News 05. 03. 2010

"Kultur des Wegschauens" - Erschütternde Details im deutschen Missbrauchsskandal

Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland nimmt immer größere Dimensionen an. In der Schule und dem Internat des bayerischen Klosters Ettal sind laut einem internen Untersuchungsbericht Kinder jahrelang körperlicher Züchtigung und sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Im Skandal um sexuellen Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen gibt es einen konkreten Verdacht gegen zwei frühere leitende Geistliche des Knabenchors.

Im Kloster Ettal richten sich die Vorwürfe gegen mindestens 10 Patres, man müsse von rund 100 Opfern ausgehen, sagte der von der Benediktiner-Abtei eingesetzte Sonderermittler Thomas Pfister am Freitag. Unabhängig von den internen Untersuchungen laufen strafrechtliche Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft. Im aktuellen Fall geht es um einen suspendierten Ettaler Pater, der Fotos von halbnackten Klosterschülern auf Homosexuellen-Seiten im Internet veröffentlicht haben soll. Der Pater habe die Fotos der Jungen mit freiem Oberkörper bei Bergwanderungen gemacht.

Kultur des Wegschauens

Die Ettaler Vorgänge in vergangenen Jahrzehnten seien verjährt, sagte Sonderermittler Pfister. Wenn sie aber von weltlichen Gerichten verhandelt worden wären, hätten sie wahrscheinlich zu jahrelangen Haftstrafen geführt. Eine systematische Kultur des Wegschauens und Verschweigens im Kloster sowie eine falsch verstandene Solidarität habe den Tätern ihr Treiben erleichtert. Es habe sich bei den Vorfällen um Verfehlungen Einzelner gehandelt, man dürfe sich die Benediktiner-Abtei deshalb nicht als Gemeinschaft prügelnder und missbrauchender Klosterbrüder vorstellen, sagte der Sonderermittler. Vor allem müsse man scharf zwischen dem Kloster von gestern und dem von heute unterscheiden.

Angeblich auch ein Pater unter den Opfern

Pfister machte deutlich, dass die katholische Kirche in Bayern die Vorwürfe zu Missbrauchsfällen schonungslos aufklären will. Er selbst sei bei seinen Untersuchungen keinerlei Beschränkungen unterworfen. Pfister ist Strafverteidiger in München und wurde von der Ettaler Abtei mit der Prüfung der Vorwürfe gegen mehrere Mönche beauftragt. Er zitierte aus mehreren Schreiben, in denen frühere Schüler von ihren traumatisierenden Erfahrungen berichteten. Möglicherweise wurde auch ein Pater missbraucht. Er sei mit einem früheren Ettaler Pater im Gespräch, der sich an ihn gewandt habe, berichtete Pfister.

Ex-Domspatz: Prügel noch und noch

"Schwere körperliche Misshandlungen, schwere seelische Misshandlungen, sexuelle Übergriffe" - das alles hat es nach Auskunft eines ehemaligen Schülers Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre bei den Regensburger Domspatzen gegeben. Besonders brutal soll der Leiter der früheren Domspatzen-Vorschule in Etterzhausen bei Regensburg zugeschlagen haben, sagte ein Ex-Domspatz, der namentlich nicht genannt werden will, der dpa. "Der Direktor dort war ein ausgewiesener Sadist, der geprügelt hat noch und noch", berichtete der heutige Arzt. Manche Kinder hätten vor Angst in die Hose gemacht. "Das hatte zur Folge, dass noch stärkere Prügelstrafen erfolgten."

Bistum: Nicht ausgeschlossen, dass es weitere Täter gibt

Im Skandal um sexuellen Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen geht es um zwei frühere leitende Geistliche des Knabenchors. Der eine, ein ehemaliger Religionslehrer und stellvertretender Institutsleiter, wurde 1958 aus dem Dienst am Domspatzen-Gymnasium entfernt. Der andere Geistliche war wenige Monate auch Internatsleiter, er soll 1971 verurteilt worden sein. Die beiden Männer starben 1984, berichtete der Sprecher des Bistums Regensburg, Clemens Neck. Aktuelle Fälle lägen der Diözese Regensburg nicht vor, hieß es. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass es weitere Täter gebe und diese noch im Dienst seien.

Fälle waren "im Prinzip bekannt"

Die Regensburger Diözesan-Beauftragte für sexuellen Missbrauch, Birgit Böhm, bat alle Betroffenen, sich zu melden. Neck berichtete über Jahrzehnte zurückliegende Fälle, "die im Prinzip bekannt waren" und zu Verurteilungen geführt hätten, allerdings fehlten dem Bistum Details. Neben den sexuellen Missbrauchsfällen gibt es Hinweise auf schwerste körperliche Misshandlungen in der früheren Domspatzen-Vorschule in Etterzhausen nahe Regensburg und im Weidener Studienseminar. Das Bistum will einen Rechtsanwalt mit der Aufklärung der Vorwürfe beauftragen. In zwei Wochen will das Ordinariat einen Zwischenbericht vorstellen.

Georg Ratzinger: "Keine Kenntnis" über Missbrauch

Der frühere Leiter der Regensburger Domspatzen, Georg Ratzinger (86), hat nach eigenen Angaben keine Kenntnis über Missbrauchsfälle bei dem weltberühmten Knabenchor. Das sagte der Bruder von Papst Benedikt XVI. am Freitag dem Bayerischen Rundfunk in Regensburg. Georg Ratzinger wollte zum Thema Missbrauch nicht weiter Stellung beziehen und verwies auf die zuständige Diözese Regensburg. Georg Ratzinger hatte von 1964 bis 1994 die Domspatzen geleitet.

Vatikan nimmt Missbrauchsskandal "sehr ernst"

Der Vatikan nimmt den Skandal um die Missbrauchsfälle in deutschen katholischen Einrichtungen "sehr ernst". Das hat der stellvertretende Vatikan-Sprecher Ciro Benedettini in Rom versichert. Zu dem möglichen Kindesmissbrauch bei den Regensburger Domspatzen sagte Benedettini, der Vatikan wolle in diesen Fall nicht direkt eingreifen. Er machte nicht klar, ob der Vatikan der Bitte des Benediktinerklosters Ettal um eine Apostolische Visitation - eine Untersuchung durch einen päpstlichen Sonderbeauftragten - wegen der Missbrauchsfälle dort nachkommen werde oder nicht. Benedikt XVI. erhält am 12. März vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, einen Bericht über die Welle von Missbrauchsfällen.

Missbrauchsverdachtsfälle auch in Hessen

Auch im Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Hessen kommen immer mehr Details ans Tageslicht. Bei der Staatsanwaltschaft Hanau ging eine anonyme Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs ein. Eine Person habe darin gemeldet, von einem Priester aus Hanau vor einigen Jahren in Wetter bei Marburg missbraucht worden zu sein, sagte der Sprecher Staatsanwaltschaft Hanau, Wolfgang Popp, auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur dpa. "Der Priester ist, soweit ich weiß, nicht mehr im Dienst", sagte Popp. Der Priester stand zum genannten Tatzeitpunkt in Diensten des Bistums Fulda. Die Limburger Staatsanwaltschaft hat unterdessen die Ermittlungen gegen zwei des Missbrauchs verdächtige Priester des Bistums Limburg nach Frankfurt und Koblenz abgegeben. Der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst hatte am Donnerstag erklärt, ein Priester sei Mitte Februar suspendiert worden. Er soll in den vergangenen 15 bis 20 Jahren mehrfach Kinder missbraucht haben. Der zweite Beschuldigte habe bereits 2007 den Gemeindedienst quittieren müssen. Außerdem geht es im Bistum Limburg um drei Missbrauchs-Fälle bereits verstorbener Priester, die ihre Taten in den 1940er und 1960er Jahren begangen haben sollen.

 

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