News 05. 02. 2010

Missbrauchsskandal: Debatte um Entschädigung

Im Skandal um sexuellen Missbrauch an katholischen Jesuiten-Schulen in Deutschland sehen Experten kaum Chancen für Entschädigungen. Wie bei der strafrechtlichen seien auch bei der zivilrechtlichen Aufarbeitung Verjährungsfristen zu berücksichtigen, gaben sie am Freitag zu bedenken. Zugleich meldeten sich weitere Opfer.

Inzwischen sind Fälle von allen drei deutschen Jesuiten-Gymnasien - dem Berliner Canisius-Kolleg, dem Kolleg St. Blasien im Schwarzwald und dem Bonner Aloisiuskolleg - bekannt. Mehrere Beauftragte der katholischen Kirche für Missbrauchsfälle befürchten unterdessen, dass es weitere Opfer gibt, weil früher viel vertuscht worden sei. Erste Missbrauchsfälle aus den 70er und 80er Jahren waren am 28. Jänner in Berlin öffentlich geworden. Dann kamen weitere Taten von drei Jesuiten-Patern in Hamburg, Hildesheim, Göttingen, Hannover, im Schwarzwald und in Bonn ans Licht. Die Zahl der Opfer liegt bei mindestens 30.

Staatsanwaltschaft: Fälle sind verjährt

Ein Berliner Schadenersatz-Experte wies darauf hin, dass nicht nur bei Strafverfahren, sondern auch bei zivilrechtlichen Klagen Verjährungsfristen greifen. Die Opfer hätten bis spätestens drei Jahre nach ihrer Volljährigkeit aktiv werden müssen, sagte der Jurist und Opfer-Anwalt Roland Weber der "Berliner Morgenpost". Sonst sei in diesen Fällen der Anspruch auf Entschädigung hinfällig. Zwei Berliner Rechtsanwälte prüfen derzeit im Auftrag mehrerer Opfer Zivilklagen gegen das katholische Canisius-Gymnasium und den Jesuiten-Orden. Nach Einschätzung der Berliner Staatsanwaltschaft sind die meisten bisher bekannten Fälle strafrechtlich verjährt. Die Vorermittlungen zu den Taten in den 70er und Anfang der 80er Jahre liefen zwar noch bis nächste Woche, sagte ein Justizsprecher, aber die Verjährungsfrist für diese Form sexuellen Missbrauchs betrage zehn Jahre ab dem 18. Geburtstag des Opfers und sei abgelaufen.

Opfer: "Jetzt wird die Verlogenheit endlich aufgedeckt"

In der "Bild"-Zeitung berichtete ein früherer Schüler des Bonner Aloisiuskollegs von sexuellem Missbrauch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Der Täter habe sich später nach Vermittlung des Ordens entschuldigt. In der "Süddeutschen Zeitung" sprach ein anderes Opfer vom gleichen Gymnasium über "Genugtuung" angesichts der jetzt aufgeflammten Diskussion: "Jetzt wird die Verlogenheit der katholischen Kirche endlich aufgedeckt."Das Bistum Hildesheim bestätigte einen weiteren Fall, über den die "Neue Presse" berichtet hatte. Eine damals bereits volljährige Frau sei in den 90er Jahren von einem Pater belästigt worden, gegen den bereits Vorwürfe vorlagen und der von 1982 bis 2003, mit kurzen Unterbrechungen, im Bistum tätig gewesen war.

Kirche rechnet mit weiteren Missbrauchsfällen 

Das Erzbistum Berlin kündigte an, eine ständige Kommission einzurichten, die sich um entsprechende Fälle kümmert. Die deutsche Bischofskonferenz will das Thema bei ihrem Treffen vom 22. bis zum 25. Februar in Freiburg diskutieren. An diesem Wochenende soll in sämtlichen Kirchen des Bistums Hildesheim ein Brief verlesen werden, in dem potenzielle Opfer aufgerufen werden, sich zu melden. Die Kirchen-Beauftragten für sexuellen Missbrauch von Berlin und Dresden-Meißen befürchteten, dass in Zukunft noch viele Missbrauchsfälle auftauchen könnten. Die katholische Kirche habe das Thema Pädophilie zu lange tabuisiert, sagte Prälat Armin Bernhard aus Dresden der dpa. "Früher hat man den Fehler gemacht, dass man diejenigen versetzt hat. Dann kann es immer weitergehen." Der Berliner Stefan Dybowski räumte in der "Berliner Zeitung" ein: "Es ging vermutlich darum, dass Ansehen der Kirche irgendwie zu wahren."

"Mit den Juden ist es so losgegangen" - Von Gemmingen zieht NS-Vergleich

Im Missbrauchsskandal an Jesuiten-Schulen hat Pater Eberhard von Gemmingen mit einem Verweis auf die Judenverfolgung vor einem Generalverdacht gegen seinen Orden gewarnt. Der frühere Leiter der deutschsprachigen Redaktion von "Radio Vatikan" sagte in einem Interview mit der "Heilbronner Stimme" (Samstag): "Es ist fatal, nun den ganzen Orden schlecht zu machen. Ich muss einen Vergleich ziehen: Mit den Juden ist es so losgegangen, dass vielleicht der ein oder andere Jude Unrecht getan hat. Dann aber hat man schlimmerweise alle angeklagt und ausrotten wollen. Man darf nicht von einzelnen Missetaten ausgehen und eine ganze Gruppe verurteilen. Und die Gefahr, dass das passiert, ist groß."

NS-Vergleich später zurückgezogen

Von Gemmingen zog den Vergleich mit der Judenverfolgung am Freitagabend zurück. Der Jesuit hatte das Interview mit der "Heilbronner Stimme" schriftlich autorisiert, die entsprechende Passage nach deren Bekanntwerden jedoch wieder streichen lassen. Die Zeitung hatte das komplette Interview aber bereits im Internet veröffentlicht. Er wolle den Vergleich der Jesuiten mit den Juden zurückziehen, weil dieser unzutreffend sei, erklärte Von Gemmingen dem Blatt am Freitagabend.

"Ich stehe zu ihm"

Der 73 Jahre alte von Gemmingen nahm in dem Interview mit der "Heilbronner Stimme" zugleich einen der Patres in Schutz, die sexuellen Missbrauch begangen haben sollen. "Ich stehe zu ihm. Der hat gesündigt, wenn ich das so sagen darf. Leider laufen in Deutschland noch viele andere Sünder rum, auf die niemand mit dem Finger zeigt", sagte von Gemmingen. Es sei aber gut, dass die Fälle aufgedeckt werden. Von Gemmingen war selbst Schüler und Präfekt am Jesuiten-Kolleg in Sankt Blasien im Schwarzwald, in dem es auch Opfer gab.

"Früher haben alle weggeschaut"

Früher hat man nach Angaben von Gemmingens nur versucht, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, heute gehe man vom Leid der Opfer aus und dürfe Missbrauch von Jugendlichen nicht tolerieren. "Heute darf man ja auch Frauen und Kinder gottlob nicht mehr schlagen. Also man darf nicht nur den Jesuiten vorwerfen, sie hätten früher weggeschaut. Früher haben alle weggeschaut. Man hat das toleriert, schweigend. Ich fürchte, dass noch viele Missbrauchsfälle in kirchlichen und bürgerlichen Schulen auftauchen, wenn es Ankläger gibt."

 

 

 

 

 

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Link:

- Private Internetseite für Betroffene mit Petition

 

 
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