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"Unheil oder Segen?" – Das Kalachakra-Ritual in Graz

Das Kalachakra-Ritual, das im Oktober in Graz stattfinden wird, und bei dem ein großes Sandmandala gestreut werden wird, basiert auf einem alten buddhistischen Text, dem Kalachakra-Tantra. Von Ursula Baatz.

Im Westen verbindet man Tantra irrigerweise mit ausgeklügelten sexuellen Praktiken. Das Sanskrit-Wort tantra bedeutet "Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum" und bezeichnet eine bestimmte Gattung von Schriften, die für den sogenannten "Tantrismus" typisch sind. Dies ist eine Form der Yoga-Praxis, die in Indien um das 4./5.Jhdt.u.Z. entstanden ist, und zwar sowohl im Buddhismus wie im Hinduismus. Tantrische Meditationswege stehen allen offen - Frauen, Männern, ordinierten Mönchen und Nonnen genauso wie Laien; sie beziehen alle Ebenen des menschlichen Daseins in die spirituelle Praxis mit ein, und sie verlangen große spirituelle Disziplin.

Verständnis nur für Eingeweihte

Die tantrischen Texte sind vielfach so abgefasst, dass nur Eingeweihte sie verstehen können. Im Buddhismus gibt es daher viele Abhandlungen über das richtige Verstehen der Tantras. Manchmal sind diese Texte auf den ersten Blick schockierend - wenn es z.B. heißt, man solle stehlen oder lügen oder töten. Doch das ist symbolisch zu verstehen; ähnlich wie die Aufforderung des katholischen Priesters bei der Eucharistiefeier: Nehmt und esst, das ist mein Leib! Nehmt und trinkt, das ist mein Blut!". Weder sind Katholiken Menschenfresser noch der tantrische Buddhismus eine Religion der Diebe oder Mörder.

Gier, Hass und Verblendung überwinden

Nach tibetischer Auffassung sind Körper, Rede und Geist die Aspekte, in denen es gilt, durch fortgesetzte Übung Gier, Hass und Verblendung zu überwinden, um zum befreienden Erwachen zu kommen, dem "Heilsziel" des Buddhismus. Emotionen spielen dabei eine wichtige Rolle. Die manchmal erotisch wirkenden, manchmal furchterregenden Bilder tantrischer Gottheiten sind Symbole für Geisteszustände auf dem Weg zum befreienden Erwachen.

Tantra für "Fortgeschrittene"

Man unterscheidet je nach Fähigkeit der Übenden und Wirksamkeit der Meditationspraktiken vier verschiedenen Tantra-Klassen. Das Kalachakra-Tantra mit seinen 722 Gottheiten gehört zur höchsten Tantra-Klasse. Das Kalachakra-Ritual ist für jene, die das wollen, eine Initiation in die Übung dieses komplexen tantrischen Weges. Die unerlässliche Voraussetzung dafür ist ethisch einwandfreies Verhalten und der dringende Wunsch, allen Wesen zu helfen.

Kalachakra: "Rad der Zeit"

Kalachakra bedeutet wörtlich: Rad der Zeit. Es ist ein tantrischer Text des tibetischen Buddhismus und wahrscheinlich im 10. Jahrhundert in Kaschmir entstanden. Die Auseinandersetzungen zwischen islamischen Splittergruppen, die es damals in Kaschmir gab, und Mahmud von Ghazni, der ab 1002 Nordindien eroberte und der erste muslimische Herrscher Indiens wurde, bilden den Hintergrund dieses Textes. Aus diesem Umfeld kommen apokalyptische, gnostische und neuplatonische Elemente, und auch der oft kriegerische Ton des Kalachakra-Tantra. Deswegen dem Kalachakra- Ritual zu unterstellen, dass es auf Krieg abzielt, ist ein grobes Missverständnis.

Kalachakra-Tantra ist Grundlage für komplexe Meditationspraxis

Der Überlieferung nach soll der Text aus dem südindischen Königreich Shambala stammen. Astronomie und Zeitrechnung, aber auch das Menschenbild der tibetischen Medizin und Psychologie spielen eine wichtige Rolle in diesem Text. Der Text des Kalachakra-Tantra dient als Grundlage einer sehr komplexen Meditationspraxis, für die man eine rituelle Initiation braucht. Das Ziel ist wie bei allen buddhistischen Praktiken das befreiende Erwachen aus Gier, Hass und Verblendung.

Mandala aus buntem Sand gestreut

Das Kalachakra-Mandala, das eine zweidimensionale Darstellung des Palastes der Gottheit Kalachakra darstellt, dient dem Ritual als Grundlage. Das Mandala wird für diesen Zweck entweder aus buntem Sand gestreut oder als Bild dargestellt; oder es kann auch - aber nur bei in der Meditationspraxis sehr weit Fortgeschrittenen - als mentales Bild vorgestellt werden. An dem Kalachakra-Ritual können alle, die es wünschen, teilnehmen, auch wenn sie keine Einweihung in die Praxis des Kalachakra wollen, da die Teilnahme an dem Ritual als segensbringend gilt.

Dalai Lama führte 1956 das erste Kalachakra-Ritual durch

Um das Kalachakra-Ritual durchführen zu können, bei dem man andere in die Praxis des Kalachakra-Tantra initiiert, muss man selbst eine Ermächtigung dafür haben; man muss dazu aber nicht Mönch sein. Im Westen ist das Kalachakra-Ritual durch den 14. Dalai Lama bekannt geworden. Er ist 1953 von seinem Lehrer Ling Rinpoche in das Kalachakra-Tantra initiiert worden und hat 1956 - Tibet war bereits von den Chinesen besetzt - in Lhasa das erste Mal ein Einweihungsritual durchgeführt, als Beitrag für den Weltfrieden, wie es bereits damals hieß. Nach seiner Flucht 1959 hat der Dalai Lama das Kalachakra-Ritual immer wieder an verschiedenen Orten - sowohl in Asien als auch in Europa und in den USA durchgeführt. Bei den einführenden Erklärungen legt er größten Wert auf die Übung von Weisheit und Mitgefühl als Weg zum inneren und äußeren Frieden.

 

Begriffsklärungen:

- Kalachakra

- Dalai Lama

- Shambala

- Tibetischer Buddhismus

- Apokalypse, Gnosis und Neuplatonismus

- Initiation

 

Sonderseite:

Das Kalachakra in Graz

 

 

Lexikon:

Buddhismus

 

Extra:

Kommentierte Literaturliste zum Kalachakra

 

 

 
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