News 16. 02. 2010

Bischof: Kindesmissbrauch auch eine Folge der sexuellen Revolution

Der sexuelle Kindesmissbrauch an katholischen Einrichtungen ist nach Ansicht des Augsburger Bischofs Walter Mixa auch eine Folge der zunehmenden Sexualisierung der Öffentlichkeit. Einen Zusammenhang zwischen den Übergriffen und dem Pflichtzölibat sieht Mixa nicht. Der deutsche Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann macht hingegen die kirchlichen Strukturen für den jüngsten Missbrauchsskandal mitverantwortlich. Der "kardinale Fehler der katholischen Kirche" besteht nach Ansicht Drewermanns darin, "ihre Kleriker zu nötigen, zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen alternativisch zu wählen".

Sexueller Missbrauch von Kindern sei ein verbreitetes gesellschaftliches Übel, das auch in Familien, Schulen oder Sportvereinen auftrete, so Bischof Mixa in einem Interview mit der "Augsburger Allgemeinen" (Dienstag). Daran sei, so Mixa, "die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde", "sicher nicht unschuldig". Die seiner Meinung nach in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende "Sexualisierung der Öffentlichkeit" hätte "auch abnorme sexuelle Neigungen" eher gefördert als begrenzt, so Mixa.

Kein Zusammenhang mit dem Zölibat

Einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und den sexuellen Übergriffen erkennt Mixa indessen nicht. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen Pädophilieund dem Zölibat, darauf hätten unabhängige Experten hingewiesen, so Mixa. "Der ganz überwiegende Teil entsprechender Sexualstraftaten wird von verheirateten Männern, oft im verwandtschaftlichen Umfeld der Opfer, begangen", sagte Mixa. Ehelos lebende Priester sind nach Auffassung des Bischofs in der Regel sexuell völlig normal orientiert, verzichteten aber freiwillig auf Ehe und Sexualität.

Kirche ist möglicherweise "einem Zeitgeist aufgesessen"

Bischof Mixa nannte die Übergriffe von Geistlichen auf Jugendliche ein "besonders abscheuliches Verbrechen". Als Seelsorger mache es ihn "zutiefst betroffen", wie selbst Priester in "entsetzlicher Weise schuldig werden können", sagte Mixa. Der Bischof räumte ein, dass in der Kirche Verantwortliche in der Vergangenheit gegenüber Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen "zu blauäugig" waren. "Da sind kirchliche Verantwortungsträger möglicherweise auch einem Zeitgeist aufgesessen, der selbst im Bereich des staatlichen Strafrechts Resozialisierung statt Strafe propagierte", so der Bischof. "In der Vergangenheit hat oft der gut gemeinte Versuch, die Opfer vor einer voyeuristischen Berichterstattung zu schützen, in Wahrheit die Opfer zusätzlich gequält und die Täter geschützt."

Drewermann wirft Kirche Mitschuld vor  

Nach Ansicht des vor fünf Jahren aus der römisch-katholischen Kirche ausgetretenen deutschen Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann besteht der "kardinale Fehler der katholischen Kirche" darin, "ihre Kleriker zu nötigen, zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen alternativisch zu wählen". Das sei "gegen ein zentrales Anliegen der gesamten Botschaft Jesu und nicht weniger gegen elementare Bedürfnisse der Menschen" gerichtet, kritisierte Drewermann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Schon vor 20 Jahren hatte der Theologe und Psychotherapeut in seinem Bestseller "Kleriker" die katholische Sexualmoral und das Heiratsverbot für Priester kritisiert. "An dieser Stelle muss die Kirche Roms von der Haltung der Reformation im 16. Jahrhundert nach nun einem halbem Jahrtausend endlich lernen", sagte Drewermann. Martin Luther habe das richtig gesehen. "Man liebt Gott in den Menschen und nicht gegen die Menschen."

Nachdenken über die Strukturen ist in der katholischen Kirche "prinzipiell unmöglich"

Hinzu komme, dass die Spaltung zwischen der Kirche als Institution und den Menschen als Personen aufrechterhalten werde, kritisierte Drewermann im Gespräch mit der dpa. "Die Kirche als Institution ist von Gott gesetzt, vom Geist geleitet und in ihren Entscheidungen unfehlbar." Die Menschen aber seien schwach und könnten mit ihren Handlungen die Heiligkeit der Kirche schwer belasten, sagte Drewermann. "Was bei diesem Denken unmöglich ist, prinzipiell methodisch unmöglich, ist darüber nachzudenken, welche Strukturfehler im System die Fehler der Menschen provozieren müssen."

"Repressive Sexualmoral"

"Die repressive Sexualmoral beispielsweise führt zu allen möglichen Verformungen der Triebentwicklung schon im Kindesalter, bei Jugendlichen, bei Klerikern", kritisierte der ehemalige Dozent für Religionsgeschichte und Dogmatik an der katholischen theologischen Fakultät in Paderborn, dem 1991 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden war. "Und es ist keine Übertreibung zu glauben, dass die Furcht der katholischen Kirche vor der Homosexualität begründet ist in den Folgen ihrer eigenen Sexualfeindlichkeit."

Kirche will die Ursachen der Tragödie nicht erforschen

Gleichzeitig nahm Drewermann die betroffenen Geistlichen vor dem Vorwurf in Schutz, ihren Beruf gezielt gewählt zu haben, um leichter an junge Menschen heranzukommen. "Sagen muss man, dass keiner der Jesuiten oder anderen Geistlichen, die in Missbrauchshandlungen verwickelt sind, einmal in den Orden eingetreten ist oder Priester hat werden wollen mit der Absicht, eines Tages derartige Verbrechen zu begehen." Dahinter stecke eine Tragödie, welche die Kirche sich geweigert habe aufzuarbeiten und deren Ursachen sie bis heute nicht willens sei zu erforschen. "Und dann zeigt sich im Ganzen, sie schützt sich selbst als Apparat vor den Menschen und gegen den Menschen."

Drewermann rechnet mit Missbrauchsskandalen auch in anderen Ländern

Nach Einschätzung Drewermanns hat der Missbrauch in der katholischen Kirche einen noch weitaus größeren Umfang als bisher angenommen. "Man muss unterstellen, dass in all den Ländern, in denen die katholische Kirche Macht besitzt, Kinder auszubilden und ein Monopol zu erheben in vielen Bildungsbereichen, die gleichen Fakten aufzufinden sein werden." Das seien jetzt Irland, die USA und Deutschland. "Aber man kann mit Blindheit vermuten, dass es bei näherem Nachsehen viele andere katholisch geprägte Länder womöglich noch viel ärger betreffen wird." Zur Bewältigung der Missbrauchsproblematik empfiehlt Drewermann der Kirche eine Reform ihrer Strukturen. "Geben Sie Gedankenfreiheit hier. Das wusste die Reformation. Man kann nicht Glauben definieren an den Menschen vorbei."

 

 

Link:

- Private Internetseite für Betroffene mit Petition

 

Weitere News zum Thema:

- 15. 02. 2010: Anwältin: Mehr als 100 Missbrauchsfälle deutschlandweit

- 15. 02. 2010: Missbrauch: Rektor des Canisius-Kollegs hält dreistellige Opferzahl für möglich

- 12. 02. 2010: "Spiegel": Missbrauchsskandal in katholischer Kirche weitet sich aus

- 12. 02. 2010: Deutscher Bischof: Kritik an "Instrumentalisierung der Missbrauchsfälle"

- 10. 02. 2010: Sexualmediziner: Kirche muss offener über Sexualität reden 

- 08. 02. 2010: Missbrauchsfälle an Canisius-Kolleg verjährt

- 05. 02. 2010: Missbrauchsskandal: Debatte um Entschädigung

- 04. 02. 2010: Berliner Erzbischof: Kirche hat Thema Missbrauch vernachlässigt

- 03. 02. 2010: Jesuiten fürchten neue Missbrauchsfälle in Deutschland

- 02. 02. 2010: Vatikan verurteilt Missbrauchsfälle an deutschen Jesuiten-Gymnasien

- 01. 02. 2010: Neue Vorwürfe in Berliner Missbrauchsskandal

- 29. 01. 2010: 15 weitere Missbrauchsopfer an katholischer Schule

- 28. 01. 2010: Berlin: Verdacht auf Missbrauch an katholischem Gymnasium

 

 
zum Seitenanfang Seitenanfang