News 10. 02. 2010

Sexualmediziner: Kirche muss offener über Sexualität reden 

Um Kinder vor Missbrauch zu schützen, sollte die katholische Kirche nach Meinung des Berliner Sexualmediziners Prof. Klaus Beier mit ihren Geistlichen offener über Sexualität und mögliche persönliche Probleme damit sprechen.

"Am besten wäre es, damit schon im Priesterseminar zu beginnen", sagte Beier. In der katholischen Kirche werde über die Bandbreite von Sexualität noch nicht vorurteils- und wertfrei diskutiert. Oft werde das Thema gar nicht berührt. Beier leitet an der Berliner Charité das bundesweit einmalige Präventionsprojekt gegen Kindesmissbrauch und die Nutzung von Kinderpornografie. Als Gutachter hat er auch mit pädophilen Geistlichen zu tun.

Professionelle Hilfe

Die katholische Kirche brauche professionelle Helfer, die in der Lage seien, bei pädophilen Neigungen ihrer Amtsträger so früh wie möglich Diagnostik und Therapie zu leisten, sagte Beier. Zuvor müsse die Kirche aber an ihrem Menschenbild arbeiten. "Ein Mensch ist durch eine pädophile Neigung kein schlechter Mensch", sagte der Sexualmediziner. "Er kann aber ein schlechter Mensch werden, wenn er nicht lernt, sein Verhalten zu steuern." Heute sei Hilfe möglich, damit pädophile Männer nicht zur Gefahr für Kinder werden. Es gebe spezielle psychotherapeutische Maßnahmen und impulsdämpfende Medikamente, sagte Beier. Auch Verantwortungsbewusstsein der Betroffenen und ihre Einsicht, beruflich nicht mit Kindern zu arbeiten, dienten diesem Ziel.

Das ganze Interview im Wortlaut

Tut die katholische Kirche Ihrer Meinung nach genug, um dem Kindesmissbrauch durch Geistliche entgegenzuwirken?

 

Beier: Eine richtige Präventionsarbeit gibt es in der katholischen Kirche nicht. Ich sehe bisher nur eine nachsorgende Kosmetik, keine radikale Vorsorge. Das hat viel mit dem Menschenbild der katholischen Kirche zu tun. Danach sieht Gottes Schöpfung erwachsene Männer und Frauen vor, die sich sexuell zueinander hingezogen fühlen, um Kinder zu zeugen. Alles andere ist wie eine Art Störfall bei einem verirrten Schaf. Menschliche Sexualität spielt sich aber in einem viel breiteren Erlebnisspektrum ab. An den Rändern gibt es nicht nur Pädophilie, da gibt es auch Sadismus oder Masochismus. Für mich sind diese Ränder auch Ausdruck der Schöpfung. Niemand hat das Recht, solche Neigungen zu verurteilen. Jeder hat aber das Recht, Menschen zu verurteilen, die mit ihrer Neigung nicht verantwortlich umgehen.

 

Fühlen sich junge Männer mit gesellschaftlich geächteten sexuellen Neigungen besonders zur katholischen Kirche hingezogen?

 

Beier: Ja. Sexuelle Neigungen prägen sich in der Jugend aus. Doch was mache ich, wenn ich mich als junger Mann nicht zu Mädchen hingezogen fühle, sondern zu Kindern? Ich ahne dann, dass ich in dieser Gesellschaft nur Ablehnung erfahren werde. Im Leben geht es aber immer um Akzeptanz, um das Gefühl, angenommen zu werden. Das alles erhöht die Motivation, sich in ein System zu begeben, das von einem Menschen verlangt, die Sexualität hinter sich zu lassen. Dann gibt es keine Fragen mehr wie: Warum hast du keine Freundin? Warum heiratest du nicht? Im Gegenteil, die Angst vor Ablehnung verwandelt sich in Anerkennung für diesen Schritt. Priester haben einen hohen gesellschaftlichen Stand.

 

Kommen Männer mit pädophilen Neigungen denn damit aus ihrem Dilemma heraus?

 

Beier: Nein, eben nicht, weil sie mit ihrer Neigung von der Kirche alleingelassen werden. Vielfach glauben sie, dass sie ihre sexuelle Präferenz für den kindlichen Körper durch Willenskraft und den Geist des Evangeliums in den Griff bekommen und sich ihr Problem durch den Glauben verflüchtigt. Genau das geht aber nicht. Das kann kein Mensch leisten. Die Fantasien werden wieder kommen und Geistliche werden erneut den Eindruck haben, sie seien voller Sünde und böse Menschen. Und dann versuchen sie, weiter dagegen anzukämpfen. Auf diesem Weg gibt es kein Entrinnen, denn das kann niemand für sich auflösen.

 

Was hilft denn?

 

Beier: Ein Pädophiler muss seine Neigung anerkennen. Er sollte sich sagen: Das werde ich nicht mehr los, so bin ich eben, was heißt das jetzt für mein Leben. Und wo liegen Gefahrensituationen für andere, die ich unbedingt meiden muss? Ich bin sicher, dass es eine Reihe von verantwortungsvollen Priestern gibt, die das mit voller Kontrolle hinbekommen. Sie werden dann ganz bewusst nie eine Kindergruppe leiten, sondern sich davon fernhalten. Ein Geistlicher, der diese Schlussfolgerung für sich nicht zieht, ist wie ein Blinder, der glaubt, dass er sehen kann. Er täuscht sich über die Risiken. Ist doch klar, dass der irgendwann fallen wird.

 

Führt auch der Zölibat durch die Unterdrückung von Sexualität zu Übergriffen auf Kinder?

 

Beier: Der Zölibat allein befördert keine Übergriffe. Von einem Priester, der sich für erwachsene Frauen interessiert, sind keine Übergriffe auf Kinder zu erwarten. Er wird weiter an Frauen denken und durch das erwachsene weibliche Körperschema sexuell erregt. Aber er hat sich eben entschieden, sein Leben ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Das Gleiche gilt für homosexuelle Geistliche, nur dass sie bei der Selbstbefriedigung an erwachsene Männer denken. Gefahr geht von denjenigen aus, die eine sexuelle Ansprechbarkeit für Kinder haben und durch das kindliche Körperschema sexuell erregt werden.

 

Müsste es dann nicht auch Gespräche mit angehenden Kindergärtnern und Grundschullehren über ihre sexuelle Orientierung geben?

 

Beier: Auf freiwilliger Basis fände ich das gut. Ich würde einem jungen Mann mit pädophilen Neigungen dringend davon abraten, Grundschullehrer zu werden. Ich würde ihm aber nicht abraten, Pädagoge zu werden, um Erwachsene zu unterrichten.

 

Muss sich die Gesellschaft ändern, um Kindesmissbrauch einzudämmen?

 

Beier: Pädophilie ist für mich wie eine chronische Krankheit, oft mit einem hohen Leidensdruck. Ich würde mir wünschen, dass damit umgegangen wird wie mit Diabetes: Dass ein junger Mann mit seinem Hausarzt darüber sprechen kann und an einen Spezialisten verwiesen wird, ehe er Übergriffe begeht. Es wird aber auch dann immer noch Menschen geben, die wir nicht erreichen können - und die dann Kinder missbrauchen. Sie müssen mit allen Mitteln des Strafrechts an sexuellem Missbrauch von Kindern oder der Nutzung von Kinderpornografie gehindert werden.

 

Interview: Ulrike von Leszczynski, dpa

 

 

Link:

- Private Internetseite für Betroffene mit Petition

 

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