aus der Sprachgestalt des Chinesischen oder
des Sanskrit ergibt sich schon deshalb eine eminent andere
Anthropologie als aus den semitischen Sprachen, wie etwa dem
Arabischen oder Hebräischen, wobei auch überall innerhalb einer
Sprachgemeinschaft gewisse historische Differenzen obwalten,
natürlich auch im Griechischen. Die Differenzen gelten zum Beispiel
für die grammatikalische Struktur, die wir in Sprachen feststellen
können. So hängt etwa der Unterschied der Konstruktion von
Personen und personalen Verhältnissen an dem, was wir den Gebrauch
der Personalpronomina nennen. Diese grammatische Funktion wird in
verschiedenen Sprachen fundamental unterschiedlich wahrgenommen. Es
gibt auch Bilder, die assoziative Situationen ausdrücken, die wir
in verschiedenen Sprachen vorfinden.
Sprachlich-metaphorische Parallelen
Ich erinnere daran, dass wir vielleicht gewisse Vorverständnisse
wecken, wenn wir etwa die semitische Wurzel "rchm" (rächem)
für eine der wesentlichen Charakteristika Gottes benützen: der
Begriff bezeichnet die Gebärmutter und wird von uns mit
"Barmherzigkeit" übersetzt und in der Tradition auch so
gedeutet. Sie gilt von vorneherein als Inbegriff jenes Gottes, sei
er nun als Jahwe oder Allah oder Vater angesprochen. Trotz seiner
maskulinen Gestalt spielt diese mütterliche Metapher auch eine ganz
entscheidende Rolle. Und hier gibt es eine Parallele zur
buddhistischen Tradition und ihrer Sanskrit-Sprache. So haben wir im
Mahayana-Buddhismus den Begriff "Tathagatagarbha" (Schoß
des So-Gekommenen), der einen Ehrentitel des Buddha mit der Metapher
des weiblichen Schoßes verbindet, um auszudrücken, dass alle Wesen
im Keim bzw. in statu nascendi Buddha sind. Hier kann man also
vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit in der Metaphorik vermuten, die
in Kulturen, in der Kunst, in der Ästhetik der jeweiligen
Religionen gewisse Assoziationen zu wecken vermag.
Es muss von einem Nicht-Verstehen ausgegangen
werden
Aber vorschnelle Parallelisierungen sind dennoch verfehlt, weil
in den assoziativen Kontexten, die Sprache schaffen, in der
zeitlichen Entwicklung der jeweiligen Religionen, solche
Sprachmetaphern sehr unterschiedlich aufgefasst und überliefert
werden. Metaphern oder etymologische Ableitungen können auf
Ähnlichkeiten verweisen und müssen dennoch keine Entsprechung
darstellen, und sie sollten deshalb nicht zu schnell zu Schlüssen
verleiten. Nach vielen Jahren des Engagements im interreligiösen
Dialog drängt sich mir folgende Feststellung auf: Zunächst muss
uns in aller intellektuellen Redlichkeit bewusst sein, dass am
Anfang allen Verstehens ein Nicht-Verstehen eingestanden werden
muss. Vorschnelle Übertragungen vorgefertigter Bilder, mit denen
wir unsere eigene und auch andere Religionen festlegen, sollten
prinzipiell in Frage gestellt werden. Nicht zuletzt passen die
Anthropologien, die unserem Titel zugrunde gelegt werden, kaum
zusammen.
Der Begriff "Erlösung"
Ein anderes Beispiel, das mit unserer Themenstellung
zusammenhängt, betrifft den Begriff der "Erlösung".
Dieser ist in gewissem Sinne christlich definiert, aber er ist
andererseits auch keine abgeschlossene Kategorie. Auch hier wäre
zunächst zu fragen, worauf man dieses deutsche Wort
"Erlösung" denn im griechischen Neuen Testament
zurückführen solle. Es böten sich verschiedene Begriffe an:
bereits in der paulinischen Theologie, aber noch einmal anders bei
den Synoptikern und im johanneischen Schrifttum ist dieser
Vorstellungskomplex unterschiedlich ausgeprägt. Der Begriff der
Erlösung hat durch die europäische Kunstgeschichte, gerade durch
die Musik, d.h. durch die Spiritualität der wechselnden Geschichte
des Christentums, so sehr über das rein Theologische hinausgehende,
emotional ergreifende, von der Hoffnung auf Erlösung oder Befreiung
motivierte Konkretionen und entworfene Bilder erfahren, dass dieser
Begriff keinesfalls in einem eindeutigen Theologumenon untergebracht
werden kann.
Auffassungen von Erlösung unterscheiden sich
Erlösung ist eine Auslösung von etwas Gebundenem. Das Gebundene
ist der Mensch in der Sünde. Erlösung ist also mit der
Sündengeschichte und dem Sündenbewusstsein verbunden. Das ist eine
anthropologisch überlieferte Grundvariante der christlichen
theologischen und asketischen Tradition, die nicht einfach
übergangen werden kann, wenn man auf den Buddhismus schaut, der das
Problem von Selbstwahrnehmung des Menschen in seiner gegenwärtigen
Situation anders beschreibt: als unbefriedigende Situation
("Unwissenheit"). Im Buddhismus geht es um das Erwachen
aus Unwissenheit. Was in den semitischen Traditonen - wobei man auch
diese nicht ohne weiteres so allgemein fassen kann, denn im Islam
ist das anders als im Christentum oder Judentum - als Sünde
angesehen wird, wird im Buddhismus als die Unwissenheit
diagnostiziert.
Strukturelle Ähnlichkeiten
Strukturell mag hier manches stimmig und ähnlich sein, denn es
geht in beiden Traditionen um das Empfinden des prinzipiellen
Ungenügens der menschlichen Situation, beide Begriffe bezeichnen
den Menschen im Widerspruch, dass er eben nicht das ist, was er
eigentlich sein und haben möchte, dass er also in Differenz von
Anspruch und Wirklichkeit oder von Ideal und Realität steht. Aber
die spezifischen Inhalte werden durch die jeweilige Metaphorik bzw.
durch theologische oder philosophische Konstruktionen verschieden
dargestellt. Erlösung ist eben etwas anderes als Erwachen.
Erlösung steht in einem ontologisch beschreibenden, das Verhältnis
Gottes zur Welt, das Verhältnis der Geschichtlichkeit des Menschen
zu Gott übergeschichtlich interpretierenden Zusammenhang. Die
buddhistische Sprache, die buddhistischen Bilder des Erwachens haben
einen prinzipiellen, auf die Erkenntnis des Menschen zugeschnittenen
Charakter, ohne damit ontologische Aussagen implizieren oder sogar
eine Gotteslehre in diesem Sinne begründen zu wollen.
Erlösungsbegriff versus Sündenbegriff
Erlösung und Erwachen: zwei sehr verschiedene Sprachmetaphern
also, die einerseits strukturell an ähnlichen oder sogar gleichen
Stellen in den Religionen stehen, dann aber andererseits jeweils
unterschiedliche Selbstwahrnehmungen des Menschen in den Traditionen
ermöglichen und eine ganz eigene geschichtliche Tradition prägen
können. Man könnte durch die gesamte christliche und buddhistische
Geschichte hindurch illustrieren, wie verschieden diese
Begrifflichkeit die jeweiligen Traditionen geprägt hat. Der
Erlösungsbegriff dort, der Sündenbegriff hier haben
Grundkonstellationen des menschlichen Eigenbildes geprägt. Aber
diese Grundkonstellationen sind nie statisch gewesen, sondern haben
erhebliche Modifikationen erfahren. So weisen diesbezüglich die
christlichen Traditionen einen enormen Bedeutungswandel nicht nur
kognitiver, sondern auch emotioneller Art au£ Genauso große
Vielfalt gibt es auch innerhalb der buddhistischen Geschichte.
"Alle Menschen" - eher Wunsch als
Realität
Die Rede von dem Begriff "alle Menschen" ist ein
kulturelles Konstrukt auf dem Hintergrund einer jeweiligen
geschichtlichen Situation und nicht ein empirisches Faktum.
"Alle Menschen" kann man ohnehin nicht wahrnehmen. Sie
sind gerade in den Kulturen, in denen die Religionen, von denen wir
sprechen, herausgebildet worden sind, oft gar nicht im Blick
gewesen. Man hatte bestenfalls das eigene Volk im Blick, allenfalls
im frühen Christentum noch den Mittelmeerraum. Wenn man vom Kosmos
sprach, dann war das keine Metapher für eine Darstellung der
Gesamtgeschichte der Menschheit! Ein solches Bewusstsein fehlte in
Palästina im 1. Jhdt. nach Christus ganz genauso, wie es im 4. od.
5. Jhdt. v. Chr. in Indien gefehlt hat. Globale Erfahrungen sind
viel spätere Erfahrungen, die vor allem in der europäischen
Neuzeit auf gekommen sind und die vor allem uns heute bewegen. Von
einem "für alle Menschen" zu sprechen, ist also eher ein
Wunsch in unserem Horizont, sozusagen ein Wahrnehmungsfenster, in
dem wir eine bestimmte Vorstellung und vielleicht auch einen
ethischen Imperativ ausdrücken, als eine Deskription von irgend
etwas tatsächlich Greifbaren, zumindest in der bisherigen
Geschichte. Dadurch unterscheidet sich unsere heutige Situation von
allen anderen menschlichen Situationen zuvor, insofern dieses
"für alle Menschen" tatsächlich zum ersten Mal erfahrbar
geworden ist.
Die Metapher der Heilung
Ich möchte die Frage nach dem "Pfad zur Erlösung für alle
Menschen" an einer, wie mir scheint, universalen, d.h.
gesamt-menschheitlichen Situation deutlich machen, die nun in
besonderer Weise für Buddhismus und Christentum zutrifft, nämlich
mittels der Metapher der Heilung. Buddha gilt als Arzt und Jesus
wird besonders in der lukanischen Tradition ebenfalls in diesen
Zusammenhang gestellt. Krank zu sein und von Krankheit durch einen
Arzt geheilt zu werden ist sicherlich eine anthropologische
Konstante, die man in verschiedenen Kulturen antrifft, wobei
allerdings die Rolle des Arztes sehr verschieden sein kann. Es ist
bekannt, dass der Buddhismus, besonders die frühe buddhistische
Systematisierung der Predigt des Buddha, auf dem Schema einer
medizinischen Diagnose aufgebaut ist.
Die vier edlen Wahrheiten
Die sogenannten Vier Edlen Wahrheiten, die ein Grundbestand des
Pali-Kanons, der frühen buddhistischen Predigten, sind, kommen
mehrfach immer wieder vor - in Pali und später in Sanskrit. Diese
Vier Edlen Wahrheiten sind: l. Alles ist duhkha (der Begriff wird
gewöhnlich mit "Leiden" übersetzt, aber dies ist nicht
unmissverständlich). 2. Es gibt eine Ursache für das Leiden (und
die wird diagnostisch aufgedeckt). 3. Es gibt eine
Behandlungsmöglichkeit. 4. Diese Behandlung wird nun in der
Verschreibung des sogenannten Edlen Achtfachen Pfades verabreicht.
Dieser Viererschritt in der allgemeinen und speziellen Diagnostik,
in der Analytik und sodann in der Therapie entstammt der indischen
medizinischen Tradition, die zur Zeit Buddhas schon entwickelt war,
wie wir aus medizinischen Sutras, Lehrbüchern, in Indien ersehen
können. Ob die Formulierung der Vier Edlen Wahrheiten so auf den
historischen Buddha zurückgeht oder nicht, wissen wir nicht. (Der
Pali-Kanon ist höchstens 300 Jahre nach dem Tod des Buddha
aufgeschrieben worden und lässt sehr stark die Tradition und
systematisierende Sprache eines institutionalisierten Mönchtums
erkennen.) Wie dem auch sei, der frühe Buddhismus hat jedenfalls
das Wirken des Buddha im Sinne eines Arztes gesehen und auf dieses
Schema rekurriert.
Buddha leitet den Blick des Menschen auf sich
selbst
Was genau oder welche Krankheit heilt nun der Buddha? In welchem
Sinne ist er Arzt? Er heilt das Selbstverhältnis des Menschen, d.h.
das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Der Mensch lebt, so der
Buddha, in einer geistigen Entfremdung, die ihm Leiden verschafft.
Leiden wird dadurch überwunden, dass er den Blick in korrekter
Weise auf sich selbst lenkt, und dies wird durch eine ganz spezielle
spirituelle Übungspraxis - vor allem durch die
Achtsamkeits-Meditation - möglich. Das ist, in Kürze, das Anliegen
des Buddha. Alles andere, was daraus folgend im einzelnen an
anthropologischen Erwägungen, genauen Analysen der Wahrnehmung und
Beschreibung ausgeführt wird, was Bewusstseinsphänomene sind, was
Wille ist, was Tat ist usw., das dient alles diesem Zweck, die
Diagnose genauer zu stellen, um dann eine präzisere Therapie
anzubieten. Das Selbstverhältnis, um das es geht, ist aber
zunächst ein Wahrnehmungsverhältnis.
Der Mensch hat kein Ich
Nach buddhistischer Vorstellung nimmt sich der Mensch falsch
wahr. Er nimmt sich wahr als ein Ich, das abgegrenzt von anderen
Wesen seine eigene Identität hätte und dann erst in sekundären
Interaktionen mit anderen Wesen ein Netz von Beziehungen bildet,
durch die er sich als soziales Wesen verstehen kann und auch so
lebt. Genau dies sei aber der Grundfehler: der Mensch ist nicht ein
sich selbst konstituierendes Ich, ein atman, wie es bereits in der
indischen Tradition vor dem Buddha hieß, sondern ein Nicht-Ich (anatman).
Das ist der Grundsatz, den der Buddha wie einen Paukenschlag gegen
die philosophischen Traditionen seiner Zeit hämmert: Der Mensch ist
kein in sich selbst existierendes oder mit sich selbst identisches
Ich, sondern dieses scheinbare Ich, das wir wahrzunehmen glauben,
ist vielmehr von vornherein ein Produkt von Interaktionsmustern, von
Relationen, die das in der Folge und in laufenden impermanenten
Gestaltungen hervorbringen, was "Ich" bin.
Menschliches Individuum ist eine
Fehlwahrnehmung
Dafür möchte ich ein Beispiel geben: Wenn jemand durch den Wald
spazieren geht und Pilze sucht, entdeckt er einzelne Pilze, große
und kleine, schöne und hässliche. Man nimmt einzelne Pilze wahr,
und die lassen sich in ihrer Individualität beschreiben durch
unterschiedliche Kriterien der Größe, des Gewichts, des Geruchs.
Was wir normalerweise an uns selbst wahrnehmen ist dieses
Individuelle, das im Kampf um den Lebensraum offenbar wird und im
Kampf der Evolution auf und untergeht. Das, so sagt der Buddha, ist
aber eine grundlegende Fehlwahrnehmung: das blinde Auge, von dem der
Mensch geheilt werden muss. Denn in Wirklichkeit ist die Sache ganz
anders. Jeder Pilzkundige weiß nämlich, dass die Wirklichkeit des
Pilzes ausgeblendet worden ist, denn der Pilz liegt unter der Erde.
Auf den ersten Blick unsichtbar, aber für den Pilzkundigen
selbstverständlich, ist der Pilz das Myzel, das unter der Erde
liegt. Der Pilz bringt nur die individuellen Fruchtkörper sekundär
zu seiner Existenz nach oben.
Selbstwahrnehmung wird verändert
In diesem von mir angeführten Gleichnis ist also das Individuum
nichts anderes als eine Ausstülpung, eine Ausprägung eines Netzes
von Beziehungen, eines Myzels also, das nicht sofort sichtbar wird.
Wenn wir erkennen, dass wir nur wie ein Pilz sind, der unter der
Erde liegt, und wenn wir unsere Identität nicht einfach im
äußeren Fruchtkörper wahrnehmen, sondern eben im Myzel, dann
entwickeln wir sofort ein entspannteres Verhältnis zu uns selbst
und zu den anderen, dann spiegeln wir uns selbst anders in den
anderen und durch die anderen. Denn nach Buddha, dem Arzt, der in
psychotherapeutischer Art und Weise heilen will, bilden wir uns ein,
dieses individuelle Ich zu sein, also der Fruchtkörper. Dies aber
stimmt nicht, die Wirklichkeit ist anders. Wir können diese
Einbildung nicht durchhalten, weil die Verhältnisse anders sind.
Wir versuchen das aber, weil wir unsere Identität, unsere
Lebenskraft damit durchsetzen wollen. Wir können dieses Schein-Ich
nur etablieren, indem wir uns ständig Dinge, Ideen, Phänomene
einzuverleiben suchen. Dieses Einverleiben gibt dem Ich eine
Schein-Identität.
Erlösung ist die Befreiung von falscher
Wahrnehmung
Wir leben, um es mit Erich Fromm zu sagen, im Modus des Habens
und vermitteln den Eindruck, dass wir jemand sind, weil wir haben.
Auch diese Haltung zerbricht allerdings an der Wirklichkeit. Die
Gier des Ich kann nicht zum Ziel kommen und sich nicht durchsetzen,
weil so und so viele Lebewesen das gleiche Problem haben und sich
unserem Zugriff des Habens einfach entziehen. In dem Maße, indem
sie sich unserer Manipulation entziehen, reagieren wir mit Hass.
Begierde und Hass sind treibende Kräfte, die uns unglücklich
machen. Sie sind nur Kehrseiten ein und derselben Sache. Beide
wurzeln in einer epistemischen Fehlhaltung und erzeugen jene
Grundgifte, wie es im Buddhismus heißt, die zu überwinden sind. Um
von dieser Fessel eines Projektionsmechanismus, der uns bindet und
versklavt, befreit zu werden, muss die Wahrnehmung geändert werden.
Erlösung, Befreiung wäre dann jener buddhistische Begriff, der von
einer falschen Wahrnehmung bzw. einer inkorrekten Selbstwahrnehmung
erlöst, die zu allen anderen falschen Wahrnehmungen führt. Das
Wesentliche ist die Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst.
Jesus will unser Verhältnis zu Gott heilen
Jesus, soweit wir das in aller Kürze und unter sträflicher
Vernachlässigung der Differenzen in der griechischen Bibel sagen
können, will auch ein Verhältnis heilen. Aber nicht primär das
Selbstverhältnis - das stellt sich als sekundär heraus -, sondern
vor allem das Gottesverhältnis. Die hebräische und auch die
griechische Bibel sprechen von der Gebrochenheit des
Gottesverhältnisses, angefangen beim Sündenfall, in der
Urgeschichte um Kain und Abel, weiter bis zum Turmbau von Babel. Und
dies ist dann vor allem auch das Thema der Propheten. Immer besteht
das Problem im falschen Gottesverhältnis, d.h. im Ungehorsam, dem
Sich-Widersetzen des Menschen gegen Gott, der aus seiner
Abhängigkeit oder seiner engen Verbindung zu Gott auszubrechen
versucht. Jesus lehrt und lebt durch seine Sprache, durch sein Sein,
ein vollkommen kindhaftes Vertrauensverhältnis zu Gott, einen neuen
Bund mit Gott. Damit läutet er authentisch eine neue Zeit ein. Das
scheint in den Evangelien und im paulinischen Schrifttum dahinter zu
stehen, wenn Jesus - unterschiedlich konzipiert - als Heiler oder
Arzt verstanden wird.
Überlieferungen passieren mit Bildern und
Mythen
Die buddhistische Tradition und die christliche Tradition stellen
nun ihre Vorstellungen vom Heilen in einem jeweils ganz anderen
Sprachuniversum dar. Es muss erst einmal geklärt werden, dass sie
in unterschiedlichen Sprachbildern und Mythen angesiedelt sind. Man
darf das nicht übergehen, es sei denn, man will eine ganz abstrakte
Theologie oder Sprache erfinden, die gleichsam die Bilder, aus denen
die Menschen leben, hinter sich lässt zugunsten einer
Abstraktionsebene, auf der man die Unterschiede ausgeblendet hat und
dann miteinander artifiziell kommunizieren kann. Das mag mal
hilfreich, theologisch lehrreich, hochinteressant und auch sehr
wichtig sein, aber es hat wenig sozialpsychologische Wirkung, denn
die Menschen in den Religionen leben nicht in theologischen
Konstruktionen, sondern in Bildern, Erzählungen, historisierten
Mythen oder mystifisierten Historien. Gerade da finden sie ihre
Identität. Das muss man ernst nehmen. Man muss diese Bilder und
diese Sprachen selbst in Beziehung zueinander setzen.
Übersetzungen unterliegen zeitlichem Wandel
Auf diesem Hintergrund ist nun zu klären, was es heißt, wenn
Buddha derjenige ist, der ein Selbstverhältnis heilt, und was es
heißt, wenn Jesus ein Gottesverhältnis heilt oder eigentlich
wiederherstellt. Das ist nicht dasselbe! Es unterliegt in den
einzelnen Traditionen und noch mehr in der Übersetzungsarbeit der
einzelnen Traditionen zueinander dem Wandel der Zeit. Man muss sich
klar darüber werden, was man mit diesen Begriffen meint, um
tatsächlich das zu sagen, was zu sagen ist, und nicht bloß
Sprachmetaphern verwendet, die vielleicht gar nicht zu verstehen
sind. Umgekehrt muss man versuchen, den anderen in seiner
Sprachlichkeit wirklich ernst zu nehmen und vor allem ihn in seiner
Differenzierung zu sehen. Schon allein die Vorstellung, es könnte
das christliche Gottesbild mit dem buddhistischen Nicht-Gottesbild
verglichen werden, ist unredlich. Die internen Differenzen in einer
Religion sind so groß, dass deren Vernachlässigung den anderen in
seiner existentiellen Betroffenheit nicht ernst nehmen würde. Wir
würden nur eine Schablone austauschen oder verdünnte, abstrakte
Begrifflichkeiten einsetzen, die vielleicht in den Hörsaal
gehören, aber nicht in den interreligiösen Dialog, wo Menschen
einander begegnen und kommunizieren wollen - Menschen, die von
verschiedenen Metaphern, von Bildern, von Hoffnungen geprägt sind.
Intellektuelle Redlichkeit beim Verstehen
Intellektuelle Redlichkeit kommt im Verstehen zustande und wird
durch Verstehen bewirkt. Wie verhalten sich Redlichkeit und
Verstehen zueinander? Verstehen ist auf der einen Seite die
Voraussetzung für Redlichkeit. Es bedeutet, das, was der andere
mitteilen will, so aufzufassen, wie er es selbst tut. Wir sind sehr
schnell in der Gefahr zu sagen: Mein lieber Freund, dein Buddhismus
ist gar kein richtiger Buddhismus. Was ich dir sage als deutscher
Professor, das ist richtiger Buddhismus, so hat Buddhismus zu sein.
Wenn du das jetzt noch nicht so präsentierst, dann bitte lerne von
mir, was Buddhismus ist, erst dann bist du fähig, dich mit mir zu
verständigen. Diese Haltung mag im akademischen Diskurs ihren Platz
haben, sie führt aber nicht zum Dialog. Dialog soll den anderen -
und zwar auch in seiner Gruppe - so wahrnehmen, wie er oder sie sich
selbst vorstellt. Redlichkeit im Umgang ist an solches Verstehen
gebunden. Man könnte zum philosophischen Begriff des Verstehens
natürlich sehr viel mehr sagen. Die konkrete Situation ist die: Der
andere ist in seiner Komplexität ein Wesen, das sich durch Sprache,
Bilder, Hoffnungsvorstellungen, Religionssysteme in einer Art und
Weise ausdrückt, die nicht dem Standard entspricht, den wir in
Lehrbüchern von den Religionen vorgeführt bekommen.
Notwendigkeit verlässlicher Standards
Umgekehrt möchte ich auch sagen: Verstehen setzt diese
Redlichkeit voraus. Wir brauchen natürlich gewisse
Standardisierungen, wir brauchen konsistente Übersetzungen. Ich
könnte das ganze Thema allein an dem Begriff und an der
Schwierigkeit des Übersetzens deutlich machen. Wir glauben, ein
Begriff heißt so und nicht anders, und übersetzen ihn
dementsprechend, aber die Lexika sind großteils im 19. Jhdt.
entstanden und transportieren nicht die ewige Weisheit an sich,
sondern den Wissensstand und die Philosophie, Anthropologie,
Kosmologie und auch die politische Situation des 19. Jhdts. Auch
wenn wir die Lexika ständig verbessern, bleibt immer noch das
Defizit, dass wir in den Übersetzungen unsere metaphysische,
anthropologische, theologische Tradition mittransportieren. Wir
brauchen, um konsistent zu sein, um überhaupt ein Gespräch über
einen längeren Zeitraum hinweg zu führen, eine gewisse
Verlässlichkeit, also Standardisierungen, die wir allerdings immer
wieder in Frage stellen müssen.
Probleme bei durchgeführten Übersetzungen
Als das Christentum sich ausbreitete, verschmolz es mit
verschiedenen Kulturen. Schon die Übersetzung vom Griechischen ins
Lateinische ergab ein beachtliches Problem. Bis in die moderne
Theologie hängen viele Schwierigkeiten damit zusammen, dass man
nicht so glatt vom Griechischen ins Lateinische übersetzen kann.
Damals, vor 1800 Jahren, genauso wie heute. Es handelt sich aber
nicht nur um eine Übersetzung vereinzelter Texte, sondern um einen
breitgefächerten Kulturtransfer allerersten Ranges. Dasselbe
passierte auch, als der Buddhismus von Indien nach China kam. Da
ging es nicht um die Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische,
sondern vom Sanskrit ins Chinesische. Das sind Sprachen, die ebenso
verschieden sind wie das Deutsche und das Chinesische, zwei völlig
verschiedene Sprachfamilien. Die Übersetzungsleistung des
Buddhismus aus Indien nach China kommt fast einer Neuschöpfung des
Buddhismus gleich. (Der Buddhismus kam im 1. Jhdt., spätestens im
2. Jhdt. nach China.)
Marga - Zum Begriff des Pfades
Allein der Begriff marga ist bedeutungsvoll - marga oder Pfad
wird im Chinesischen mit Dao wiedergegeben. Es gibt aber sehr viele
Übersetzungen von Dao. Marga ins Chinesische mit nur einem Begriff
übersetzt, ist fast ein Unding. Auch ins Griechische übertragen
wäre nicht einfach "hodos" (Weg, Straße), sondern eher
logos das angemessene Wort. Viele chinesische Christen bleiben auch
dabei. Welche Schwierigkeiten aller Art das dann nach sich ziehen
kann, liegt auf der Hand. Wenn wir von Pfad sprechen, nehmen wir
einen deutschen Begriff. In der griechischen Bibel übersetzen wir
meistens nicht mit Pfad: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben." Da steht zwar hodos, aber gemeint ist der logos, der
ewige logos, der in die Welt gekommen ist (Joh 1). Es handelt sich
also um einen Weg, der zumindest das universale Prinzip des Seins in
sich verkörpert. Das ist im Buddhismus auch der Fall. Der Weg ist
nicht einfach eine Praxis, die ich nun einschlage oder auch nicht,
sondern der Weg ist eine Meditation, die mich vom Pathos des Alltags
loslöst, in die Tiefe und den Klang des Universums einstimmt. Das
ist eine buddhistische Metapher aus dem Avatamsaka-Sutra. Der Weg
ist nicht etwas Äußerliches, sondern ein innerer Erfahrungsweg,
ein Eintritt in tiefere Schichten des Bewusstseins. Der Weg dient
dazu, in den Strom des Lebens, in das Licht des Bewusstseins
einzutauchen.
Von der Bedeutung des Weges
Der Weg im Buddhismus ist aber auch der Nicht-Weg. Der Weg
besteht auch im Weggehen, im Wege-hinter-sich-Lassen. Mensch zu
werden bedeutet dann, Menschsein hinter sich zu lassen. Sein
bedeutet dann - ich apostrophiere Romano Guardini in seinem Buch
"Der Herr", wo er die Bemerkung über den Buddha fallen
lässt -, dass dieser das Unfassliche unternommen habe, das Sein aus
den Angeln zu heben. Ein völliges Sich-Loslassen, das ist der Pfad
der Befreiung für alle Menschen. Dies wiederum hat Konsequenzen
für das Selbstbild, für das Weltbild, für das Gottesbild. Es ist
kein Weg, der individualistisch gegangen wird.
Buddhismus hat nichts zu tun mit
Individualismus
Der Buddhismus als individualistische Selbsterlösung, als
Heilspfad des einzelnen für sich selbst, der sich von der Welt
zurückzieht, wäre völlig missverstanden. Das ist eine illegitime
Projektion des individualistischen bürgerlichen Selbstbildes der
Europäer des 19. Jhdts. auf Asien. Der Buddhismus ist vielmehr auch
eine weltgestaltende Religion gewesen und zwar bis heute, eine
hochpolitische Religion. Der Buddhismus hat mit dem sangha ja
versucht, eine ideale Gesellschaft zu schaffen - und das mit allen
politischen Konsequenzen, vor allem in Süd-, Zentral- und Ostasien.
Der Mensch wird im Buddhismus primär als soziales Wesen verstanden,
und das viel radikaler als in der Anthropologie des Christentums:
Der Mensch ist nur, was er ist, aus seinen Relationen, er existiert
(wie alles andere auch) nur in gegenseitiger Abhängigkeit (pratityasamutpada).
Das ist etwas ganz anderes als die Subjektivitätsphilosophie des
19. Jhdts.
Abhängigkeit zwischen einzelnen Phänomenen
Wenn ich konkrete Beispiele für den Pfad des Buddha und damit
für die Bedeutung der spirituellen Praxis geben darf, dann in
zweierlei Hinsicht: die Einübung des Nicht-Selbst (anatman) und die
Verbindung mit allen Wesen. Anatman oder dann im Mahayana-Buddhismus
sunyata, Leerheit, bedeutet nach Nagarjuna - dem großen
Philosophen, der in der Mahayana-Tradition des Buddhismus das
gewesen ist, was Thomas von Aquin für die Geschichte des
europäischen Christentums war - die Substanzlosigkeit der Dinge. Um
das zu erklären, identifiziert er die Leerheit (sunyata) mit dem
anderen wichtigen Begriff des Entstehens in gegenseitiger
Abhängigkeit (pratityasamutpada): Alle Phänomene in der Welt,
nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen, entstehen in
gegenseitiger Abhängigkeit. Ein ganz einfaches Beispiel: Nacht
entsteht in Abhängigkeit vom Begriff Tag. Der Begriff Mutter
entsteht in Abhängigkeit vom Begriff Kind oder auch Vater.
Begriffe bestehen nur im Kontext zu anderen
Die Begriffe als einzelne sind überhaupt nichts in sich selbst,
sondern nur in Korrelation zu anderen Begriffen. Unsere ganze
Grammatik funktioniert auf diese Art und Weise, und so auch die
Semantik. All unsere Wahrnehmung ist so, aber nicht nur unsere
Wahrnehmung, sondern die Wirklichkeit als solche. Das ist der Grund,
warum heute so viele Gespräche zwischen moderner Physik, also vor
allem Quantentheorie usw., und buddhistischen Wirklichkeitsmodellen
geführt werden. Wirklichkeit ist nicht Substanz oder eine
Pluralität von Substanzen, die mit einander in Beziehung treten,
sondern Wirklichkeit ist die Beziehung selbst, eine Struktur, ein
Netz von Beziehungen, die dann das entstehen lassen, was wir
vergängliche Substanzen nennen. Dies ist jene fundamentale Praxis,
die im Buddhismus auf sehr verschiedene Weise eingeübt wird:
intellektuell durch logische Systeme - Buddhismus hat überhaupt
nichts mit Gefühlsseligkeit oder Aufhören des Denkens zu tun,
sondern setzt eine strikte Logik voraus, die er seit Jahrhunderten
entwickelt hat.
Wahrnehmung kann über Buddha erfolgen
Eine andere Wahrnehmung ist die über den Kult, über die
Verehrung des Buddha in seinen verschiedenen Formen. Der eine Buddha
manifestiert sich in jedem Sandkorn. Dies zu verehren, nachzuahmen,
ästhetisch, kultisch nachzuvollziehen, ist ein wesentlicher Aspekt
des Pfades des Buddha. Dies wird nun durch eine unmittelbare
geistige Erfahrung wahrgenommen, die wir Meditation oder Versenkung
nennen. Indem das Bewusstsein äußere Objekte aufgibt, indem es
dann über die Atemkontrolle mit sich selbst in Kontakt kommt, sich
selbst spiegelt, erkennt es diese Netzstruktur seiner selbst, die
Nicht-Dualität aller Phänomene in der Welt. Das ist das, ganz
knapp gesagt, worum es in buddhistischer Meditation geht. Dies
wiederum geschieht durch Achtsamkeit auf das individuelle,
singuläre Phänomen. Die ganze buddhistische Meditation ist
Achtsamkeitsmeditation, das heißt die spirituelle Praxis ist Übung
der Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist Vorraussetzung für spirituelle
Praxis
Zur Frage nach der spirituellen Praxis und der Redlichkeit im
Dialog möchte ich antworten, dass die Achtsamkeit Voraussetzung
für alles weitere ist. Achtsamkeit bedeutet, dass ich mich selbst
wahrnehme, dass ich meine eigenen Denkstrukturen, meine eigenen
Gefühlsstrukturen, meine eigene Art und Weise, wie ich jetzt hier
in diesem Augenblick bin, gegenüber anderen und mit anderen,
wahrnehme und damit bzw. dadurch erst den anderen wahrnehmen kann.
Wenn ich die Qualität des Spiegels erkenne, kann ich auch das
Gespiegelte in klarerer Form wahrnehmen. Wenn ich nur mich selbst
sehe, meine eigenen Denkformen, dann kann ich nicht in den Dialog
eintreten. Der redliche Diskurs ist die genaue Selbstwahrnehmung,
die Erkenntnis der Projektionen, die ich habe, die ich vermeiden
will, aber doch immer wieder habe und auch die der anderen dazu, der
redliche Diskurs also, so scheint mir, ist an die spirituelle
Praxis, Erfahrung und Übung der Achtsamkeit gebunden. Nur so wird
echtes Verstehen möglich und tatsächlich eingeübt.
Unachtsamkeit ist auch Grund für mangelndes
Verstehen
Ein wesentlicher Teil unseres Nicht-Verstehens des anderen, aber
auch unser selbst, das Misslingen von Dialogen aller Art, nicht nur
zwischen den Religionen, sondern auch zwischen Menschen in ein und
derselben Sprachwelt, Kultur und Religion, ist mangelnde
Achtsamkeit. Nicht erst die Deutungen, sondern schon die
Wahrnehmungen sind immer auch Projektionen. Aber es ist ein
Unterschied, ob ich naiv meine, meine Wahrnehmung spiegele die Welt,
wie sie ist, und dann versuche, diese Wahrnehmung mir und anderen
als "Wahrheit" aufzuoktroyieren, oder ob ich weiß, dass
meine Wahrnehmung auch immer Projektion ist, in der ich aber nicht
unweigerlich gefangen bleiben muss, sondern die ich auflösen kann,
indem ich sie relativiere. Im Dialog ist die Chance gegeben, dass
Selbstwahrnehmungen und Fremdwahrnehmungen einander spiegeln. Ich
lerne ja im Dialogpartner nicht nur das andere oder die andere
Religion kennen, sondern ich lerne einen Spiegel kennen, der mich
selbst spiegelt. Das gilt wechselseitig, wie das Sprichwort sagt:
"Was Peter über Paul sagt, sagt genauso viel über Peter wie
über Paul aus."
Analyse der Wahrnehmung führt zu neuen
Erkenntnissen
Meine Aussagen z.B. über den Buddhismus sagen nicht nur etwas
über die andere Religion aus, sondern sie sagen genauso viel über
mich, das heißt über meine Wahrnehmung des Buddhismus. Man kann
historisch sehr eindrücklich zeigen, wie solche früheren
Wahrnehmungen, die wir Heutigen meistens als Fehlwahrnehmungen
diagnostizieren, zustande gekommen sind. Wie auch immer, wir
jedenfalls meinen, dass nun endlich wir diejenigen seien, die die
andere Religion endlich "richtig" wahrnehmen, nicht nur
weil wir ein methodenkritisches Bewusstsein entwickelt haben,
sondern weil wir auch die Geschichte der früheren Wahrnehmungen zu
analysieren in der Lage sind. Wir seien nun die ersten, die mit
einem hermeneutischen Bewusstsein und klarer Textkritik an den
Buddhismus herantreten. Das ist zwar so nicht ganz richtig, aber
dennoch ist die selbst-kritische und methodenbewusste Relativierung
des Verstehensprozesses, die Entwicklung einer historischen
Hermeneutik also, ein Gewinn. Wir können aber gewiss sein, dass in
50 oder 100 Jahren unsere Enkel oder Urenkel unsere Arbeiten ebenso
kritisch relativieren werden. Das muss uns nicht traurig stimmen,
denn wir sind nicht einfach Glied in einer Kette von Interpreten des
Vergangenen, sondern wir sind Glieder in einer lebendigen
Tradierungsgeschichte, in einer lebendigen Wirkungsgeschichte von
alten Bildern und Ereignissen und Sprachgestalten, die wir in den
Religionen verkörpert finden, die einander begegnen und in dieser
Begegnung mit Achtsamkeit durch spirituelle Praxis überhaupt erst
Kontur gewinnen. Wir vermögen dann in Redlichkeit die Religionen
nicht nur wahrzunehmen, sondern neu zu gestalten. Einfacher gesagt:
Interreligiöser Dialog ist nicht nur ein Dialog über verschiedene
Religionen, sondern in aller selbstbescheidenen Redlichkeit auch ein
Stück Neuschöpfung, Aktualisierung von Religion überhaupt.
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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